Sag niemals NIE
Einmal angenommen, Sie haben einen Nachbarn, der Ihnen aus absoluter Besessenheit und reinstem Hass nichts als Tod und Verderben wünscht. Keine Gelegenheit lässt er aus, um Ihnen genau das in unschöner Regelmäßigkeit mitzuteilen, gerne auch in aller Öffentlichkeit. An der Ernsthaftigkeit seiner Äußerungen lässt er keinen Zweifel, und Gesprächsversuche sind ihm bloß ein Zeichen von Schwäche, denn er ist unnachgiebig und hat es auf nichts weniger als Ihre schiere Existenz abgesehen. Er ist überzeugter Choleriker, der seine Frau und seine Kinder peinigt und darüber hinaus die halbe Nachbarschaft terrorisiert. Regelmäßig besorgt er sich Nitroglycerin, wie Sie von anderen Nachbarn wissen. Natürlich nur wegen seiner angeblichen Angina Pectoris, versteht sich, zum Überleben also. Denn seine Drohungen meint er nach Ansicht Dritter eigentlich gar nicht ernst, obwohl er trotz aller Beschwichtigungsversuche täglich das Gegenteil verkündet und Sie deshalb den begründeten Verdacht hegen, dass er das Zeug nicht aus medizinischen Gründen herbeischafft, sondern um Sie damit eines nicht allzu fernen Tages inklusive Haus, Hof und Familie rückstandslos in die Luft jagen zu können.
So ähnlich verhält es sich mit dem Iran, der Israel bekanntlich gerne dem Erdboden gleichmachen würde, gleichwohl jedoch bestreitet, dass sein Atomprogramm in Wirklichkeit ein Atomwaffenprogramm ist. In Europa glaubt man ihm das auch nur zu gerne, doch in Israel und den USA hat man begründete Zweifel, dass die Mullahs die Kernenergie lediglich zu friedlichen Zwecken nutzen wollen. Und daran ändert auch der schlagzeilenträchtige Bericht der 16 US-Geheimdienste mit dem Titel National Intelligence Estimate: Iran – Nuclear Intentions and Capabilities (NIE) letztlich nichts, selbst wenn deutsche Medien nun feixen, dass „Bushs Kriegsrhetorik ins Zwielicht“ gerückt werde, die „Apokalypse abgesagt“ sei, es den „Abschied von Irans Bombe“ festzustellen gelte und summa summarum die Europäer mit ihrer Appeasement-Politik einen weltpolitischen Volltreffer gelandet hätten. Das Dossier kommt zwar „mit hoher Zuversicht“ zu der Einschätzung, dass der Iran sein Atomwaffenprogramm 2003 ausgesetzt hat, und es nimmt „mit mäßiger (!) Zuversicht“ an, dass er es bis Mitte dieses Jahres nicht wieder aufgenommen hat. Aber die Expertise konstatiert auch ausdrücklich, dass die Mullahs weiter fleißig an ihrem Nuklearprogramm werkeln und es alles andere als ausgeschlossen ist, dass daraus die Atombombe resultiert, selbst wenn es bis dahin noch einige Jahre – die Rede ist von einem Zeitraum zwischen 2010 und 2015 – dauern kann.
Der Bericht enthält keine Gewissheiten, sondern schränkt seine Erkenntnisse nahezu durchweg mit Vokabeln wie „wahrscheinlich“, „vielleicht“ und „möglicherweise“ ein. Nichts Genaues weiß man also anscheinend nicht, und die Schlussfolgerung liegt mehr als nahe, dass die Geheimdienste nach dem Irak-Krieg vor allem nicht schon wieder für eine folgenreiche Lageeinschätzung verantwortlich gemacht werden wollen. Eine Legitimation für einen Militärschlag gegen den Iran stellt das Dokument daher zweifellos nicht dar, aber dass es eine Entwarnung gibt, wie in den westlichen Medien und der Politik überwiegend erklärt wird, lässt sich nach seiner Lektüre erst recht nicht behaupten. Teheran weigert sich nach wie vor, seine atomaren Ambitionen offen zu legen, und es verfolgt seine Vernichtungspläne gegenüber dem jüdischen Staat trotz aller Sanktionen weiter – eine Tatsache, die auch der NIE-Bericht nicht in Abrede stellt. In Israel fielen die Reaktionen auf ihn denn auch völlig anders aus als hierzulande: „Es gibt vieles, was man in Bezug auf das iranische Nuklearprogramm tun kann, aber es ist wichtig zu erwähnen, dass Worte keine Raketen stoppen“, sagte beispielsweise Verteidigungsminister Ehud Barak. „Es muss Aktivitäten geben, in Form von Sanktionen und auf diplomatischer Ebene, aber genauso auf anderen Ebenen.“ Die Möglichkeit einer bewaffneten Intervention ist darin eingeschlossen, auch wenn es höchst unwahrscheinlich ist, dass es sie in nächster Zeit geben wird.
Das Weblog Wind in the Wires brachte die Konsequenzen aus dem NIE-Papier in einem lesenswerten Kommentar auf den Punkt: „Beängstigend ist die Situation allemal: Wenn man in den USA offiziell erklärt, dass es im Iran kein Atomwaffenprogramm gibt, nimmt man sich auch die Möglichkeit, militärisch einzugreifen. Deshalb freut man sich auch im Iran und im alten Europa so sehr über den amerikanischen Geheimdienstbericht. Die Hoffnung, dass US-Truppen dem iranischen Nuklearprogramm ein Ende bereiten, dürfte damit in weite Ferne gerückt sein. Offenbar wird dem Staat Israel im Ernstfall nichts anderes übrig bleiben, als diesen Job zu übernehmen.“ Doch der jüdische Staat, er ist in Old Europe eine quantité négligeable. Auch und vor allem das haben die Reaktionen auf NIE einmal mehr in deprimierender Deutlichkeit gezeigt.
Hattips: barbarashm, Urs Schmidlin