(Kein) Alltag bei den „Spurs“
Einige Anhänger des englischen Premier League-Klubs West Ham United haben während des Londoner Lokalderbys gegen die Tottenham Hotspurs am vergangenen Sonntag antisemitische Gesänge angestimmt. Während der Partie blieben die Hasstiraden unbeanstandet; als im Internet jedoch ein Video auftauchte, das die Schmähungen zeigte, protestierten der Community Security Trust – eine Organisation, die aktiv gegen Antisemitismus vorgeht – und zahlreiche Fans der Spurs vehement. Der englische Fußballverband und die Polizei haben Ermittlungen eingeleitet; West Ham distanziert sich von den betreffenden Zuschauern. Es ist nicht das erste Mal, dass Tottenham mit antisemitischen Beschimpfungen konfrontiert wird; vielmehr sind diese seit Jahrzehnten Alltag des Vereins.
Die Anfänge reichen dabei bis in die 1960er Jahre zurück. Damals lief in England die populäre Comedyserie Till Death Us Do Part* im Fernsehen, deren von Warren Mitchell gespielter Protagonist Alf Garnett – ein rassistischer Nationalist, der um den Hals einen Schal seines Lieblingsklubs West Ham United trug – fortwährend den Niedergang seines Landes beklagte. In einer Folge titulierte er die Spurs als „Yids“ – eine abfällige Bezeichnung für Juden. „Seitdem ist die Verbindung von Tottenham und ,Yids’ in die Umgangssprache eingegangen“, sagt John M. Efron, Professor für jüdische Geschichte an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Und das hatte Folgen, denn die Anhänger gegnerischer Mannschaften – vor allem der Londoner Konkurrenten – begannen, die von Efron benannte Verbindung bei den Spielen ihres jeweiligen Favoriten gegen Tottenham immer häufiger zu verbalisieren. „Yiddos! Yiddos! Does your Rabbi, does your Rabbi, does your Rabbi know you’re here?“ („Yiddos! Weiß euer Rabbi, dass ihr hier seid?“), brüllten Arsenal-Fans am 3. April 1976 – und da reichte es den Tottenham-Supportern: Eine Abordnung von ihnen stürmte die Nordkurve, wo die Arsenal-Anhänger standen, und skandierte dort: „Yiddos took the North Bank! Yiddos took the North Bank!“ („Yiddos haben die Nordkurve eingenommen!”)
Seit diesem Tag nennen sich die Tottenham-Fans „Yids“ oder „Yiddos“, unabhängig davon, ob sie selbst Juden sind oder nicht; sie schwenken im Stadion Israel-Fahnen, intonieren den Kanon „Yid Army“ und tragen T-Shirts mit Aufdrucken wie „Yiddo 4 Life“ („Jude fürs Leben“). Tatsächlich favorisieren traditionell viele fußballbegeisterte Juden die 1882 gegründeten Spurs aus dem Londoner Norden; gleichwohl ist der Verein kein explizit jüdischer. John M. Efron erläutert: „Dass die Tottenham-Anhänger den rassistisch gemeinten Spitznamen, statt sich vor ihm zu ducken, sich als Ehrennamen zu Eigen machten, das hat dem Spott die Wirkung genommen.“ Anders gesagt: Die Fans begegneten der in antisemitischer Absicht eingesetzten Bezeichnung ihres Lieblingsvereins als „Judenklub“ nicht mir einer Distanzierung, sondern mit Affirmation. Ähnlich verfahren übrigens auch die Supporter von Ajax Amsterdam. Die Unterstützer der Spurs gehen noch weiter und ernennen auch Spieler, die sie verehren, zu „Yiddos“. Das wohl bekannteste diesbezügliche Beispiel ist der ehemalige deutsche Bundestrainer Jürgen Klinsmann – 1994 als Spieler zu Tottenham gewechselt –, dem die Fans ein Lied widmeten. Zur Melodie von „Mary Poppins“ sangen sie seinerzeit: „Chim chiminee, chim chiminee, chim chim churoo, Jürgen was a German, but now he is a Jew!“
Doch natürlich hört der Antisemitismus nicht auf zu existieren, wenn man der Selbstverständlichkeit Ausdruck verleiht, das Wort Jude nicht als Beleidigung aufzufassen. Vielmehr fuhren gegnerische Anhänger bei Tottenham-Spielen immer schwerere Geschütze auf: Zunächst ging es bei den Schmähungen oft um die Beschneidung oder Essgewohnheiten, doch allmählich rückte die Shoa immer stärker in den Mittelpunkt. „Die Spurs sind auf dem Weg nach Auschwitz, Hitler wird sie wieder vergasen“, wurde beispielsweise von Arsenal- und Chelsea-Fans skandiert. Eine andere Variante besteht darin, dass die Zuschauer Zischlaute von sich geben und so das Ausströmen von Gas imitieren. John M. Efron berichtet: „Die nichtjüdischen Tottenham-Fans haben darauf so entsetzt reagiert, wie man es nur von wirklichen Juden erwarten würde.“ Und sie intensivierten ihre Sprechchöre und Aktivitäten nochmals.
Im Premier League-Spiel der Spurs bei West Ham United am vergangenen Sonntag kam es nun erneut zu einem antisemitischen Vorfall: Eine Gruppe von Supportern der Gastgeber sang in der Halbzeitpause unbehelligt Lieder mit Zeilen wie „I’d rather be a Paki than a Jew“ („Ich wäre lieber ein Pakistaner als ein Jude”). Ein Benutzer mit dem vermutlich bezeichnenden Spitznamen cockneymatt88 – die „8“ steht in Neonazi-Kreisen für den entsprechenden Buchstaben des Alphabets, das „H“; „88“ bedeutet dementsprechend „HH“, die Abkürzung für „Heil Hitler“ – stellte ein Video mit diesen Tiraden beim Anbieter YouTube ein und löste damit vehemente Proteste beim Community Security Trust und den Tottenhamer Fans aus. Der englische Fußballverband, die FA, leitete das – inzwischen bei YouTube gelöschte – Video an die Polizei weiter und verlangt überdies von West Ham Konsequenzen: „Wir nehmen das sehr ernst, und wir erwarten, dass alle, die auf dem Video zu erkennen sind, vom Klub hart bestraft werden“, sagte ein FA-Sprecher und ergänzte: „Wir werden Kontakt mit West Ham aufnehmen, um deren Version der Ereignisse zu erfahren. Und wir werden sehr deutlich machen, dass wir keine Wiederholung dulden.“
Zu der werde es nicht kommen, betonte die Vereinsführung von West Ham; vielmehr toleriere man schon des antirassistischen Selbstverständnisses wegen „rassistisches Verhalten gleich welcher Art“ nicht und werde daher „die Angelegenheit vollständig aufklären, die Täter zu identifizieren versuchen und geeignete Maßnahmen ergreifen“. Piara Powar, Direktor der britischen Initiative gegen Rassismus und Antisemitismus Kick It Out, wunderte sich derweil, warum nicht bereits der Ordnungsdienst im Stadion gegen die Hassgesänge vorging: „Es gibt sehr, sehr klare Richtlinien für die Ordner und sogar ein Trainingsprogramm für den Umgang mit solchen Vorfällen. Aber entweder wurden diese Jungs nicht richtig trainiert, oder sie haben das Training ignoriert und sich nicht getraut einzugreifen. Das ist ein Rückschlag, der zeigt, dass wir uns nicht zufrieden zurücklehnen dürfen.“ Die fußballerische Antwort auf die Schmähungen folgte übrigens auf dem Fuß. West Ham führte zur Pause des Spiels mit 2:0 und später mit 3:2, doch Tottenham drehte die Partie in der dramatischen Nachspielzeit noch und gewann sie schließlich mit 4:3 (Foto: Der Siegtreffer durch Paul Stalteri, 2. von links).
Seine Fans sehen sich unterdessen allen Ernstes dem Vorwurf ausgesetzt, durch ihr Auftreten Antisemitismus zu schüren oder gar selbst antisemitisch zu sein. Am 19. März kommt es deshalb zu einem Treffen von Vertretern des Klubs und seiner Fans, des englischen Fußballverbands, der Premier League, der Kampagne Kick It Out und des Community Security Trust. Vor allem die Eigenbezeichnung „Yid Army“ soll dabei thematisiert werden. Ein Weblog dieses Namens wundert sich über die Maßnahme: „Der Begriff ‚Yid’, wie er von den Fans der Spurs verwendet wird, hat für die überwältigende Mehrheit der Anhänger keine antisemitische Konnotation. [...] Einige Leute, die es nicht gewöhnt sind, dass dieses Wort auf diese [positive] Art und Weise verwendet wird, mögen es anstößig finden, aber echte Fans versuchen gewöhnlich, ihnen zu erklären, dass es ein ironischer Kosename ist – und, sehr wichtig: dass seine Verwendung durch Spurs-Anhänger dessen tatsächlichen Missbrauch in rassistischer Absicht durch gegnerische Supporter gestoppt hat.“
Nun sind die romantisierende Imagepflege und die bisweilen schwärmerische Selbst-Identifizierung der nichtjüdischen Tottenham-Anhänger als jüdisch gewiss nicht unproblematisch, aber nicht deshalb, weil sie Judenhass erst hervorriefen. Denn das müsste umgekehrt bedeuten, dass es keinen Antisemitismus mehr gäbe, wenn eine Solidarisierung mit dessen prospektiven Opfern – und eine solche betreiben die Fans der Spurs zweifellos – nur unterbliebe. Eine aberwitzige Annahme, die den Bock zum Gärtner und die Opfer zu Tätern macht: Antisemiten lassen sich bekanntlich nicht durch Wohlverhalten beschwichtigen – das sie vielmehr stets als Zeichen der Schwäche interpretieren –, sondern zielen notwendig auf die Auslöschung alles Jüdischen und was sie dafür halten. Dass sie auch nicht schweigen, wenn die Objekte ihrer Attacken sich zur Wehr setzen, ist ein alter Hut und überdies wohlfeil: Allemal besser als ein Dementi und eine Distanzierung ist es, in antisemitischer Absicht vorgenommene Fremdzuschreibungen ins Leere laufen zu lassen, indem man offensiv zu erkennen gibt, sie gar nicht als Beleidigung zu empfinden. Und dies umso mehr angesichts des alltäglichen Antisemitismus und des Antizionismus, die auch in England den Ton angeben.
* Diese Serie war das Vorbild für die deutsche Produktion Ein Herz und eine Seele, die in den 1970er Jahren lief; sogar der Name des Hauptdarstellers, „Ekel Alfred“, orientierte sich dabei am englischen Original.
Übersetzungen: Lizas Welt – Hattips: Endi, Tobias Kaufmann