29.3.07

Immer laufen lassen!

Irgendwo muss man Oliver Kahn (Foto) einfach verstehen. Da wirft sein FC Bayern den Erzfeind Real Madrid aus der Champions League, die Mitspieler feiern ausgelassen, die Familie wartet darauf, endlich essen gehen zu können – und dann heißt es: bitte zur Dopingprobe. Schon zum vierten Mal nacheinander. Trotzdem an sich keine große Sache: Schnell ein paar Tropfen ins Röhrchen, und gut ist’s. Denkste: „Ich kann nach solchen Spielen einfach nicht. Ich trinke Wasser, Mineralgetränke, bis nichts mehr reingeht – nichts. Ich brauch’ da immer zwei, drei Stunden, bis alles erledigt ist“, schildert der Torwart seine Not mit der Pflichtübung. Irgendwann ist der Kelch dann doch voll, „so gegen ein Uhr nachts“. Doch damit hat die Angelegenheit noch längst nicht ihr Ende: „Als ich dem Dopingarzt meinen Becher bringe, sagt er, dass er nicht zugesehen hätte. Ich müsste noch mal.“ Da läuft das Fass über, und zwar im Wortsinn: Kahn schleudert das Resultat der Geduldsprobe samt Behältnis in den Lokus; dabei bekommen die Unterlagen des erbarmungslosen Uefa-Kontrolleurs Franz Krösslhuber – „Zum Glück hatte ich die Formulare in doppelter Ausfertigung dabei“ein paar Spritzer der hart erkämpften Substanz ab. Kahns Mitspieler Lúcio, der ebenfalls zum Wasserlassen antreten musste, eilt seinem Keeper zur Hilfe. Das folgende Wortgefecht ist nicht dokumentiert, soll dem Vernehmen nach allerdings auch nicht druckreif gewesen sein. Der Bayern-Torhüter entschuldigt sich, als bekannt wird, dass der europäische Fußballverband gegen ihn ermittelt; dennoch wird er zu einer Geldstrafe sowie einem Spiel Sperre verurteilt.

Für Kahns Probleme mit dem Urinieren unter Zeitdruck gibt es einen medizinischen Fachterminus: Paruresis. Broder-Jürgen Trede weiß im Fußballmagazin RUND Näheres dazu:
„Unter bestimmten Umständen – etwa unter Zeitdruck, der Anwesenheit anderer Personen in öffentlichen Toiletten und dem Gefühl, beim Pinkeln unter Beobachtung zu stehen – können manche Menschen ihre Blase nicht entleeren. Sie leiden unter einer so genannten schüchternen Harnblase. ‚Bei Stress kommt es naturbedingt zu einem Zusammenziehen des Ringmuskels der Blase, wodurch das Harnlassen erschwert wird’, erklärt Dr. Philipp Hammelstein, Privatdozent an der Uni Düsseldorf, ‚mit Gewalt geht dann gar nichts. Pressen ist ein absolutes No Go und wirkt kontraproduktiv’. Unter dem Titel ‚Lass es laufen’ hat Dr. Hammelstein einen Ratgeber zur Überwindung der Parureris verfasst. Sein wichtigster Tipp: ‚Es hilft im Grunde genommen nur Entspannung. Die Fußballer sollten etwa anderthalb Minuten vor dem Wasserlassen tief einatmen, die Luft anhalten und dann am Urinal bewusst ausatmen, um so den möglichen Flow zu unterstützen.’“
Offenbar hat Oliver Kahn etwas zu tief eingeatmet und seinen Flow vor allem am Uefa-Beauftragten vollstreckt, weshalb er seinem Team nun im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League beim AC Milan Anfang April fehlen wird, sofern die Uefa in der Berufungsverhandlung nicht doch noch Gnade walten lässt. Damit ist der Münchner, bei Lichte betrachtet, ein Dopingopfer der besonderen Art. Und das, obwohl es dem organisierten Fußball diesbezüglich an bizarren Fällen ohnehin nicht mangelt. Inwieweit Doping beim Kicken überhaupt von wettbewerbsverzerrender Bedeutung ist und also angeblich der Restriktion bedarf, darüber streiten sich die Gelehrten immer noch; ausgerechnet Otto Rehhagel, sonst eher die Law-and-Order-Marke, brachte einmal auf den Punkt, warum sich die Auswirkungen in Grenzen halten dürften: „Wer mit links nicht schießen kann, trifft den Ball auch nicht, wenn er hundert Tabletten schluckt.“ Vollends absurd wird es gar, wenn mal wieder einer dafür aus dem Verkehr gezogen wird, dass er sich gelegentlich einen Joint gönnt. Denn der ist eins ganz sicher nicht, nämlich leistungssteigernd. CannabisLegal, eine Initiative mit „Argumenten für eine realistische Drogenpolitik“, vermutet daher andere Absichten hinter der Bestrafung von kiffenden Kickern:
„Was mit den Cannabistests bei Spitzensportlern bezweckt werden soll, ist unklar. Offiziell werden sie mit der Fürsorgepflicht der Verbände begründet. Nachdem ohnehin Urinproben zum Test auf Aufputschmittel genommen werden, kann man gleich zur Abschreckung auf Cannabis als illegale Substanz mittesten, so geht wohl die Überlegung der Funktionäre. Dass die Tests noch Wochen zurückliegenden Konsum nachweisen, der für die Leistung im Spiel ohne Konsequenz ist, dass also in erster Linie das Privatleben überwacht wird, scheint kein Problem zu sein.“
Den Konsum von Marihuana für unlauteren Wettbewerb und darüber hinaus für prinzipiell verwerflich zu halten, entspringt dem Weltbild des Reaktionärs, der sich noch mit zwei Promille ans Steuer setzt, aber das Kiffen für die Vorstufe zur Drogenhölle hält. Doch die gesellschaftliche Akzeptanz ist ein wenig gewachsen: Vor ein paar Jahren galt der Genuss von Cannabisprodukten vielleicht noch als irgendwie verrucht und subversiv; heute ist er selbst für Rechtsanwalte und Jungunternehmer nichts Außergewöhnliches mehr. Manche bauen selbst an; der Rest fährt nach Holland oder lässt sich etwas mitbringen. Das ganz große Gewese macht man staatlicherseits inzwischen nicht mehr zu alledem; trotzdem ist diese Form von Rausch in Deutschland immer noch so weit illegalisiert, dass man die Ingredienzen für ihn offiziell nicht kaufen oder verkaufen darf. Und im Sport bildet weiterhin die ehrlos ergraute, aber anscheinend zeitlos genussfeindliche Keine Macht den Drogen!- Kampagne den ideologischen Rahmen eines Selbstverständnisses, das die kollektive Bierseligkeit im Sportverein als Ausdruck von Geselligkeit wahlweise begrüßt oder doch wenigstens duldet, sich aber stur der Einsicht widersetzt, dass das Rauchen von Tüten ein nicht minder legitimes Bedürfnis ist und zudem weniger körperliche Dependenzen verursacht als der Alkohol.

Also wurde der Mönchengladbacher Profi Quido Lanzaat im Januar 2000 für satte drei Monate gesperrt, nachdem während des Winter-Hallenmasters Spuren von Tetrahydrocannabinol (THC), dem Wirkstoff von Haschisch, in seinem Urin festgestellt worden waren. Zudem – und nichts könnte diese Groteske schöner abrunden – wurde den Gladbachern der (völlig unbedeutende) Turniersieg aberkannt; den Pokal erhielt stattdessen der Zweitligist aus Fürth. Doch Lanzaat blieb nicht allein: Auch der Dortmunder Ibrahim Tanko wurde als Cannabiskonsument geoutet und infolgedessen längerfristig an der Ausübung seines Berufs gehindert. Und ein Profikicker trug sogar das Nationaltrikot, als er positiv auf THC reagierte: Alexander Walke hieß der junge Mann, der damals bei Werder Bremen spielte – heute ist er beim SC Freiburg – und im Dezember 2003 nach einem U-20-Länderspiel gegen die USA zur Dopingprobe einbestellt wurde. Aus dem 3:1-Sieg für Deutschland wurde am grünen Tisch eine 0:2-Niederlage; zudem folgte eine Sperre für den Torwart.

Wenn man bedenkt, dass in Frankreich die Nationalkeeper Fabien Barthez und Bernard Lama auch schon mal als Haschrebellen auffällig wurden, ist man fast geneigt zu glauben, dass die Torhüter einen besonderen Hang dazu haben, dann und wann mal einen zu bauen. Denn sie gelten ja ohnehin recht eigentlich als die etwas anderen Mitspieler, und das oft gar nicht mal zu Unrecht. Walke befand sich zumindest in guter Gesellschaft. Dass Oliver Kahn nach des Tages Mühen das grüne Glück aus der Schublade holt und sich oral zuführt, darf man gleichwohl bezweifeln. Dabei wäre es mutmaßlich gar keine schlechte Idee, könnte er auf diese Weise etwas mehr Gelassenheit aufbringen. Dem Uefa-Beauftragten Krösslhuber wenigstens wäre das zweifellos zupass gekommen. Es müsste also auch im Interesse der Fußballverbände liegen, aus den Dopingrichtlinien zumindest THC-haltige Substanzen zu streichen. Außerdem hätten die Spieler, die sich nach einem Kick höchstoffiziell erleichtern müssen, eine weitere Option, sich die Zeit zu vertreiben: Sie könnten mit den zuständigen Funktionären außer Karten zu zocken oder sich gemeinsam zu betrinken auch gepflegt einen durchziehen. Kiffen macht bekanntlich friedlich und vor allem gleichgültig. Irgendwann läuft dann alles wie von selbst. Wenn das mal kein Grund ist.