29.6.10

Befördert sie!



Die Fußballschiedsrichter haben in den letzten knapp zwanzig Jahren einen bemerkenswerten Imagewandel erfahren. Noch in den achtziger Jahren galten sie nicht wenigen als „schwarze Säue“, als ganz eigene, seltsame Spezies, als verschrobene Randfiguren der populärsten Sportart der Welt. Man hielt sie für Menschen von schrulligem Charakter und duldete sie widerwillig als notwendiges Übel – wovon hierzulande nicht zuletzt jenes rechteckige Schild zeugte, das mehr oder weniger gut sichtbar an jedem Sportplatz zu finden war (und teilweise immer noch ist) und mit den Worten „Sei fair zum 23. Mann – ohne Schiedsrichter geht es nicht“ Kicker wie Zuschauer zur Besonnenheit mahnte. Im Profifußball waren die Unparteiischen die letzten Amateure; sie gingen einem ordentlichen Beruf nach, opferten für Einsätze in der Bundesliga ihren Jahresurlaub und bekamen für einen Auftritt im Oberhaus einen Tagesspesensatz von exakt 72 (in Worten: zweiundsiebzig) Mark. In den unteren Spielklassen wiederum waren sie oft das, was Elke Wittich, die Sportchefin der Wochenzeitung Jungle World, einmal überaus treffend mit dem Begriff „Wochenendkommandierer“ umschrieben hat: autoritäre Charaktere, die es genossen, dass es auf dem Fußballfeld keine Gewaltenteilung gibt und sie wenigstens dort die unumschränkten Herrscher sein konnten – Polizisten, Staatsanwälte und, logisch, Richter in Personalunion.

Der allmähliche Wandel der Schiris, der bis in die Untiefen der Amateurligen reichte, ging mit der zunehmenden Kommerzialisierung des Fußballs einher. Ihre Trikots waren nun grün, rot, gelb oder blau; die einheitliche schwarze Uniform – zu der neben einem schlecht geschnittenen Oberteil eine unbequeme Hose gehörte, für die sich selbst modeabstinente Rentner geschämt hätten – gehörte der Vergangenheit an. Die Bundesliga wanderte von der Sportschau ins Privatfernsehen, und die Zahl der Kameras verzigfachte sich – wodurch nicht nur die so genannten side kicks, also tobende Trainer und verzweifelte Vereinspräsidenten, eine immer größere Rolle in der Berichterstattung spielten, sondern auch die Entscheidungen der Referees immer stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückten: War das wirklich ein Foul? Ein Abseits? Ein Tor? Und was hat den Schiedsrichter eigentlich geritten, auf Foul, Abseits, Tor zu entscheiden, obwohl doch nun wirklich jeder nach sieben Zeitlupen und drei Standbildern erkennen konnte, dass es kein Foul, kein Abseits, kein Tor war? Mit der Zeit erfuhr man auch dies, denn der erzkonservative Deutsche Fußball-Bund (DFB) – der jahrzehntelang seine Pfeifenmännern abgeschottet hatte – änderte nach einigem Zögern seine Linie: Die Unparteiischen waren fortan keine unfehlbaren Halbgötter mehr, sondern traten in die Öffentlichkeit und legten Rechenschaft ab.

Und sie wurden jetzt besser vergütet. Längst nicht so fürstlich wie die Profis zwar, aber immerhin: 3.800 Euro gibt es heute für ein Bundesligaspiel, 2.000 Euro für einen Einsatz in der Zweiten Liga. Wer in den oberen Spielklassen pfeifen will, muss dem DFB jederzeit zur Verfügung stehen; längst schon amtieren deshalb im bezahlten deutschen Fußball keine Lehrer oder Elektrotechniker mehr als Referees, sondern vor allem Selbstständige und leitende Angestellte. Auch die Anforderungen an die körperliche Fitness, das äußere Erscheinungsbild und die Persönlichkeit der Spielleiter sind gestiegen (und das bis hinunter zur Bezirksliga): Vorbei ist die Zeit, da erkennbar übergewichtige Herren mit unvorteilhafter Frisur und schlechten Manieren in den Stadien den großen Zampano geben durften. Der Schiedsrichter von heute ist rank und schlank, trägt einen mondänen Kurzhaarschnitt und ist sowohl auf dem Rasenviereck als auch vor dem Mikrofon eloquent und telegen. Namen wie Pierluigi Collina oder Markus Merk kennen nicht mehr nur die Experten, und der europäische Fußballverband Uefa hat kürzlich mit dem sehenswerten Film Referees at work dafür gesorgt, dass ein interessiertes Publikum intime Einblicke in die Welt der Unparteiischen bekommt.

Umso unbegreiflicher ist es, dass der große Bruder der Uefa, der Weltfußballverband Fifa nämlich, die Schiedsrichter bei Weltmeisterschaften förmlich kaserniert. Zu ihren (Fehl-) Entscheidungen dürfen sie nichts sagen, weil die Offiziellen befürchten, die Referees könnten sich um Kopf und Kragen reden. Dabei heizt die Schweigepflicht die Debatte erst recht an, ohne dass die Unparteiischen sie beeinflussen könnten. Außerdem ist es nachgerade grotesk, dass die Fifa die von ihr ausgewählten Schiris zwar für fähig hält, die Spiele des bedeutendsten Fußballturniers der Welt zu leiten, ihnen aber offenbar nicht zutraut, abseits des Spielfeldes genauso professionell aufzutreten. Wie zutiefst bedauerlich das ist, macht nicht zuletzt jene Spielszene deutlich, die nicht nur in England für Entsetzen sorgte: Warum nur erkannte das Schiedsrichtergespann nicht, dass der Ball nach Frank Lampards Lattentreffer unzweifelhaft hinter der Torlinie aufkam? Hätte der Unparteiische oder sein Assistent öffentlich Auskunft erteilen dürfen, dann hätte man vermutlich etwas erfahren, das nicht jedem Zuschauer klar sein dürfte: Beim Torschuss stand der Assistent dort, wo er stehen musste, nämlich auf der Höhe des – den Torwart mitgerechnet – vorletzten englischen Verteidigers. Und von dieser Position aus – die er einzunehmen hatte, um eine mögliche Abseitsstellung sehen zu können – war es für ihn naturgemäß nicht zu erkennen, ob der Ball nun eindeutig (!) die Torlinie überschritten hatte oder nicht. Für den ebenfalls korrekt postierten und daher noch weiter entfernten Schiedsrichter gilt das erst recht.

Ein Fehler im System also? Wenn man so will: ja. Schließlich kann kein Mensch so schnell laufen, wie der Ball fliegt; es war dem Mann an der Linie deshalb schlichtweg unmöglich, rechtzeitig einen Ort zu erreichen, von dem aus er die Situation exakt hätte beurteilen können. „Auf Verdacht“ jedoch durfte er nicht entscheiden, darum galt für ihn die Maxime: Im Zweifelsfall war der Ball eben nicht drin. Hier nun setzen die Diskussionen ein: Braucht es Torrichter wie in der Europa League? Einen Chip im Ball? Den Videobeweis? Alle diese Vorschläge haben sicher etwas für sich; das Hauptargument, das dabei immer wieder genannt wird, lautet: In diesem Milliardengeschäft darf es nicht sein, dass Fehler der Schiedsrichter über den Verlauf oder gar das Ergebnis eines Spieles entscheiden. Doch die Gegenseite verfügt über nicht minder gewichtige Einwände: Ist der Fußball nicht gerade deshalb so beliebt, weil seine im Laufe der Jahre nur maßvoll modifizierten Regeln weltweit unterschiedslos gelten – in der Kreisklasse wie in der Bundesliga, im Nahen Osten und in Afrika wie in Europa und Südamerika – und durchweg ohne technische Hilfsmittel umgesetzt werden? Ist ein spielbeeinflussender oder -entscheidender Fehler des Referees tatsächlich schlimmer als ein zur Unzeit verschossener Elfmeter? Lassen Videobilder überhaupt immer eindeutige Rückschlüsse zu? Würde ihr Einsatz nicht schnell ins Uferlose gehen oder gar die Autorität der Schiedsrichter untergraben? Wären sie nicht der Tod von leidenschaftlichen Fußballmythen wie dem „Wembley-Tor“ oder der „Hand Gottes“? Und wem sonst sollte man mitteilen, dass man weiß, wo sein Auto steht, wenn nicht dem Blinden mit der Pfeife?

Einen augenscheinlich besonders einfallsreich gemeinten Vorschlag, wie Lampards Tor die verdiente Anerkennung hätte erfahren können, hat übrigens Peter Singer in der Welt unterbreitet. Der deutsche Torwart Manuel Neuer, so fand der „Moralphilosoph“, hätte dem Unparteiischen mitteilen sollen, dass der Ball die Torlinie überschritten hatte; indem er es nicht tat, habe er „betrogen“, wie vor ihm schon beispielsweise Thierry Henry und Diego Maradona. Einmal abgesehen von der generellen Fragwürdigkeit solcher Lamenti über die angebliche Verderbtheit des Fußballgeschäfts (die letztlich immer mit einem Gerechtigkeitsbegriff hantieren, der von Interessen abstrahiert und den Wunsch nach persönlichem Fortkommen deshalb unter den Verdacht stellt, ein Verrat am ominösen „Gemeinwohl“ zu sein): Hier schwingt sich einer zum Ankläger auf, der vermutlich nie selbst gegen den Ball getreten hat und dem gewisse fußballtypische Abläufe daher unbekannt sind. Ein im Flug befindlicher Torwart wird jedenfalls kaum in der Lage sein zu beurteilen, ob ein von der Latte herabtropfender und danach aufspringender Ball für Sekundenbruchteile die Torlinie passiert hat oder nicht – und das ist auch gar nicht sein Job. Einem Spieler, der vom Referee unbemerkt ein absichtliches Handspiel begeht, könnte man seine Regelübertretung ja noch empört vorhalten – aber von Kickern, die für einen Fehler des Unparteiischen rein gar nichts können, zu erwarten, dass sie Mutter Theresa in kurzen Hosen spielen, ist nicht nur moralinsauer, sondern weltfremd.

Die derzeit laufende Weltmeisterschaft wird gewiss nicht als diejenige mit den besten Schiedsrichterleistungen aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Aber die Aufregung um die Larriondas, Rosettis und Undianos dürfte sich nach dem Turnier rasch wieder legen. Und weitaus wichtiger als die Einführung technischer Hilfsmittel – die dem Spektakel viel von seiner Leidenschaftlichkeit nähme und trotzdem nur in begrenztem Maße für eine Reduzierung menschlicher (!) Fehler sorgen könnte – wäre es ohnehin, die Referees erstens von ihrem völlig unzeitgemäßen Maulkorb zu befreien und sie zweitens zu Vollprofis zu befördern, sprich: sie dauerhaft so gut zu bezahlen, dass sie weder auf einen anderen Job noch auf dubiose Wetteinsätze angewiesen sind. Dann würden sie zwar immer noch Fehler machen, mitunter sogar spielentscheidende. Aber auch ein Messi trifft bisweilen vom Strand aus das Meer nicht und treibt seine Fans in den Wahnsinn. Das ist nun mal Fußball. Und das ist auch gut so.

Eine Gegenrede zu diesem Beitrag ist unter dem Titel „Entmachtet sie!“ auf dem Internetportal Sportswire erschienen; eine mit „Dialektik des Fortschritts“ überschriebene Replik von Lizas Welt auf diesen Widerspruch ist ebenfalls dort zu finden.

21.6.10

Um zwölfe wird zurückgeniebelt



Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Eine kleine Polemik zu Dirk Niebels anmaßendem Auftritt in Israel.


Schon der heilige Jähzorn, mit dem Dirk Niebel auf das Einreiseverbot in den Gazastreifen reagierte, ist verräterisch: Die israelische Regierung, empörte sich der Entwicklungshilfeminister und Ex-FDP-Generalsekretär, habe einen „großen außenpolitischen Fehler“ begangen und mache es momentan selbst ihren „treuesten Freunden“ schwer, ihr Handeln zu verstehen. Ihre Ankündigung, die Gaza-Blockade zu lockern, sei „nicht ausreichend“; vielmehr müsse der jüdische Staat „jetzt liefern“, sich außerdem „darüber klar werden“, wie er „im internationalen Kontext in Zukunft auch mit seinen Freunden zusammenarbeiten will“ und darüber hinaus „für mehr Transparenz“ sowie „eine neue Partnerschaft“ sorgen. Die Blockade sei „kein Zeichen von Stärke, sondern eher ein Beleg unausgesprochener Angst“. Kurzum: „Es ist für Israel fünf Minuten vor zwölf“, weshalb es jetzt „jede Chance nutzen“ müsse, „um die Uhr noch anzuhalten“.

Verräterisch ist diese Diktion vor allem deshalb, weil sie eine narzisstische Kränkung offenbart, die – wie es mit narzisstischen Kränkungen zwangsläufig so ist – umgehend nach Vergeltung schreit: Was hat Niebel nicht alles für Israel getan! Hat in einem Kibbuz ein Jahr lang Fischzucht und Landwirtschaft betrieben, sich trotz knapp bemessener Freizeit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft als Vizepräsident zur Verfügung gestellt, gegen die Linkspartei und insbesondere Norman Paech gewettert, der Hizbollah den Kampf angesagt und sogar einen „Fight Terror, support Israel“-Aufkleber auf sein Köfferchen gepappt. Er hat das jedoch offenkundig nicht als selbstverständlich betrachtet, sondern anscheinend geglaubt, dafür stehe Israel auf ewig tief in seiner Schuld. Und jetzt: diese Undankbarkeit! Diese Frechheit, ihm, dem großen Freund des jüdischen Staates, die Besichtigung eines Klärwerks im Gazastreifen zu verweigern! Und das, obwohl sein Trip doch sogar die Palästinensische Autonomiebehörde „gestützt hätte“ (auch wenn die in Hamastan bekanntlich schon lange nichts mehr zu melden hat und überdies selbst eine äußerst zweifelhafte Veranstaltung ist)! Da wurde der Besuch im von Kassam-Raketen geplagten Sderot gleich mal wieder storniert.

Dabei ist der Grund, warum der deutsche Minister so wenig den Grenzübergang passieren durfte wie Gefahrgüter aller Art, so simpel wie nachvollziehbar (und dem Gast aus Germany selbstverständlich bekannt gewesen): „Wenn wir Niebel die Einreise nach Gaza erlaubt hätten, müssten wir sie auch jedem anderen europäischen Minister gestatten“, sagte ein Sprecher des israelischen Außenministeriums in Berlin. Und das „würde der Hamas-Regierung zusätzliche Legitimität verschaffen“. Die israelische Regierung folgt also zwei Leitsätzen, die man in Deutschland beständig repetiert und daher eigentlich verstehen müsste – die eine lautet: „Nie wieder!“, die andere: „Wehret den Anfängen!“ Doch womöglich war der FDP-Mann gerade deshalb auch in seinem Narzissmus als Deutscher verletzt – schließlich beansprucht man hierzulande das Copyright auf diese Parolen, als Ausdruck einer vorbildlich bewältigten Vergangenheit, die zahllose Landsleute Niebels Jahr für Jahr am 27. Januar oder am 9. November ostentative Tränen über die toten Juden vergießen lässt.

Für die (über)lebenden hingegen spielen die so geläuterten Deutschen den Bewährungshelfer, der seine Opfer davor bewahren will, rückfällig zu werden, wie Wolfgang Pohrt es einmal treffend formulierte. Die auf diese Art resozialisierten Juden spannt man fürs Erste als Kronzeugen der Anklage gegen Israel ein; dem störrischen Rest gibt man – unter Freunden, versteht sich – beizeiten zu verstehen, was die Stunde geschlagen hat: fünf vor zwölf nämlich (der Hamas gegenüber lässt man derweil die Uhr ein wenig langsamer ticken; dort ruft gerade der Muezzin zum Morgengebet). Schließlich weiß man gerade als Deutscher am allerbesten, was für die Juden gut ist und was nicht, und deshalb führen sich die Nachfahren der Täter regelmäßig auf, als wäre Israel ein deutsches Protektorat, das nicht selbst in der Lage ist, über sein Wohl und Wehe zu befinden.

Schon der unablässige Ruf nach „internationalen Untersuchungen“, wenn man den jüdischen Staat mal wieder eines Verbrechens verdächtigt, ist ein Eingriff in die Souveränität des Staates Israel und eine Anmaßung sondergleichen. Großbritannien hat gerade die Aufarbeitung seines „Bloody Sunday“ abgeschlossen, der Deutsche Bundestag unterhält einen Untersuchungsausschuss zur Bombardierung in Kundus – aber Israel soll seine Angelegenheiten gefälligst von vermeintlich übergeordneten Instanzen durchleuchten und regeln lassen. Auch die Forderung nach einer vollständigen Aufhebung der Gaza-Blockade, wie sie Niebels Parteifreund Guido Westerwelle erhoben hat – darin einig mit dem „Free Gaza“-Bündnis aus Islamisten und deren europäischen Claqueuren –, ist zutiefst vermessen. Und dies zumal vor dem Hintergrund, dass es die Unifil-Mission unter Beteiligung der Bundeswehr nicht vermocht hat, die Hizbollah an der Wiederaufstockung ihres Raketenarsenals zu hindern.

Aber vielleicht hat sich auch die vermeintlich israelfreundliche Bundesregierung längst mit dem Gedanken angefreundet, dass es bald zu einem Krieg kommt, den Israel verliert, und dann wäre sie, so glaubt sie zumindest, das Problem los. Vorher gehört noch den Israelis die Schuld gegeben, damit man sich nachher reinsten Gewissens als Freund des jüdischen Staates aufspielen kann, der ja gewarnt worden sei, dass es so nicht weitergehe. Bei solchen Freunden allerdings braucht es wirklich keine Feinde mehr.

17.6.10

Links, zwo, drei gegen Israel

Eigentlich, so könnte man meinen, sollte der Linkspartei angesichts ihrer obszönen Angriffe gegen Israel und ihrer jede Realität verleugnenden Verteidigung des „Free Gaza“-Unternehmens der Wind zumindest empfindlich kühl ins Gesicht blasen. Denn seit die israelische Armee vor gut zweieinhalb Wochen notgedrungen mit Gewalt verhindert hat, dass eine von Islamisten dominierte und von deren europäischen Claqueuren abgesicherte „Friedensflotte“ die maritime Blockade des Gazastreifens durchbricht, gelangen täglich neue Informationen über das wahre Ziel und den tatsächlichen Verlauf dieser „humanitären Mission“ ans Tageslicht. Selbst deutsche Medien kommen nicht umhin, einige Hintergründe der Geschehnisse auf der Mavi Marmara näher zu beleuchten, denn – so schrieb es die Betreiberin des Weblogs Die Flache Erde vermutlich nicht zu Unrecht – wenn Journalisten hierzulande „Linke noch weniger mögen als Juden, kommt ab und zu mal so etwas wie angemessene Berichterstattung heraus“.

Und dennoch taugt die Beteiligung von linken Bundestagsabgeordneten und NGO-Vertretern am gegen den jüdischen Staat gerichteten, militanten Propagandacoup nach wie vor nicht so richtig zum Skandal, wie auch selbst die offenkundigsten Ausreden und Verdrehungen der Paechs, Groths und Jochheims nach deren Rückkehr bislang ohne jede Konsequenz blieben. Schlimmer noch: Als der Deutsche Bundestag unlängst auf Verlangen der selbstredend vollkommen einsichtsfreien Linkspartei über eine „schnellstmögliche Aufklärung des Angriffs des israelischen Militärs auf einen internationalen Schiffskonvoi mit Hilfsgütern für Gaza“ diskutierte*, forderten Abgeordnete aller Parteien eine „internationale Untersuchung“ (die – wie man nicht erst seit dem Goldstone-Report weiß – zur obligatorischen tribunalartigen Verurteilung Israels mutieren würde). Zwar gab es während der Debatte hier und da ein paar zarte Worte der Kritik an den deutschen Parlamentariern, die zur Delegitimation Israels in See gestochen waren, doch insgesamt dominierte eine fraktionsübergreifende Verständnisinnigkeit die Unterredung deutlich.

Einig war man sich beispielsweise darüber, dass Israel die Blockade des Gazastreifens – die eingedenk der Tatsache, dass täglich mehr als 2.000 Tonnen Hilfsgüter auf dem Landweg dorthin geliefert werden, nur eingeschränkt als solche zu bezeichnen ist – aufzugeben hat, weil sie „für den Friedensprozess nicht hilfreich“ sei, wie etwa der CDU-Abgeordnete Andreas Schockenhoff glaubte. Auch andere machten aus ihrem Herzen keine Mördergrube: Rolf Mützenich, der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, hielt den „Einsatz des israelischen Militärs“ für „unverhältnismäßig“ und „nicht zu rechtfertigen“; der Freidemokrat Rainer Stinner war „erschreckt [sic!], mit welcher Geschwindigkeit es der gegenwärtigen israelischen Regierung gelingt, Freunde und Partner in aller Welt zu verlieren“; sein Parteikollege Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt, rief aus: „Was wir [!] brauchen, ist eine fundamentale Änderung der israelischen Gazapolitik“, und Kerstin Müller von den Grünen bezeichnete die israelische Politik schlicht als „inhuman“ und „völkerrechtswidrig“.

Wenn es um Israel geht, gibt es nämlich keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Und deshalb hatte auch Annette Groth nichts zu befürchten, als sie im Plenarsaal vor die Mikrofone trat, um aufs Neue ihre Version der Vorfälle auf der Mavi Marmara zum Besten zu geben und sich unwidersprochen als „Zeugin“ – vulgo: als Opfer – „einer äußerst menschenunwürdigen Behandlung von Seiten der israelischen Soldaten“ zu inszenieren. Es gab noch nicht einmal einen Zwischenruf, als sie wahrheitswidrig behauptete: „Inzwischen haben auch die israelischen Streitkräfte eingeräumt, dass es sich bei den Aufnahmen eines Gesprächs, bei dem angeblich ein Aktivist die Militärs aufforderte, nach Auschwitz zurückzukehren, um eine Fälschung handelt.“ In Wirklichkeit hatte die IDF zunächst eine um die Sprechpausen gekürzte Fassung des Funkverkehrs veröffentlicht, die vollständige aber bereits kurz darauf ins Netz gestellt. Doch auf diesen Unterschied, der ein erheblicher ist, schien niemand im Hohen Hause Wert zu legen.

Gar noch dreister als Groth trieb es Christine Buchholz, Mitglied im geschäftsführenden Vorstand der Linkspartei und eine derjenigen, die demonstrativ sitzen geblieben waren, als der israelische Präsident Shimon Peres seine Rede vor dem deutschen Parlament zum diesjährigen Shoa-Gedenktag beendet hatte. Auf ihrer Website legte die 39-Jährige kürzlich ihre „Argumente für die Free-Gaza-Bewegung“ dar und reihte dabei Unwahrheit an Verharmlosung und Leugnung an Verdrehung: Die todessehnsüchtigen islamistischen Schläger auf dem Deck der Mavi Marmara sind ihr „unbewaffnete ZivilistInnen“, die mit „Kinderspielzeug“ zur „Selbstverteidigung“ gegen den israelischen „Akt der Piraterie“ angetreten seien; die Kritik an der islamistischen Kadergruppe IHH – deren Vorsitzender Bülent Yildirim den Angriff auf die israelischen Soldaten persönlich befehligte – stellt sie unter den Verdacht der „Islamfeindlichkeit“ und des „antimuslimischen Rassismus“; das Ziel der Hamas ist Buchholz zufolge nicht etwa die Vernichtung des jüdischen Staates, sondern die Beendigung der „Besatzung durch Israel“ (die es bekanntlich schon seit 2005 nicht mehr gibt); gewählt worden sei diese Truppe, weil sie „für die Fortführung des Kampfes nach Selbstbestimmung argumentiert“ habe (das heißt ausweislich ihrer Charta: für die „Befreiung ganz Palästinas“ von den Juden). Und so geht es weiter, Wort für Wort, Zeile für Zeile und Seite für Seite.

Dass diese Positionen in der Linkspartei keineswegs randständig sind, machte Sören Pünjer für die Zeitschrift Bahamas in einem Redebeitrag auf einer pro-israelischen Kundgebung am vergangenen Samstag in Berlin überzeugend deutlich, indem er sich Gregor Gysis Rede zum 60. Jahrestag der israelischen Staatsgründung vornahm. Jene programmatische Rede also, die, so resümierte Pünjer, keine Absage an den Antizionismus gewesen sei, sondern vielmehr eine neue Strategie vorgegeben habe, nach der künftig der Antizionismus aus Machtgründen „israelsolidarisch ummantelt daherkommen“ müsse, „um im Falle einer Regierungsbeteiligung die Kritik an Israel so weit forcieren zu können, wie es die Regierungsmacht nicht gefährden würde“. Wer sich die Ansprache des Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag noch einmal genauer betrachtet, wird kaum zu einem anderen Ergebnis kommen: Gysis Bedauern darüber, dass in Bezug auf das Verhältnis zu Israel die „moralische Komponente, die aus der deutschen Geschichte erwächst“, so stark sei, „dass sich absehbar nichts ändern wird“, ist förmlich greifbar; seine Forderung, der jüdische Staat dürfe „nicht weiter versuchen, kulturell Europa im Nahen Osten zu sein“, beinhaltet nicht weniger als den Wunsch, Israel möge sich, wie Pünjer es treffend formulierte, „den autoritären und barbarisierenden Zuständen um es herum angleichen“ und „seine Verfasstheit als westlich orientierter demokratischer Staat um des lieben Friedens willen aufgeben“.

Kann also in der Linkspartei sein, wer es mit Israel hält? Natürlich nicht. Und deshalb unterbreitete die Hallenser Gruppe No Tears for Krauts den die Berliner Kundgebung unterstützenden Linksjugend-Genossen des Landesarbeitskreises Shalom aus Hamburg das Angebot, für jedes Parteibuch, das per sofort zurückgegeben wird, „eine Flasche Yarden-Wein aus dem hoffentlich für alle Ewigkeit israelischen Golan zu spendieren“. Denn das sei „weit mehr, als es das Heftchen wert ist“. Nach allem, was man weiß, ging übrigens niemand auf die Offerte ein. Bezeichnend.

* Das vollständige Protokoll der Sitzung findet sich hier; der die Anfrage betreffende, besser lesbare Auszug aus dem Protokoll findet sich hier.

Das Foto (© Dissi) entstand während der Kundgebung „Gegen das Bündnis der Kriegstreiber von Linkspartei und Hamas! Solidarität mit Israel!“ am 12. Juni 2010 in Berlin vor der Zentrale der Linkspartei, dem Karl-Liebknecht-Haus. Das Plakat ist an einen Titel von Peter Licht angelehnt und spielt auf die Geschlechtersegregation auf der Mavi Marmara an, der sich die beiden Bundestagsabgeordneten der Linkspartei widerspruchslos unterwarfen.

8.6.10

United we stand



Ohne Worte. Oder doch: ein Hinweis auf eine bemerkenswerte Kundgebung am kommenden Samstag in Berlin – für alle diejenigen, die das Treiben des antisemitischen Lynchmobs und seiner Spießgesellen nicht tatenlos hinnehmen wollen.

© Lisa Benson, The Washington Post Writers Group

7.6.10

Im Dialog mit „Pax Christi“



Ist es Realitätsverleugnung? Oder schiere Ideologie? Vermutlich bedingt das eine das andere: Allenfalls „zweieinhalb Holzstangen“, so hat es Norman Paech bekanntlich verkündet, hätten die Männer auf dem Deck der Mavi Marmara am vergangenen Montag gegen die Angehörigen der israelischen Spezialeinheit möglicherweise zum Einsatz gebracht, und dies, versteht sich, auch nur zur Selbstverteidigung. Videos der israelischen Armee, aber auch die Aussagen eines an Bord befindlichen Muslimbruders sowie eines Reporters von Al-Jazeera machen allerdings deutlich, dass die Wirklichkeit dann doch etwas anders aussah. Hinzu kommen in der türkischen Zeitung Hürriyet veröffentlichte Fotos, auf denen schwer verletzte israelische Soldaten zu sehen sind, und eine Stellungnahme des Vorsitzenden der islamistischen, mit der Hamas paktierenden türkischen Organisation IHH, die das Schiff gechartert hatte: Mit Eisenstangen hätten sich die „Aktivisten“ verteidigt und mehrere Soldaten überwältigt, sagte Bülent Yildirim, gewiss nicht ohne Stolz.

Es waren teilweise veritable Djihadisten, mit denen die sehr deutschen „Friedensfreunde“ da in See gestochen sind – und das hätten sie wissen können und müssen, zumal die Informationen über die IHH bereits frühzeitig bekannt waren. Oder etwa nicht? Für Lizas Welt hat Stefan Frank* am 2. Juni – also zwei Tage nach dem Angriff auf die israelischen Soldaten – mit Wiltrud Rösch-Metzler gesprochen, der Vizepräsidentin der deutschen Sektion von Pax Christi, die „Free Gaza“ unterstützt hat.

Wissen Sie, was die IHH für eine Organisation ist?

Wiltrud Rösch-Metzler: Welche IHH meinen Sie?

Die türkische.

Die ist gegründet worden, um die internationale „Free Gaza“-Organisation zu unterstützen.

Es gibt sie aber schon seit 1992.

Nein, das ist die andere IHH, darum habe ich eben gefragt, welche Sie meinen. Die andere hat auch einen Ableger in Frankfurt und ist eine islamische Organisation, die aber nichts mit der Unterstützungsaktion für Gaza zu tun hat. Die heißt auch IHH, hat aber ein anderes Ziel.

Wir sprechen doch beide von der IHH, deren Vorsitzender Bülent Yildirim ist?

Ach, das weiß ich nicht. Ich weiß, dass die IHH, die einen Ableger in Deutschland hat, die andere IHH ist, die nichts mit Gaza zu tun hat. Da kenne ich den Vorsitzenden in Deutschland, der ist in Hamburg und heißt Yoldas.

Die IHH ist Mitglied in der „Union des Guten“, deren Vorsitzender Yusuf al-Qaradawi ist.

Das kann schon sein, diese islamische IHH. Die kenne ich nicht. Die hat einen Ableger in Deutschland. Aber das ist nicht die IHH, die mit „Free Gaza“ zusammenarbeitet. Die „Free Gaza“-IHH heißt... Ich gucke gerade mal, wie das geschrieben wird... (liest) „İnsan Hak ve Hürriyetleri Vakfi“ (lacht). Das kürzt sich eben auch IHH ab. Die haben auch eine Webseite, aber da ist alles auf Türkisch, ich kann das selber gar nicht lesen, ich muss mir das auch übersetzen lassen.

Es war die islamistische IHH, die den Konvoi organisiert hat. Es gibt nicht zwei türkische IHHs, sondern eine türkische und eine deutsche. Die türkische firmiert unter der Kurzform des Namens „İnsani Yardım Vakfı“ und unter der Langform „İnsan Hak ve Hürriyetleri ve İnsani Yardım Vakfı“. Das ist ein und dieselbe Organisation.

(Liest) İnsan Hak ve Hürriyetleri Vakfı. Diese Organisation unterstützt „Free Gaza“.

Genau. Es ist eine militante islamistische Organisation, die Verbindungen zum internationalen Terrorismus hat. Auf der Facebook-Seite der IHH findet man Propagandavideos der Hamas und unter den Facebook-„Fanfotos“ ein Hitlerbild mit Hakenkreuzfahne. Das ist die Organisation, die zur „Union des Guten“ gehört.

Die islamische IHH.

Sie war Ihr Partner bei der Gaza-Flottille.

Nein, es handelt sich um zwei verschiedene Organisationen.

Das tut es nicht. So steht es auch in allen Zeitungen.

In welcher Zeitung? Dann gucke ich auch noch mal nach.

Zum Beispiel: Welt online, Zeit online, Tagesanzeiger...

Dann haben die das auch durcheinander geworfen.

Es ist ein und dieselbe Organisation. Als Logo hat sie doch den Globus mit der Taube, nicht wahr?

Ich weiß nicht, was die für ein Logo haben.

Hat sich denn Pax Christi vorher informiert, was das für eine Organisation ist?

Das sind ja nicht unsere Partner, sondern wir sind mit „Free Gaza“ zusammen.

Aber die IHH war doch dabei.

Die sind dazugestoßen.

Aha. In den Zeitungen kann man lesen, drei der vier getöteten Türken hätten als Märtyrer sterben wollen, das hätten sie schon vorher angekündigt. Wissen Sie das?

Das habe ich auch gelesen.

Was denken Sie darüber?

Ich kenne die Leute ja nicht. Ich recherchiere natürlich, was das soll, wie es zu dieser Meldung kommt.

Beeinflusst das Ihre Sicht der Geschehnisse vom 31. Mai, auf die Auseinandersetzung zwischen israelischen Soldaten und einigen militanten Besatzungsmitgliedern der Mavi Marmara?

Zunächst mal müssen wir das auswerten.

Halten Sie es für möglich, dass einige Mitglieder der IHH die Konfrontation gesucht haben, weil sie den Märtyrertod sterben wollten?

Was immer noch bleibt: Es gibt eben Tote nur auf dieser einen Seite.

Aber auch schwer verletzte israelische Soldaten.

Genau, es gibt Verletzte auf beiden Seiten. Es gab ja die drei Verletzten, von denen die deutschen Delegierten gesprochen haben. Das waren ja drei israelische Soldaten, die verletzt waren.

Ja, genau.

Ja.

Würden Sie sich dann von der IHH, die, wie Sie sagen, erst im Nachhinein dazugestoßen sei, distanzieren, sagen: „Mit militanten Islamisten wollen wir nichts zu tun haben“?

Wir gehören doch nicht zur IHH, wir sind eine katholische Friedensbewegung.

Würden Sie sich denn moralisch distanzieren und...

(Patzig) Ich habe das nicht geprüft, ich sagte es Ihnen doch. Ich kann ja sagen: „Hätte ich gewusst, dass es Tote gibt, hätte ich nie irgendwelche Schiffe losschicken lassen.“ Oder hätte es nie begrüßt. Ich wusste nicht, dass das israelische Militär so hart eingreift

Und Sie wussten auch nicht, dass es unter den Besatzungsmitgliedern der „Mavi Marmara“ militante Islamisten gab, die sich auf einen Märtyrertod vorbereitet und die Gewalt gesucht haben?

(Aggressiv) Das weiß ich doch nicht, ich muss das doch erst nachprüfen! Woher soll ich das wissen? Wissen Sie das vielleicht? Waren Sie auf dem Schiff? Sie können das doch auch nur recherchieren, indem Sie Leute fragen, die dort waren. Und so geht’s mir doch auch. Was soll die Frage? Wenn ich gewusst hätte, dass es Tote gibt, hätte ich das nie begrüßt.

Und Sie hätten es auch nicht begrüßt, wenn Sie vom Engagement der IHH gewusst hätten?

Das weiß ich doch nicht. Erstens: Was mir vorliegt an Informationen, das habe ich ja versucht, Ihnen zu erklären, dass es zwei verschiedene IHHs gibt.

Eben nicht, es ist ein und dieselbe.

Genau, Sie sagen, das stimmt nicht, jetzt muss ich das doch erst recherchieren.

Und was ist bei dieser Recherche herausgekommen? Eine zwei Tage nach dem Interview veröffentlichte, von Pax Christi mitgetragene Pressemitteilung gibt Aufschluss darüber: „Mit aller Entschiedenheit weisen wir die Vorwürfe zurück, die das friedliche Ansinnen der Freiheits-Flotte in Frage stellen und eine Verbindung zu ‚islamistischen Terroristen’ unterstellen. Diese Vorwürfe dienen allein dem Zweck, von dem israelischen Verbrechen beim Angriff auf die Schiffe und von der völkerrechtswidrigen Blockade von Gaza abzulenken.“ Um die eingangs gestellte Frage noch einmal aufzugreifen: Ist es Realitätsverleugnung? Oder schiere Ideologie? Das eine bedingt wohl tatsächlich das andere.

Update 7. Juni 2010: Auch das ARD-Magazin Report Mainz hat nun einen Beitrag veröffentlicht, der recht eindrucksvoll zeigt, mit wem die Linkspartei, die IPPNW, Pax Christi et al. gemeinsame Sache gemacht haben: Fragwürdige Friedensmission – Deutsche Linke in einem Boot mit türkischen Islamisten und Rechtsextremisten?

Das Foto zeigt den IHH-Vorsitzenden Bülent Yildirim (links) und den Hamas-Führer Ismail Haniya am 7. Januar 2010 beim Fundraising für „Free Gaza“.

* Stefan Frank ist freier Journalist und schreibt unter anderem für die Monatszeitschrift KONKRET. Auf seiner Homepage ist eine Auswahl seiner Texte und Interviews zu finden.

5.6.10

Die Banalität des Guten


Um es noch einmal deutlich zu sagen: Die Passagiere der Mavi Marmara, die israelische Soldaten mit Knüppeln, Messern und möglicherweise sogar Schusswaffen angegriffen haben, waren nichts anderes als Selbstmordattentäter. Dass sie sterben würden, muss ihnen angesichts ihres Handelns und der militärischen Übermacht der israelischen Truppen klar gewesen sein. Anders als ihre Gesinnungs- und Kampfgenossen, die sich in Bussen und Einkaufszentren in die Luft sprengen, zielten sie jedoch nicht auf Zivilisten, sondern auf Israels Image. Dabei nahmen sie ihren eigenen Tod wissentlich in Kauf. Israels Feinde haben mittlerweile verstanden, dass es in einem asymmetrischen Krieg darum geht, den Hebel zu finden, mit dem man den überlegenen Gegner zu Fall bringen kann. Dieser Hebel sind Medien und Weltmeinung, die dazu benutzt werden sollen, Israel zu isolieren und zu schwächen. So sind diese Selbstmordattentäter der neuen Generation in ihrer mittelbaren Wirkung für Israel nicht minder gefährlich als ihre Vorgänger. (Spirit of Entebbe, 2. Juni 2010)
Man kann nicht behaupten, dass Israels Feinde bei der Verfolgung ihrer Ziele nicht kreativ wären. Sie haben es mit Selbstmordattentaten en masse versucht und mit Raketen sonder Zahl. Sie haben israelische Soldaten entführt, um sie – tot oder noch lebendig – gegen in israelischen Gefängnissen einsitzende Terroristen auszutauschen, die dann aufs Neue losziehen können, um ihrem mörderischen Werk nachzugehen. Sie dominieren den so genannten Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen und haben dort Konferenzen und Tribunale veranstaltet, um Israel zu dämonisieren und zu delegitimieren. Der Schaden, den sie angerichtet haben, ist beträchtlich – und doch haben sie ihren finalen Plan bislang nicht verwirklichen können. Denn den jüdischen Staat gibt es immer noch.

Dass dem so ist, liegt auch daran, dass einige dieser Aktivitäten sich sozusagen als kontraproduktiv erwiesen haben. Mögen Suicide Bombings und Raketenangriffe in nicht geringen Teilen der Weltöffentlichkeit auch auf noch so viel Nachsicht und Verständnis gestoßen sein – insoweit sie dort als „Verzweiflungstaten“ begriffen wurden und nicht als offensiver militärischer Angriff –, so konnten sie doch nicht alle restlos von der Friedfertigkeit der Palästinenser überzeugen. Und schon gar nicht vermochten diese Mittel die israelische Gesellschaft zu zermürben und zu entzweien – im Gegenteil: Die bittere Erkenntnis, jederzeit und überall von einer menschlichen Bombe oder von Geschossen tödlich getroffen werden zu können, ließ auch viele derjenigen Israelis, die eine Zweitstaatenlösung befürworteten, zu der Einsicht gelangen, dass die lieben Nachbarn alles wollen, nur keinen jüdischen Staat. Vor allem deshalb ist in Israel die Zustimmung zu militärischen Maßnahmen seit der zweiten „Intifada“ im Jahr 2000 wieder deutlich gestiegen.

Angesichts dessen mussten die Feinde Israels allmählich eine neue, erfolgversprechendere Strategie ersinnen, die geeignet ist, noch größere Teile der Öffentlichkeit auf einen antiisraelischen Kurs zu bringen als bisher schon. Diese Strategie zielt nun darauf ab, Israel der ultimativen Unmenschlichkeit zu überführen, eines Verbrechens, das weltweit maximale Empörung hervorruft – mehr noch, als jeder Krieg es vermag – und das sich außerhalb Israels niemand zu rechtfertigen traut. Mit Hilfsgütern beladene Schiffe sind auf ihrem Weg zur Küste von Gaza schon mehrmals von der israelischen Marine aufgehalten worden; das verursachte zwar jeweils ein paar Tage lang eine schlechte Presse für den jüdischen Staat, aber so richtig zünden wollte die Idee nicht – weil es keine Toten und Verletzten gab. Dies zu ändern, war „Free Gaza“ nun offensichtlich angetreten – ein Bündnis, dem es gelang, von friedensbewegten Europäern bis zu türkischen Islamisten alles an Bord zu bekommen, was Israel die Pest an den Hals wünscht, inklusive einiger B-Promis, zu denen auch zwei deutsche Bundestagsabgeordnete und der schwedische Schriftsteller Henning Mankell zählten.

Dass es „Free Gaza“ nicht darum ging, humanitäre Güter in den Gazastreifen zu liefern, haben die Verantwortlichen dieser Vereinigung in dankenswerter Offenheit ausgeplaudert – und wenn es trotzdem noch eines Beweises bedurft hätte, dann wurde er spätestens geliefert, als herauskam, dass ein nicht geringer Teil des Materials an Bord der Schiffe wertloser Schrott ist, den nicht mal die Hamas haben will. Das Ziel des Unternehmens war es vielmehr, Israel in eine gewaltsame Auseinandersetzung zu zwingen, um sich hernach als Opfer einer brutalen Militärmaschinerie inszenieren zu können und damit Israels Isolation und Delegitimierung ein weiteres gutes Stück voranzutreiben. Weil die Soldaten der israelischen Spezialeinheit aber nicht mehr taten, als Paintball-Munition gegen ihre Widersacher zum Einsatz zu bringen, musste deren zu allem bereiter Teil die Konfrontation mit Eisenstangen, Messern, den Soldaten entwendeten Waffen und Geiselnahmen derart eskalieren, dass die Spezialkräfte gar nicht mehr anders konnten, als scharf zu schießen; andernfalls wären sie selbst zu Tode gekommen.

Dieser zu allem bereite Teil bestand überwiegend aus türkischen Islamisten; mindestens 40 davon befanden sich nach türkischen Zeitungsberichten an Bord der Mavi Marmara, und wenigstens drei der Getöteten sollen ihren Freunden und Verwandten gegenüber vor der Abreise gesagt haben, sie wollten auf der Fahrt als „Märtyrer“ sterben. Auch andere waren dazu bereit, doch ihr sehnlichster Wunsch ging nicht in Erfüllung. Organisiert und finanziert wurde das Schiff von der IHH, einer vermeintlich karitativen türkischen Einrichtung, deren Vorsitzender Bülent Yildirim noch bei der Einweihungszeremonie für den Prachtkahn mit offenem Antisemitismus in Erscheinung trat, die Mitglieder in Afghanistan, Bosnien und Tschetschenien „kämpfen“ lässt und deren Sprecher Faruk Korkmaz kalt lächelnd zugab, das Anliegen seiner Organisation habe darin bestanden, „Israel vorzuführen“.

„In der Organisation der Gaza-Flottille sind Organisationen führend, die unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe islamistische Terrororganisationen und den globalen Djihad unterstützen“, resümierte das Berliner Mideast Freedom Forum deshalb zu Recht. Und die übrigen Vereinigungen des „Free Gaza“-Bündnisses machten sehenden Auges mit ihnen gemeinsame Sache. Der nun vielfach unternommene Versuch, „zwischen Millî Görüş, dessen Spektrum der IHH angehört, und der Abgeordneten Inge Höger zu unterscheiden, zwischen einem sozusagen zivilgesellschaftlich organisierten Hass und dem offenen (versuchten) Lynchmord, ist im Kleinen das Abbild der großen Politik“, befand die Zeitschrift Bahamas in ihrem lesenswerten Aufruf mit dem Titel „Für Israel – gegen das Bündnis von ‚Gutmenschen’ und Djihadisten“. Das „Bindeglied zwischen Hasspropaganda und unverhohlener Unterstützung des Terrorismus“ sei der türkische Ministerpräsident Erdoğan, der, „seit er innenpolitisch nicht mehr auf der Siegesstraße ist, also seit dem so genannten Gazakrieg im Frühjahr letzten Jahres, den ‚europäischen’ Frontmann des Israelhasses abgibt und die Untaten seiner Landsleute auf der Mavi Marmara aktiv gefördert hat“. Erdoğan erfahre aus Europa keine Kritik, so die Bahamas weiter, „sein Regime gilt weiterhin nicht als islamistisch, seine Hetze nicht als antisemitisch“.

Wie wahr diese Worte sind, wird überdeutlich, wenn man sich die Stellungnahmen der deutschen Mitglieder von „Free Gaza“ ansieht. Matthias Jochheim beispielsweise, Mediziner und für die Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW) an Bord der Mavi Marmara, hielt die IHH in einem Interview des Kölner Stadt-Anzeigers allen Ernstes für „eine Art Rotes Kreuz der Türkei“. Bei den Vorbereitungstreffen habe man „keinen Zweifel an der pazifistischen Gesinnung“ dieser Einrichtung gehabt. „Aber man kann“, fuhr Jochheim fort, „natürlich nie wissen, ob sich darunter auch ideologisch Verbrämte oder Hamas-Sympathisanten befinden“ – und man wollte es vermutlich auch gar nicht. Das Vorgehen gegen die israelische Spezialeinheit sei jedenfalls ein legitimer Akt der Verteidigung gewesen; allenfalls „Holzknüppel“ seien dabei zum Einsatz gekommen, glaubt Jochheim, darin einig mit Norman Paech, der deren Zahl auf zweieinhalb taxierte und im Übrigen den – teilweise gelungenen – Versuch, „die Soldaten zu entwaffnen“, richtig fand. In einem taz-Interview verstieg Paech sich auf die Frage, ob sich Waffen an Bord des Schiffes befunden hätten, sogar zu der Behauptung: „Überhaupt nicht. Der Mossad war vom ersten Tag dieser Aktion an dabei. Er wusste über alles Bescheid.“ So hört sich das an, wenn ein „Israelkritiker“ aus seinem Herzen keine Mördergrube macht.

Mit dem Filmmaterial konfrontiert, das alles andere als so etwas wie gewaltlosen, zivilen Ungehorsam der Passagiere zeigt, reagieren die deutschen Friedensfreunde so wie die Linken-Bundestagsabgeordnete Annette Groth, die im ZDF sagte, die Videos seien „zusammengestückelt worden, was weiß ich, woher das kommt“. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wird das Vorgehen der neuen Selbstmordattentäter kurzerhand als Erfindung der israelischen Propaganda bezeichnet. Doch das ist keine Realitätsverleugnung, sondern eine bewusste Verdrehung von Tatsachen. Denn noch traut man sich nicht, die alte linke Parole „Ob friedlich oder militant, wichtig ist der Widerstand“ aufzuwärmen und damit die längst offensichtliche Liaison mit den Islamisten auch offiziell zu verkünden. Dabei gibt es publizistischen Flankenschutz auch von solchen, die man gemeinhin für moderat und nüchtern hält. Israel sei „ohne Maß“, kommentierte etwa Günther Nonnenmacher in der FAZ, was die Bahamas ein trockenes Fazit ziehen ließ: „Jegliches Maß scheint Israel in der Tat verloren zu haben, als es den Hass von Friedmenschen aus Europa unterschätzte, die perfiderweise stellvertretend Mörder und Märtyrer walten lassen, um hinterher betroffene Pressekonferenzen abzuhalten.“

Was sowohl diese Linken, Friedensbewegten und „Menschenrechtler“ als auch den weitaus größten Teil der deutschen Medienlandschaft antreibt, hat der Publizist Eike Geisel schon vor anderthalb Jahrzehnten analysiert, nachzulesen in seinem Buch „Triumph des guten Willens“: „Im Namen des Friedens gegen Israel zu sein, ist etwas Neues. Denn dieses Ressentiment hat alle praktischen und politischen Beweggründe abgestreift. [...] Dieser neue Antisemitismus erwächst weder aus niedrigen Instinkten noch ist er Ausfluss ehrbarer politischer Absichten. Er ist die Moralität von Debilen. Das antijüdische Ressentiment entspringt den reinsten menschlichen Bedürfnissen, es kommt aus der Friedenssehnsucht. Es ist daher absolut unschuldig, es ist so universell wie moralisch. Dieser moralische Antisemitismus beschließt die deutsche Wiedergutwerdung insofern, als sich durch ihn die Vollendung der Inhumanität ankündigt: die Banalität des Guten.“ 15 Jahre nach diesen Sätzen hat sich an deren Gültigkeit nicht das Geringste geändert.

Mag sein, dass unter den „Free Gaza“-Aktivisten auch der eine oder andere war, der grenzenlos naiv glaubte, den im Gazastreifen lebenden Palästinensern mit der Flottenfahrt tatsächlich helfen zu können. Falls dem so sein sollte – wofür angesichts bislang vollständig fehlender Distanzierungen nicht viel spricht –, dann sei den Betreffenden gesagt: „Free Gaza“ hat einen militärischen, keinen humanitären Zweck; der Sinn der Übung am vergangenen Montagmorgen war es, möglichst effektiv ein paar als Friedensaktivisten getarnte „Märtyrer“ zu produzieren, um eine Etappe im Propagandakrieg gegen Israel zu gewinnen, der tatsächlich der Hebel sein könnte, um den jüdischen Staat langfristig zum Verschwinden zu bringen. Die Antwort darauf kann nur die unbedingte Solidarität mit Israel sein. Und wer diese Erkenntnis gerne auch musikalisch untermalt haben möchte, dem sei das von Caroline Glick arrangierte, grandiose Video „We con the world“ empfohlen, in dem das Unternehmen „Free Gaza“ zu aus den Achtzigern bekannten Klängen zur Kenntlichkeit entstellt wird.

Das Foto entstand auf einer antiisraelischen Demonstration am 1. Juni 2010 in Berlin, an der Linke, Islamisten und „Graue Wölfe“ teilnahmen. Die Frau auf dem Transparent ist Leila Khaled, die erste Flugzeugentführerin der Weltgeschichte und damit sozusagen die Urmutter der humanitären Pazifisten von der Mavi Marmara. (© verbrochenes.net)