20.11.09

Shoa-Chic



Für Altkanzler Gerhard Schröder sollte das Holocaust-Mahnmal ein Ort werden, „an den man gerne geht“. Der Publizist Hannes Stein hingegen fand: „Nicht 2.000 stilisierte Grabsteine hätten in Berlin zu stehen, sondern 2.000 Galgen, wie sie nach den Nürnberger Prozessen Verwendung fanden, meinetwegen hübsch in Messing gegossen. Und unter jedem von ihnen müsste eine Plakette mit dem ausführlichen und exemplarischen Lebenslauf eines jener Massenmörder angebracht sein, wie sie nach dem Krieg zu Tausenden ungestraft herumliefen.“ Wie Recht Stein doch hatte!

VON THOMAS VON DER OSTEN-SACKEN

Die Zeiten, als man mit Zahngold und Kopfhaar ermordeter Juden ein nicht unbeträchtliches Zubrot verdienen konnte, sind glücklicherweise vorbei. Aber mit toten Juden lässt sich auch dieser Tage gutes Geld machen, wie die Novemberausgabe des Bordmagazins von Easyjet eindrücklich zeigt. Für die peppige Präsentation neuester Mode an Berliner Lokalitäten, die dem Leser sogar schon auf der Titelseite – unter dem Motto „Reviving the Bauhaus Zeitgeist“ – ans Herz gelegt wird, posieren die Models mit Vorliebe in den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin.

Offenbar aber hat das bislang keinen der in den Urlaub jettenden Fluggäste der Billigairline weiter gestört. Möglichst viele entsprechende E-Mails an Easyjet (Deutsche.Presse@easyJet.com) respektive die Macher des Magazins (easyjet.ads@ink-publishing.com) wären deshalb durchaus angebracht. Und vielleicht lohnte auch bei den Verwaltern des Denkmals die Nachfrage, ob sie derartige Präsentationen generell gestatten.

Auch die in Berlin ansässige Modedesignerin Anuschka Hoevener wäre da zu erwähnen, deren hier präsentiertes Kleid für schlappe 229 Euro zu haben ist.

Update 21. November 2009: Wer sagt’s denn? Easyjet hat die Novemberausgabe des Magazins nun zurückgezogen (und zwar sowohl die Print- als auch die Online-Version), sich für den „Shoa-Chic“ entschuldigt und die Zusammenarbeit mit dem Hersteller der Bordzeitschrift auf den Prüfstand gestellt. Alles Weitere von Thomas von der Osten-Sacken auf dem WADI-Blog: hier und hier.

17.11.09

Bürger, rechts, Bewegung!



Manche Dinge kann man einfach nicht erfinden:
Bundespräsident Horst Köhler zeichnete zum 20. Jahrestag des Mauerfalls verdiente DDR-Bürgerrechtler mit dem Bundesverdienstkreuz [aus]. Zu den Ausgezeichneten, die am Montag im Bundespräsidialamt eingeladen waren, gehörten der Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, dem zentralen ehemaligen Stasi-Gefängnis, Hubertus Knabe, der Schauspieler Jochen Stern sowie die Frau vom Checkpoint Charlie, Jutta Fleck. Die Regisseurin und Autorin, Freya Klier, sowie der Liedermacher Stephan Krawczyk [Foto], beide Mitbegründer und Symbolfiguren der DDR-Friedensbewegung, begleiteten das Programm musikalisch.

Als Krawczyk vom Bundespräsidenten zum Ende der Veranstaltung gebeten wurde, die Nationalhymne anzustimmen, vergriff dieser sich im dreistrophigen Text. „Deutschland, Deutschland über alles...“ sang der Liedermacher, bis er unterbrochen und darauf aufmerksam gemacht wurde, dass bei der offiziellen deutschen Nationalhymne nur die dritte Strophe des „Liedes der Deutschen“ von Hoffmann von Fallersleben gesungen wird: „Einigkeit und Recht und Freiheit...“. Die ersten beiden Strophen sind zwar nicht verboten, aber – nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus – weitgehend tabuisiert.
Für das, was die Deutsche Presse-Agentur in ihrer Meldung schamhaft als Vergreifen zu beschönigen sich bemüßigt fühlte, gibt es mehrere denkbare Erklärungen. Die unwahrscheinlichste ist, dass Krawczyk irgendjemandem auf den schwarz-rot-goldenen Schlips treten wollte, denn am „verordneten Antifaschismus“ in der DDR fand er als Vorzeigebürgerrechtler nicht nur das Verordnen, sondern auch den Antifaschismus falsch. Schon näher an der Wahrheit dürfte man mit der Vermutung liegen, dass die Stasi dem Barden dermaßen auf die Pelle gerückt ist, dass er seinen Verstand verloren hat. Damit könnte er immerhin mildernde Umstände geltend machen. Womöglich begreift sich Krawczyk aber auch weiterhin als oppositionelles Sprach- respektive Gesangsrohr des Ostens und glaubt, Volkes Stimme besonders öffentlichkeitswirksam zur Geltung bringen zu müssen. In jedem Fall darf die „Symbolfigur der DDR-Friedensbewegung“ (dpa) sich glücklich schätzen, die Erweiterung des deutschen Staatsgebiets in Richtung Maas, Memel, Etsch und Belt nur in der Bundesrepublik gefordert zu haben. Dort bekommt man in einem solchen Fall nämlich bloß einen spontanen und höflichen Kurzlehrgang in Staatsbürgerkunde verabreicht, mehr nicht.

Andererseits muss man Stephan Krawczyk schon wieder dankbar sein: Nach den Ehrungen von Felicia Langer und Henning Mankell hatte sich Horst Köhler eine solche Blamage redlich verdient. Dass sie ausgerechnet bei der Verdienstkreuzverleihung an prominente „Wir sind das Volk“-Deutsche vonstatten ging, ist so eine Laune des Weltgeistes, die passt wie der Arsch auf den Eimer.

15.11.09

Der Professor und sein Prophet



Wenn einem Buch zum Thema Israel hierzulande aus so ziemlich allen politischen Lagern vernehmlich applaudiert wird – von der Frankfurter Rundschau bis zur Jungen Freiheit –, dann kann man mit einigem Recht davon ausgehen, dass der Autor des entsprechenden Werkes den postnazistischen, von Judenhassern zu „Israelkritikern“ mutierten Deutschen mehrheitlich aus der Seele gesprochen respektive geschrieben hat. Dies umso mehr, wenn es sich beim Verfasser um einen Juden handelt, der darob mit Begeisterung zum Kronzeugen der Anklage gegen den jüdischen Staat befördert wird und hinter dem es sich notfalls bequem in Deckung gehen lässt. Avraham Burg heißt der neueste Liebling der Antizionisten und „Hitler besiegen – warum Israel sich vom Holocaust lösen muss“ die deutsche Ausgabe seiner Schrift, die im Campus-Verlag erschienen ist, dort also, wo bereits Mearsheimers und Walts Tirade gegen die „Israel-Lobby“ ein Zuhause fand.

Burg erzählt seinen Lesern das, was man in Deutschland schon immer wusste: Israel sei geradezu krankhaft auf die Shoa fixiert, gewalttätig und friedensunfähig; wenn es überleben wolle, müsse es dem Zionismus abschwören, auf die staatliche Selbstverteidigung weitgehend verzichten und sich Europa zum Vorbild nehmen. Diesen bizarren Unfug fand sogar das Fritz­-Bauer-Institut in Frankfurt – das es eigentlich besser wissen sollte – so anziehend, dass es Ende Oktober zu einer öffentlichen Veranstaltung mit dem Autor lud und dessen Thesen von Micha Brumlik salvieren ließ. Nun hat Brumlik in der Jüdischen Allgemeinen auch noch eine Rezension von Burgs Buch folgen lassen. Henryk M. Broder über einen Professor und seinen Propheten.


VON HENRYK M. BRODER

Dass Micha Brumlik das neue Buch von Avraham Burg bespricht, hat weniger mit dem Werk als mit Brumlik zu tun. Es ist das Buch, das der Pädagogik-Professor aus Heidelberg gerne selbst geschrieben hätte, wenn ihm eine innere Stimme nicht geraten hätte: „Warte ab, bis es ein anderer macht!“ Denn die Abrechnung mit den „Lebenslügen“ des Zionismus ist das biografische Projekt, das Brumlik seit langem mit Hingabe betreibt, ein finaler Höhepunkt seiner ansonsten mediokren akademischen Karriere, deren demnächst bevorstehendes Ende er mit einem Big Bang zelebrieren möchte. Brumliks persönliche Agenda ist kein Geheimnis, seit er vor ein paar Monaten auf einer Anti-Israel-Demo auf dem Frankfurter Römer gesehen wurde – mit einem schwarzen Luftballon in der Hand und in der Gesellschaft eines Kampfschriften-Verlegers, der sich darauf spezialisiert hat, für seine Kunden den Adolf zu machen. Und wie andere Professoren, deren Geschäftsgrundlage eine Konversion ist, die Wissen und Kompetenz durch formale Zugehörigkeit ersetzen soll, ist auch Brumlik dabei, überzutreten. Musste man zu Heines Zeit dazu den christlichen Glauben annehmen, genügt es heute, sich zum Antizionismus zu bekennen. Der Götzendienst, den der zum Antizionismus konvertierte Jude täglich leisten muss, ist eine Dienstleitung am Publikum, das sich seine eigenen Ressentiments von einem leibhaftigen Juden gerne als koschere Überzeugung bestätigen lassen möchte. Deswegen strömt es „zu Hunderten in seine Vorlesungen“ und hört dem „demagogisch nicht unbegabten Redner“ gebannt zu.

Brumliks Begeisterung für Burg entspricht der Bewunderung, die ein Frankfurter Würstchen für eine richtig dicke Salami empfindet, die es vor ihm in die Auslage eines Metzgerladens geschafft hat. Mehr noch: Burg ist schon da, wo Brumlik noch ankommen möchte: Im Verdauungstrakt des Publikums. Und da reicht der Platz gerade aus, um mit angehaltenem Atem zu schreiben. „Demagogisch nicht unbegabt“ nennt Brumlik Burg, dessen einzige Qualität darin besteht, sein Publikum um den Verstand zu reden, die Haupttugend eines jeden Hochstaplers, der eine fixe Idee geschickt vermarktet, wie Erich von Däniken und Gunther von Hagens. Burgs Konvolut ist ebenso wirr wie inkonsistent, ein Handkäs’ mit Musik, der, um den Gestank zu neutralisieren, mit 4711 verfeinert wurde. Brumlik ist von dieser Mischung so angetan, dass er von einem „nicht immer systematisch gehaltenen, aus autobiografischen Erinnerungen, moralischen Reflexionen, historischen Traktaten und religiösen Bekenntnissen zusammengesetzten“ Text spricht, den er als „epochales Ereignis“ wertet. Epochal! Wie das „Kapital“ von Marx, die „Traumdeutung“ von Freud und Herzls „Judenstaat“. Nur ein wenig durcheinander.

Wenn man von falschen Voraussetzungen ausgeht, kommt man automatisch bei verkehrten Ergebnissen an. Burgs Prämisse, die von Brumlik nicht in Frage gestellt wird, ist die, dass Israels „Fixierung auf den Holocaust“ zu einer „heillosen Verkennung der Realität“ führt und das Land „letztlich unfähig zum Frieden macht“. Nun weiß inzwischen selbst jeder Dortmunder Rentner, der den Genitiv vom Dativ nicht unterscheiden kann, dass Israel irgendwie irgendwas mit dem Holocaust zu tun hat. Zum Beispiel, dass es einen Shoah-Gedenktag gibt, an dem eine Minute lang der öffentliche Verkehr zum Stillstand kommt – zur Erinnerung an die Opfer der Endlösung. Schwer zu erklären, was daran auszusetzen wäre. Im Übrigen ist Israel weit weniger auf den Holocaust „fixiert“ als beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland, wo beinahe alles, vom Einsatz der Bundeswehr im ehemaligen Jugoslawien bis zu der Käfighaltung von Hühnern, vor dem Hintergrund des Holocaust debattiert wird. Die Israelis dagegen haben genügend aktuelle und substanzielle Probleme, um sich nicht täglich mit dem Völkermord von gestern beschäftigen zu müssen; es reicht ihnen, die Drohungen des iranischen Präsidenten ernst zu nehmen, die im holocaustbegeisterten Deutschland als „Übersetzungsfehler“ verharmlost werden. Was man wiederum auf zweierlei Weise erklären kann. Entweder wollen die Deutschen, berauscht vom eigenen „Sündenstolz“ (Hermann Lübbe), ihr Copyright mit niemand teilen, oder sie hoffen, dass irgendein Irrer den Job zu Ende bringen wird, den die Nazis unvollendet abbrechen mussten.

So ’rum oder so ’rum: Burg liegt mit seiner Analyse jedenfalls so daneben wie ein Abstinenzler, der überall Alkohol riecht. Er ist auf den Holocaust fixiert, ebenso wie Brumlik, der keine Gelegenheit verpasst, über die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft des Holocaust zu dozieren. Darüber hinaus suggeriert Burg – und sein Nachkoster Brumlik schließt sich ihm an –, dass Israels Unfähigkeit zum Frieden für die Situation im Nahen Osten verantwortlich ist, während die Hamas, die Hizbollah und der iranische Präsident ein Friedensangebot nach dem anderen unterbreiten, die Israel in „heilloser Verkennung der Realität“ nicht annehmen mag.

Was Brumlik in diesem Zusammenhang vollkommen unter den Tisch fallen lässt, ist die Tatsache, dass Avraham Burg nicht nur der Sohn von Josef Burg, sondern der Lafontaine der Israelis ist: ein von Rachegelüsten angetriebener, rhetorisch begabter und streckenweise unterhaltsamer Querulant, der es dem Land so heimzahlen möchte wie Oskar der SPD. Auch Burg hatte es relativ weit gebracht; er war Sprecher der Knesset und Chef der Jewish Agency. Dass er plötzlich zum „Zionismuskritiker“ mutierte, hatte mehr private als politische Gründe. Es sei ihm nicht gelungen, so wird in Israel erzählt, seine politischen Positionen in wirtschaftlichen Erfolg umzusetzen. Man habe ihm nicht einmal einen Dienstwagen auf Lebenszeit geben wollen. Und so zog er nach Frankreich und gab jedem Israeli den Rat, seinem Beispiel zu folgen. Es ist also nicht Burgs Absicht, wie von Brumlik kolportiert, sein „Volk, das in den letzten Jahren vom Weg abgekommen ist, wieder auf den Weg zu bringen, den seine Vorfahren und Gründer ihm geebnet haben“ – schon allein ein dermaßen präpotenter Satz müsste alle Alarmsysteme aktivieren –, es ist Avram Burg, der vom Weg abgekommen ist und wieder zurück möchte – auf dem Ticket des „kritischen Israeli“, um einen Platz am Katzentisch der „Israelkritiker“ zu bekommen, ein Prophet, der im eigenen Land nicht gehört wird.

Das ist er in der Tat, aber es gibt Propheten, die haben es nicht besser verdient.

10.11.09

Robert Riese ist tot



Traurig
und sprachlos, deshalb ohne Worte.

9.11.09

Richard Wagners Negerküsse



Daniel Barenboim dirigiert zum 9. November den „Lohengrin“ am Brandenburger Tor, und ein Herr namens Wagner findet das so toll wie sonst nur Negerküsse.

VON CHRISTIAN J. HEINRICH

Vorspiel
Jubel, Trubel, Heiterkeit
Seid zu Heiterkeit bereit
Mein Name ist Hase, ich weiß Bescheid
Wer eine schöne Stunde verschenkt
Weil er an Ärger von gestern denkt
Oder an Sorgen von morgen
Der tut mir leid
Mein Name ist Hase, ich weiß Bescheid

Trauerspiel

Allenthalben begegnet einem die Forderung, doch nicht alles gar so negativ zu sehen. Und sie hat etwas Richtiges: Das Gute an den Feierlichkeiten zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls ist beispielsweise, dass sie in wenigen Stunden vorbei sind. Und auch historisch gesehen ist das größte anzunehmende Unglück nicht eingetreten: Das Vierte Reich ist nämlich ausgeblieben.

Das real existierende Deutschland 2009 genügt aber schon. Der Schutzwall, der kein antifaschistischer war, sondern Zonenbewohner zuvörderst von kapitalismusinduziertem Konsum und demokratischen Mindeststandards abhielt, ist perdu, und mit ihm – das ist noch keine große Dialektik – auch die Versicherung gegen eine Wiederkehr deutscher Normalität. Nicht der blanke Wahn des Nationalsozialismus, sondern seine in demokratischen Jargon verpackte Fassung wurde nach 1989 restauriert: Was dem Antisemiten früher der Jude war, ist ihm nun der Judenstaat, und beim Blick zum „Bündnispartner“ tief im Westen verstaubt nicht die Sonne, sondern der Verstand, und es grönemeyert in nunmehr gesamtdeutschem Konsens: „Du kommst als Retter in jeder Not, zeigst der Welt deinen Sheriffstern, schickst Sattelschlepper in die Nacht, bringst dich in Stellung: Oh, Amerika, du hast viel für uns getan. Oh, Amerika, tu uns das nicht an.“ Die einstige Teilung Deutschlands zwischen Ost und West ist aufgehoben; ihr folgte die zwischen Stadt und Land. Während in den Metropolen tonangebend Linke, Liberale und selbsterklärte Alternative den Islamofaschismus vor der eigenen Haustür (geografisch genauer: meist „nur“ im benachbarten Stadtbezirk) als zu respektierende kulturelle Eigenart salvieren, geht es in den Provinzen, die oft nicht allein im Osten ausländerfrei geprügelt wurden, mit der NPD sowie ihren Kamerad- und Anhängerschaften noch sehr konventionell respektive führerkompatibel zu.

Und doch, ob linker Metropolenbürger oder sein rechtes Pendant in der Provinz: Es gibt sie, die „innere Einheit“ zwischen Stadt und Land; sie entspringt dem gemeinsamen Wunsch nach Normalität, nach der Möglichkeit, sich mit Deutschland vorbehaltlos identifizieren zu können. Was zu diesem Behufe dem gemeinen Volk die Fußball-Nationalmannschaft und die schwarzrotgoldene Gesichtsbemalung, das ist dem Kulturmenschen – und für einen solchen hält sich der Deutsche gern – die klassische Musik, in concreto die romantische. Denn in ihr kann man sich so herrlich vergessen und mit sich selbst auch die Vergangenheit; die Kunst wird zum Instrument der Erlösung. Schon der deutsche Tonsetzer Richard Wagner sah die Erlösung „im sinnlich gegenwärtigen Kunstwerke“ (siehe: „Die kunstwidrige Gestaltung des Lebens der Gegenwart“). Aus diesen programmatischen Gründen darf sein „Lohengrin“ nicht fehlen, wenn am 9. November 2009 zum „Fest der Freiheit“ am Brandenburger Tor Daniel Barenboim mit seiner Staatskapelle aufspielt.

Gottfried Wagner, Urenkel des Komponisten und ob seiner kritischen Haltung gegenüber den wagnerschen Verstrickungen in Antisemitismus und Nationalsozialismus der Paria der Familie, findet es dagegen „absolut unpassend“, wenn „diese chauvinistische Kriegsaufputschmusik des militanten Antisemiten Wagner“ mit seinen „Blut-und-Boden-Reminiszenzen“ dort erklingt. Und er hat gute Gründe. Im „Lohengrin“ nämlich ruft König Heinrich die Deutschen zur Schlacht: „Soll ich euch erst der Drangsal Kunde sagen, die deutsches Land so oft aus Osten traf? ... Nun ist es Zeit, des Reiches Ehr’ zu wahren; ob Ost, ob West, das gelte Allen gleich! Was deutsches Land heißt, stelle Kampfesschaaren, dann schmäht wohl Niemand mehr das deutsche Reich!“ So geht es durch alle Akte: „Wie fühl’ ich stolz mein Herz entbrannt, find’ ich in jedem deutschen Land so kräftig reichen Heerverband! Nun soll des Reiches Feind sich nah’n, wir wollen tapfer ihn empfah’n: aus seinem öden Ost daher soll er sich nimmer wagen mehr! Für deutsches Land das deutsche Schwert! So sei des Reiches Kraft bewährt!“ Und noch bevor Lohengrin sich von seinem Schwan wieder zum Heiligen Gral auf Burg Monsalvat führen lässt, stellt er klar: „Doch, großer König, laß mich dir weissagen: dir Reinem ist ein großer Sieg verlieh’n. Nach Deutschland sollen noch in fernsten Tagen des Ostens Horden siegreich niemals zieh’n!“ (Hier irrte Lohengrin – zum Glück.)

Dass der militante Nationalismus Richard Wagners nun ausgerechnet zum „Freiheitsfest“ am Brandenburger Tor erklingen soll, findet ein Zeitgenosse gleichen Namens gänzlich unproblematisch. Wagner Junior ist Namensvetter, Schriftsteller, Journalist und jüngst ein klein wenig bekannt geworden als der Ex-Ehemann der Frau Müller, die vor ein paar Wochen auch noch kaum jemand kannte, bis der Literaturnobelpreis das änderte. Auf der Achse des Guten hat Richard Wagner in starker Konkurrenz zu Vera Lengsfeld bereits tatkräftig zum Sonderbeauftragten für Deutschnationales sich qualifiziert und seine affirmativen Tugenden auch dieser Tage wieder unter Beweis gestellt. Denn wenn es vorm Brandenburger Tor um ein „Fest der Freiheit“ geht, dann geht es „um sie, um die Freiheit ... um die alles berührende Freiheit“ – so dichtet der Exmann der Dichterfrau seine Redundanzen. Wenn in Deutschland so von „Freiheit“ die Rede ist, meint das aber leider etwas anderes als beispielsweise in Amerika; das stellen Wagnerrichard Senior wie Junior unter Beweis. Es geht ihnen nämlich um die Freiheit, ganz deutsch sein zu dürfen, mithin nicht von Vernunft und Zweifel angekränkelt zu werden. Und deswegen passt der alte zum jungen Wagner, und beide passen zum originär deutschen Freiheitsfest.

Gottfried Wagner, für Richard Junior nur der „K-Gruppen-Wagner“ und also wegen der eigenen Geschichte wohl für eine geschichtskritische Intervention disqualifiziert, gibt mit seinem Einspruch dem Opponenten bei der Achse des Guten Gelegenheit zur publizistischen Geschichtsentsorgung: „Da das Datum mit dem der Reichspogromnacht zusammenfällt, fühlen sich die Selbsternannten von der FSK, der freiwilligen Selbstkontrolle, wieder einmal zur Mahnung aufgerufen.“ Wer heute noch wegen gestern mahnt, gilt dem Junior wohl als Ewiggestriger. Wenn im „Lohengrin“ von deutschem Land und deutschem Schwert gesungen wird, ist das nämlich kein Anlass, unruhig zu werden, und bringt allenfalls „den Kreislauf des Verfassungsmützenpatrioten in Gang“. Soll heißen: Verfassungspatrioten gelten hierzulande nicht als rechte Patrioten. Und jede Mahnung, so Richard Wagner der Jüngere, ist natürlich unsinnig. Denn „bei nüchterner Betrachtung“ vermittle dieser Schlachtgesang „nichts anderes als die Bereitschaft zur Landesverteidigung, was letzten Endes auch Auftrag der Bundeswehr ist.“ Oder der Wehrmacht, wie man es damals gesehen und auch so gesagt hat. Allein das altwagnersche Vokabular ist, so der Junior, „unserem kollektiven Ohr entfremdet wie der Negerkuss“. Drum neues Vokabular und alte Füllung: Zäh und süßlich wird die Nation heut’ noch gern genossen.

Den Wagnerrichards ging und geht es nicht um das, was Freiheit im liberalen Sinne heißen könnte: nicht um Zivilisiertheit durch Recht und bürgerliche Freiheit, nicht um republikanische Verfassung und demokratische Verfasstheit, sondern um Deutschland, diese Sache um ihrer selbst willen. Und darum tönt der Junior: „Gottfried, lass die Paulskirche im Dorf! Es geht um die Freiheit!“ Genauer: um das, was die Deutschen eben Freiheit dünkt. Dass die Partitur des „Lohengrin“ 1848, im Jahr der Revolution, abgeschlossen wurde, dient zwar als Vorwand, diese Oper als Freiheitsstück zu deklarieren. Doch wirft dies allenfalls ein Schlaglicht auf die nationalistischen Tendenzen der Revolution, die die bürgerlich-demokratischen begleiteten und in der späteren Geschichte ganz in den Schatten stellten. Es gehört eben zur intergenerationellen wagnerschen Logik, die Paulskirche aufs Dorf zu verbannen.

Und dabei ist Daniel Barenboim behilflich. Der nämlich ist noch für jede politische Dummheit dumm genug (und darum der gute Jude der Deutschen) – ob er zum Sommer der Staatsantifa 2001 den Soundtrack des „besseren Deutschlands“ lieferte, ob er mit seinem West-Eastern-Divan-Orchester den Frieden gegen Israel herbeimusizieren will oder ob er nun mit reichsdeutschem Getöse am Brandenburger Tor reüssiert. Neben Wagner Senior wird es dort noch etwas Beethoven geben und – so viel Zugeständnis an die gedenkpolitische Konvention gibt es dann doch noch – den zu solchen Anlässen obligatorischen Arnold Schoenberg. Letzterer wird wie bei Barenboim gewohnt sehr kommensurabel mit viel Vibrato und Emphase zurechtdirigiert, so dass auch der „Survivor from Warsaw“ neben dem Tonsetzer Wagner nicht allzu verstörend wirkt. Das wird dann auch der Richard Junior ertragen können. Und nächstes Jahr, wenn zum 3. Oktober wieder ein rundes Jubeldatum ansteht, wird dann vielleicht auch Schoenberg entsorgt. Dann gibt’s Hans Pfitzners „Von deutscher Seele“, dann soll endlich Schluss sein mit geschichtspolitischer Zerknirschtheit und undeutscher Kakophonie.

Nachspiel
Das Publikum war heute wieder wundervoll
Und traurig klingt der Schlussakkord in Moll
Wir sagen Dankeschön
Und auf Wiederseh’n
Schau’n sie bald wieder rein
Denn etwas Schau muss sein
Und heißt es Bühne frei
Dann sind Sie mit dabei
Die Schau muss weitergeh’n
Auf Wiederseh’n

Zum Foto: „Was deutsches Land heißt, stelle Kampfesschaaren, dann schmäht wohl Niemand mehr das deutsche Reich!“ Premiere von „Lohengrin“ unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, April 2009.

3.11.09

Kauft nicht beim Siedler!



Wenn keine Überraschung mehr geschieht, wird der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf Antrag einer deutschen Behörde in Kürze eine explizit politische Entscheidung treffen und durch ein Urteil die israelischen Siedlungen in den umstrittenen Gebieten für illegal erklären sowie de facto Sanktionen gegen Israel verhängen.

Anlass für den bevorstehenden Entschluss des EuGH ist ein Antrag der deutschen Firma Brita GmbH auf Erstattung von Einfuhrgebühren in Höhe von 19.155,46 Euro. Diese Summe hatte der Hamburger Zoll kassiert, als das Unternehmen eine Ladung Sprudelgeräte des israelischen Herstellers Soda Club importiert hatte. Darüber wunderte man sich bei Brita, denn die Einfuhr israelischer Güter in die Europäische Union ist nach einem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem jüdischen Staat vom November 1995 zollfrei. Das Hauptzollamt Hamburg-Hafen wollte dennoch von der zuständigen israelischen Zollbehörde ganz genau wissen, wo die Waren produziert wurden, und begnügte sich nicht mit der wahrheitsgemäßen Antwort, sie stammten aus einem „Gebiet unter israelischer Zollverwaltung“. Da Soda Club seine Erzeugnisse in der östlich von Jerusalem gelegenen israelischen Siedlung Ma’ale Adumim herstellen lässt, befanden die deutschen Beamten schließlich kraft souveräner Willkür, die Deklaration „Made in Israel“ sei unzutreffend, und belegten den Import mit einem Zoll.

Dagegen klagte Brita vor dem Finanzgericht Hamburg, das seinerseits – da die Angelegenheit unter das Europarecht fällt – den EuGH um eine so genannte Vorabentscheidung bat. Diese Entscheidung ist zwar noch nicht getroffen worden; am vergangenen Donnerstag veröffentlichte der EuGH-Generalanwalt Yves Bot jedoch seinen Schlussantrag, und diesen Plädoyers folgen die Luxemburger Richter in aller Regel. Bot bestätigte in seinen Ausführungen dem deutschen Zoll, richtig gehandelt zu haben, als er Abgaben für die Einfuhr der Sodageräte nahm. Er wolle daran erinnern, verlautbarte Bot, „dass die Grenzen Israels durch den Teilungsplan für Palästina festgelegt wurden, der am 29. November 1947 von den Vereinten Nationen angenommen wurde“. Nach diesem Plan seien „die Gebiete Westjordanland und Gazastreifen kein Teil des Gebiets Israels“; dort erzeugte Güter fielen daher nicht unter das Freihandelsabkommen zwischen der EG und dem jüdischen Staat. Auch auf das europäische Abkommen mit der PLO aus dem Jahr 1997 könne sich Brita nicht berufen, denn dazu hätten die palästinensischen Behörden den Ursprungsnachweis unterzeichnen müssen.

Sollte der EuGH erwartungsgemäß seinem Generalanwalt folgen, träfe er damit auf den Antrag einer deutschen Behörde hin eine originär politische und für alle EU-Staaten verbindliche Entscheidung: Er würde israelische Siedlungen in den umstrittenen Gebieten durchweg für illegal erklären, durch die Zollerhebung faktisch Sanktionsmaßnahmen gegen Israel ergreifen und damit ein Exempel statuieren, das für Israel weit reichende Folgen hätte – sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht; schließlich ist die EU für den jüdischen Staat nach den USA der zweitgrößte Absatzmarkt. Die vormalige schwarz-rote Bundesregierung hatte das Vorgehen des Hamburger Zollamts ausdrücklich begrüßt: Eine Zollbefreiung für „Waren aus den besetzten Gebieten“ könne es nicht geben, hieß es Anfang Juni in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag. An dieser Sichtweise dürfte sich auch unter der schwarz-gelben Koalition nichts ändern. „Während die US-Regierung bislang nur rhetorisch Druck auf die israelische Siedlungspolitik ausübt, traut sich die EU bereits einen Schritt weiter“, frohlockte denn auch Christoph Schult auf Spiegel-Online.

Dass der EuGH-Generalanwalt den Teilungsbeschluss der Uno aus dem Jahr 1947 zur Grundlage seines Antrags machte, entbehrt übrigens nicht einer gewissen Pikanterie – und das nicht nur deshalb, weil die arabischen Staaten ihn bekanntlich rundweg ablehnten. Vielmehr könnten auf dieser Basis künftig auch Produkte aus anderen Orten des heutigen Israel nicht mehr zollfrei nach Europa eingeführt werden, beispielsweise wenn sie aus Akko, Nahariya oder dem Süden von Tel Aviv stammen, die im Teilungsplan einem prospektiven arabischen Staat zugerechnet worden waren. Womöglich sollte man den Generalanwalt auch an die Konferenz von Khartum aus dem Jahr 1967 erinnern, auf der die arabischen Staaten nicht nur das israelische Angebot ausschlugen, über die Rückgabe der im Sechstagekrieg von Israel eroberten Gebiete zu verhandeln – die zuvor von Jordanien (Westjordanland) respektive Ägypten (Gazastreifen) widerrechtlich besetzt waren –, sondern darüber hinaus ihr berühmt gewordenes „dreifachen Nein“ verkündeten: Nein zum Frieden mit Israel, nein zur Anerkennung Israels, nein zu Verhandlungen mit Israel.

Und schließlich ist es bemerkenswert, dass sowohl das Hauptzollamt Hamburg-Hafen als auch der EuGH-Generalanwalt mit der Entscheidung, Produkten aus den umstrittenen Gebieten die Zollfreiheit zu verweigern, sich faktisch die alte Position des berüchtigten Muftis von Jerusalem zu Eigen machten: Keinen Quadratzentimeter des heiligen muslimischen Bodens für einen souveränen jüdischen Staat. Denn die inzwischen rund 40.000 Einwohner zählende Stadt Ma’ale Adumim, der Sitz des Unternehmens Soda Club, gehört zu den wenigen israelischen Siedlungen, die sowohl nach dem Friedensplan des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton vom Dezember 2000 als auch nach den Vorstellungen der nicht nur hierzulande so euphorisch begrüßten Genfer Initiative bestehen bleiben und dem israelischen Kernland angegliedert werden sollten – im Austausch gegen den Palästinensern zu überantwortende israelische Ländereien nahe dem Gazastreifen und im südlichen Westjordanland. Dass es zu diesem Tausch bis heute nicht kam, liegt daran, dass die palästinensische Seite noch jede Friedensverhandlung torpedierte und neuerlich zum Terror griff – nötigenfalls im allerletzten Moment.

Das wird nun auch noch belohnt – von einer deutschen Zollbehörde (mit Billigung der Bundesregierung) und aller Voraussicht nach zudem vom Europäischen Gerichtshof. Wenn es nicht so schrecklich hilflos wäre, müsste man glatt geneigt sein, diesen „Kauft nicht beim Juden aus den Siedlungen“-Aufruf mit einem massenhaften Erwerb von Sprudelgeräten der Firma Soda Club zu beantworten und dem Mineralwasser europäischer Provenienz vollständig zu entsagen. In jedem Fall braucht’s aber ein Gläschen Yarden-Wein vom israelischen Golan zur Beruhigung der Nerven. Le chaim!