22.9.09

Verpolizeihung!



Dokumentation eines Schreibens des Berliner Polizeipräsidenten Dieter Glietsch an die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Lala Süsskind, vom 18. September 2009 (zu den Hintergründen siehe den Beitrag Skandal im Sperrbezirk auf diesem Weblog)
Sehr geehrte Frau Süsskind,

für das Gespräch, das ich am 17. September 2009 mit Ihnen und weiteren Vertretern der Jüdischen Gemeinde zu Berlin über Ihre Erfahrungen mit der Polizei während der Kundgebung „Protest gegen den Al-Quds-Tag“ am 12. September 2009 führen konnte, darf ich Ihnen noch einmal herzlich danken. Es hat mir geholfen, die mir in den vergangenen Tagen bekannt gewordene Kritik an den polizeilichen Maßnahmen heute in einem intensiven Gespräch gemeinsam mit dem für den Einsatz verantwortlichen Polizeiführer zu bewerten.

Ohne auf alle Einzelheiten einzugehen, kann ich das Ergebnis wie folgt zusammenfassen:

Die Kritik ist berechtigt. In dem Bestreben, in beiden Aufzügen möglichst alles zu unterbinden, was auf der jeweils anderen Seite als Provokation empfunden werden oder zur Emotionalisierung beitragen könnte, hat die Polizei zu stark in das Recht der Kundgebungsteilnehmer auf Versammlungsfreiheit eingegriffen.

Beschränkende Verfügungen oder Absprachen mit Versammlungsleitern, die die Verwendung nichtdeutscher Sprachen bei Versammlungen reglementieren, werden der Bedeutung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit für den freiheitlichen Rechtsstaat nicht gerecht. Deshalb werden entsprechende Verfügungen oder Absprachen in Zukunft unterbleiben.

Die Polizei wird bei Bedarf die Dienste vereidigter Dolmetscher in Anspruch nehmen.

Die Sicherstellung von Transparenten und Fahnen mit englischer bzw. hebräischer Beschriftung hätte nicht erfolgen dürfen. Dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kundgebung, die erfolglos gegen diese Maßnahmen protestiert haben oder die Kundgebung an der Absperrlinie verlassen wollten, über den Ton der einschreitenden Beamten Klage führen, kann ich ebenfalls nur mit Bedauern zur Kenntnis nehmen.

Es tut mir leid, dass bei den Kundgebungsteilnehmern der Eindruck entstanden ist, die Polizei messe mit zweierlei Maß und schreite gegen Regelverstöße in dem Aufzug „Jerusalem-Quds-Tag“ nicht konsequent ein. Das mir übergebene Bildmaterial hat mich veranlasst, Strafermittlungen wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz (Ordner mit Hisbollah-T-Shirt) und wegen Verstoßes gegen § 86a StGB (Zeigen des Hitlergrußes) einleiten zu lassen. Ich gehe davon aus, dass diese Sachverhalte von den eingesetzten Beamten nicht wahrgenommen wurden.

Die Strafanzeige gegen eine Teilnehmerin der Kundgebung „Protest gegen den Al-Quds-Tag“ wegen Verdachts eines Verstoßes gegen das Vermummungsverbot wird von der zuständigen Fachdienststelle des Landeskriminalamtes mit der Bewertung „keine Straftat“ ohne weitere Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft abgegeben, die das Verfahren m.E. einstellen wird.

Sehr geehrte Frau Süsskind, ich kann die Empörung in der Jüdischen Gemeinde gut verstehen und bitte Sie, meine Entschuldigung, die ich auch im Namen des für den Einsatz verantwortlichen Polizeiführers ausspreche, zu akzeptieren. Sie können sicher sein, dass in meiner Behörde eine intensive Nachbereitung stattfinden wird und Wiederholungen nicht zu befürchten sind.

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Glietsch
Polizeipräsident

Zum Foto: Die Polizei durchwühlt die Taschen der Teilnehmer an der Kundgebung gegen den „Al-Quds-Tag“, bevor sie sie in das hermetisch abgeriegelte Areal lässt. Berlin, 12. September 2009. © bjk/Politik-Magazin

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21.9.09

Laudator? Si!



Bundespräsident Horst Köhler wusste ganz genau, auf wen er da am vergangenen Freitag seine Laudatio hielt: „Den meisten ist er als Autor seiner millionenfach verkauften Kriminalromane bekannt. Dabei umfasst sein künstlerisches Schaffen auch andere Genres. Wussten Sie, dass er Kinderbücher geschrieben hat, auch als Dramaturg tätig war? Man könnte sehr viel über sein künstlerisches Gesamtwerk sagen.“ Doch Köhler (Foto, links) verzichtete darauf und beschränkte sich stattdessen auf das „Afrika-Werk“ von Henning Mankell, als dieser (Foto, rechts) in Osnabrück mit dem „Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis“ ausgezeichnet und mit satten 25.000 Euro belohnt wurde. Da Köhler aber nicht dümmer ist, als Kommissar Wallander erlaubt, sondern im Gegenteil ein sehr belesener Mann, dürfte ihm auch ein anderer Bestandteil von Mankells „künstlerischem Gesamtwerk“ bekannt sein, nämlich der Kampf des schwedischen Schriftstellers gegen Israel. Erst kürzlich, im Juni dieses Jahres, hatte Mankell sich im Rahmen einer Nahostreise unzweideutig über den jüdischen Staat geäußert:
„Das, was wir jetzt erleben, ist eine Wiederholung des verächtlichen Apartheidsystems, das einst die Afrikaner und Farbige als Bürger zweiter Klasse in ihrem eigenen Land behandelte. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass dieses Apartheidsystem nicht mehr existiert. Es wurde Anfang der 1990er Jahre durch menschliche Kraft auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Es geht eine direkte Linie zwischen Soweto, Sharpeville und dem, was kürzlich in Gaza geschah. [...] Ist es verwunderlich, dass ein Teil [der Palästinenser] desperat ist, wenn sie keinerlei Ausweg aus diesem Leben sehen, dass sie sich entscheiden, sich in einen Selbstmordbomber zu verwandeln? Wohl kaum, oder? Verwunderlich ist nur, dass es nicht mehr tun. [...] 1948, als ich geboren wurde, erklärte Israel seine Unabhängigkeit auf besetztem Gebiet. Es gibt keinerlei Gründe dafür, dass dies eine völkerrechtlich legitime Handlung war. Man besetzte ganz einfach palästinensisches Land. [...] Eine Zwei-Staaten-Lösung bedeutet nicht, dass die historische Besatzung aufgehoben wird. Israel wird es genauso ergehen wie Südafrika unter der Apartheid. Die Frage ist nur, ob die Israelis Vernunft annehmen und freiwillig einer Abwicklung des Apartheidstaates zustimmen werden. Oder ob es zwangsweise geschehen wird. [...] Wenn Veränderungen kommen, wird es vom einzelnen Israeli abhängen, ob er oder sie bereit ist, auf seine Privilegien zu verzichten und in einem palästinensischen Staat zu leben. Ich stieß auf meiner Reise auf keinen Antisemitismus, aber auf einen normalen Hass auf die Besatzer. [...] Die Israelis vernichten Leben. Aber sie können nicht die Träume zerstören. Der Untergang dieses verächtlichen Apartheidsystems ist das einzig denkbare Resultat, da es notwendig ist. Die Frage lautet also nicht, ob, sondern wann es geschieht. Und natürlich auch, auf welche Weise.“
Es ist müßig, hier die kaum verhohlenen Vernichtungsfantasien dieses überzeugten Antisemiten zu kommentieren; das haben andere bereits ausführlich und kompetent getan, beispielsweise Ingo Way und Gerd Buurmann. Noch müßiger ist es, die für die Vergabe des „Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises“ Verantwortlichen im Provinznest Osnabrück zur Einsicht bringen zu wollen. Denn bereits mit den Ehrungen der „Israelkritiker“ Tony Judt (2007) und Uri Avnery (1995) haben sie gezeigt, was sie sich unter einem preisverdächtigen Einsatz für „Frieden, Abrüstung, Entspannung, Menschenrechte und Freiheitsrechte“ vorstellen. Allemal von Interesse ist jedoch, dass der Bundespräsident den Laudator für einen glühenden Israelhasser gegeben hat – denn er kann sich nicht darauf zurückziehen, nur einen speziellen Teil von Mankells Schaffen gewürdigt haben zu wollen. Schließlich hat er selbst lobend vom „künstlerischen Gesamtwerk“ des Geehrten geschwärmt, und ganz abgesehen davon würde man ja auch keinem Nazi (mehr) einen Orden umhängen, weil der sich so rührend um den deutschen Sport kümmert, wenn er gerade mal nicht gegen Juden zu Felde zieht. Oder etwa doch?

Was hatte Horst Köhler über seinen Staatssekretär noch gleich Arno Hamburger ausrichten lassen, nachdem dieser sein Bundesverdienstkreuz zurückgegeben hatte, weil er nicht damit einverstanden war, dass auch einer Israelhasserin wie Felicia Langer diese Ehrung zuteil wurde? Dies: „Die von Ihnen kritisierte Auszeichnung hat die Gefühle von Menschen verletzt, an deren Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit es keinen Zweifel geben kann. Das ist unendlich bedauerlich. Es war von keiner der an dem Ordensverfahren beteiligten Stellen des Bundes und des Landes gewollt. [...] Alle sind vielmehr zutiefst bekümmert und wünschten, die Verwerfungen ließen sich ungeschehen machen. Dafür fehlt jedoch die Grundlage.“ Und weiter: „Die Solidarität Deutschlands mit Israel und dem jüdischen Volk ist unwandelbar, und der Bundespräsident steht für diese Solidarität.“ Diese Zeilen waren so nebulös formuliert, dass man in ihnen sowohl das Eingeständnis eines Fehlers sehen konnte als auch eine allgemeine Sturzbetroffenheit darüber, dass es überhaupt zu einem Streit gekommen war. Konsequenzen gab es jedenfalls keine – es fehlte ja „die Grundlage“.

Dass der Bundespräsident nun neuerlich einen Feind des jüdischen Staates geehrt hat, macht deutlich, dass das Schreiben seines Staatssekretärs an Arno Hamburger letztlich nicht mehr war als der Versuch, die ganze Angelegenheit staatstragend herunterzukochen. Da war viel die Rede von „Verwerfungen“ und „verletzten Gefühlen“, so, als ginge es um einen Ehekrach und nicht um Antisemitismus. Wie es um die „Solidarität Deutschlands mit Israel und dem jüdischen Volk“ bestellt ist, zeigt die Bereitschaft Köhlers, das Hohelied auf einen Autor zu singen, der Israel lieber heute als morgen auf den „Müllhaufen der Geschichte“ entsorgen, das heißt vernichten (lassen) würde. Mag sein, dass es nicht Mankells Antisemitismus war, der den Ausschlag für die Verleihung des diesjährigen „Friedenspreises“ inklusive einer Laudatio des Bundespräsidenten gab. Aber er hat ihr auch nicht im Weg gestanden. Und das ist so bezeichnend wie übel genug.

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15.9.09

Skandal im Sperrbezirk



Im Januar stürmte die Polizei die Wohnung eines 25jährigen Studenten und seiner Freundin in Duisburg und entfernte unter dem Gejohle von mehreren tausend israelfeindlichen Demonstranten zwei am Balkon und an einem Fenster befestigte Israelflaggen. Vor wenigen Tagen wurde eine 30jährige Studentin in Bochum zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie durch das Zeigen einer israelischen Flagge die Teilnehmer einer antiisraelischen Demonstration „provoziert“, eine „gefährliche Situation“ geschaffen und gegen das Versammlungsgesetz verstoßen haben soll. Nun gibt es einen neuerlichen Tiefpunkt: Am vergangenen Samstag verbot die Polizei den Teilnehmern einer Kundgebung gegen den „Al-Quds“-Aufmarsch von Islamisten und Neonazis unter anderem das Zeigen einer Flagge mit einem hebräischen Schriftzug sowie das Abspielen israelischer Musik – „um die Eskalationsgefahr einzudämmen“, wie ein Polizeisprecher sagte.

Islamistische Organisationen mobilisieren seit 1979 jedes Jahr zum Ende des Fastenmonats Ramadan weltweit zu „Al-Quds“-Aktivitäten. Dabei beziehen sie sich auf einen Aufruf des damaligen iranischen „Revolutionsführers“ Ayatollah Khomeini, der seine Anhänger zur „Befreiung“ Jerusalems und zur Vernichtung Israels aufgefordert hatte. In Berlin kommt es seit 1996 zu „Al-Quds“-Demonstrationen, auf denen unverhohlen die „Zerstörung des zionistischen Staates“ gefordert wird und antisemitische Slogans skandiert werden. Zur diesjährigen Manifestation in der deutschen Hauptstadt hatte neben verschiedenen islamistischen Vereinigungen auch die neonazistische „Deutsche Volksunion“ (DVU) aufgerufen. Die überwiegend muslimischen Teilnehmer riefen Parolen wie „Tod Israel“ und „Kindermörder Israel“ und zeigten Fahnen der antisemitischen Hizbollah sowie Porträts des Hizbollah-Führers Hassan Nasrallah.

Seit einigen Jahren werden Bündnisse jüdischer und nichtjüdischer Organisationen gegen diese antisemitischen Aufzüge am „Al-Quds-Tag“ aktiv. Diesmal waren sie jedoch massiven Einschränkungen ausgesetzt: Ihre Kundgebung fand in einem mit Gittern abgesperrten Areal statt, das Arvid Vormann auf dem Internetportal Free Iran Now! als „eine Art Kaninchenstall“ beschrieb. Die Teilnehmer seien zudem peniblen und teilweise rabiaten Kontrollen ihrer Taschen und Rucksäcke ausgesetzt gewesen. Und damit nicht genug: Verschiedenen Berichten zufolge verweigerte die Polizei einem Teilnehmer, eine Jerusalem-Fahne zu zeigen, auf die der Name der israelischen Hauptstadt in hebräischen Buchstaben aufgestickt war. Zudem durften keine Lieder mit hebräischen und englischen Texten abgespielt werden; ihre vorbereitete CD mussten die Organisatoren der Kundgebung deshalb wieder einpacken. Darüber hinaus durfte ein Transparent des BAK Shalom, auf dem in englischer Sprache der Niedergang des iranischen Mullah-Regimes gefordert wurde, nicht verwendet werden. Und von einem Plakat, auf dem zur Freilassung des von der Hamas festgehaltenen israelischen Soldaten Gilad Shalit aufgerufen wurde, mussten auf Geheiß der Einsatzkräfte zwei englischsprachige Sätze entfernt werden.

Thomas Neuendorf, ein Sprecher der Berliner Polizei, bestätigte das Vorgehen der Beamten auf telefonische Anfrage von Lizas Welt. „In den vergangenen Jahren hat der ‚Al-Quds-Tag’ auf beiden Seiten zu einer verstärkten Emotionalisierung geführt“, sagte er. Man habe deshalb „die Eskalationsgefahr eindämmen“ wollen und sei sowohl mit den Verantwortlichen der „Al-Quds“-Demonstration als auch mit den Organisatoren der Gegenkundgebung in Kooperationsgesprächen „übereingekommen, dass es Reden, Transparente und Musik ausschließlich in deutscher Sprache geben darf“. Auf diese Weise habe man „auf beiden Seiten“ verhindern wollen, „dass strafbare Inhalte verbreitet werden, die wir nicht verstehen“. Lediglich zwei Ausnahmen seien zugelassen worden: Auf der „Al-Quds“-Demonstration habe ein Imam Koranverse rezitieren können, „wobei ein von uns gestellter Dolmetscher darauf geachtet hat, dass er nichts Verbotenes sagt“. Der Gegenkundgebung sei dafür genehmigt worden, die israelische Nationalhymne mit hebräischem Text abzuspielen. Zu den „Tod Israel“- und „Kindermörder Israel“-Rufen, den Hizbollah-Fahnen und Nasrallah-Porträts sagte Neuendorf: „Da sind uns die Hände gebunden: Die Parolen sind gerade noch vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt, und die Hizbollah ist in Deutschland nun mal nicht verboten.“

Die Berliner Polizei stellt also einen israelfeindlichen, antisemitischen Aufmarsch auf die gleiche Stufe wie den demokratischen Protest dagegen; sie verbucht beides unter der schlichten Kategorie „verstärkte Emotionalisierung“ und unterstellt denjenigen, die sich gegen Israel- und Judenhass zur Wehr setzen, faktisch das gleiche Eskalationsbedürfnis, ja, den gleichen Fanatismus wie den Israel- und Judenhassern. Derlei befremdliche Äquidistanz ist hierzulande zwar nichts Ungewöhnliches; neu in der deutschen Nachkriegsgeschichte dürfte hingegen sein, dass gegenüber den Teilnehmern einer Kundgebung ein Hebräisch- und Englischverbot ausgesprochen wird. Dabei konnte Polizeisprecher Neuendorf auf Nachfrage keinerlei Beispiele für hebräische Parolen oder israelische Musikstücke nennen, durch die in der Vergangenheit zu Straftaten aufgerufen wurde. Auch konnte er nicht sagen, wann von einer Kundgebung gegen Antisemitismus und für Israel schon einmal Gewalt gegen Islamisten ausgegangen sein soll, wie sie umgekehrt schon häufiger zu beklagen war.

Dass die Verantwortlichen für die Gegenkundgebung das während der Vorbesprechung mit der Polizei angeblich verkündete Deutschgebot tatsächlich akzeptiert haben sollen, erscheint außerdem zumindest zweifelhaft. Auf telefonische Nachfrage von Lizas Welt widersprach der Anmelder und Leiter der Kundgebung, Jörg Fischer-Aharon vom Bildungswerk haKadima, dann auch entschieden: „Das Hebräisch- und Englischverbot wurde uns erst kurz vor dem Beginn der Veranstaltung mündlich mitgeteilt“, sagte er. Während des Kooperationsgesprächs vor rund drei Wochen habe die Polizei lediglich beiläufig gefragt, ob Redebeiträge in hebräischer Sprache geplant seien. „Das habe ich verneint, daraufhin war das Thema erledigt“, berichtete Fischer-Aharon. In einem Telefonat vor etwa eineinhalb Wochen habe er der Polizei dennoch vorsichtshalber angekündigt, dass während der Gegenkundgebung israelische und englische Musik gespielt werden soll – wie schon, gänzlich unbeanstandet, während einer pro-israelischen Demonstration in Berlin im Januar. „Das sei auch diesmal kein Problem, bekam ich zur Antwort; man werde aber für alle Fälle einen Dolmetscher vorbeischicken.“ Von den plötzlichen Auflagen sei man deshalb vollkommen überrumpelt worden. „Wären sie vorher schon festgelegt worden, hätten wir mit Sicherheit Rechtsmittel dagegen eingelegt. Aber ich habe bis heute nichts Schriftliches von der Polizei bekommen. Das öffnet der Willkür natürlich Tür und Tor.“

Fischer-Aharon ist immer noch empört über das Vorgehen der Ordnungshüter: „Das ist ein historischer Tag, aber ein trauriger: Die Berliner Polizei untersagt tatsächlich das Zeigen der Jerusalem-Fahne und das Abspielen jüdischer Musik.“ Die Einsatzleitung habe sogar damit gedroht, „die Lautsprecheranlage zu beschlagnahmen, sollte auch nur ein Lied in hebräischer Sprache abgespielt werden“. Den Islamisten gegenüber sei sie deutlich zurückhaltender gewesen: „Da durften nicht nur Parolen in arabischer Sprache gerufen werden, sondern es konnte sogar ein Demo-Ordner den Hitlergruß in unsere Richtung zeigen [Foto oben], ohne dass die in der Nähe stehenden Polizisten eingegriffen hätten.“ Eigenartig findet Fischer-Aharon auch die Festnahme einer Teilnehmerin der Gegenkundgebung wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot: „Sie hatte eine Kapuze auf dem Kopf und trug eine Sonnenbrille. Das war wohl schon zu viel für die Polizei. Bei den Islamisten hingegen konnten Frauen in einer Burka mitlaufen, ohne dass das beanstandet worden wäre.“ Zudem sei mehreren Menschen ohne Angabe von Gründen die Teilnahme an der Gegenkundgebung verweigert worden, und Alexander Brenner, den ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlins, sowie den Rabbiner Ben Chorim habe die Polizei am Verlassen der Veranstaltung gehindert. „Offensichtlich“, so Fischer-Aharon, „dienten die Gitter nicht der Absperrung, sondern dem Einsperren der Kundgebungsteilnehmer“.

Mag die Bundeskanzlerin auch betonen, die Solidarität mit Israel sei ein „Teil der deutschen Staatsräson“, mag der Bundestag eigens eine Antisemitismuskommission beschäftigen, und mögen Politiker aller Parteien beteuern, ihnen sei der Kampf gegen den Judenhass eine Herzensangelegenheit: Das alles ist nichts als Wortgeklimper, wenn die Feinde der Juden im Allgemeinen und des jüdischen Staates im Besonderen freie Fahrt bekommen, aktive Gegner des Israel- und Judenhasses jedoch mit polizeilichen und juristischen Mitteln drangsaliert werden. 64 Jahre nach Auschwitz sorgen im Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“ die Erben der Firmen Himmler und Freisler dafür, dass sich nur ja kein Antisemit von jüdischen Symbolen, hebräischen Schriftzeichen und israelischen Liedern provoziert fühlen muss, während antisemitische Aufmärsche trotz unmissverständlicher Vernichtungsdrohungen gegenüber Israel und eindeutig judenfeindlicher Sprechchöre unbeanstandet bleiben, wenn sie in den Medien nicht gar als „Friedensdemonstrationen“ gehandelt werden, wie Anfang dieses Jahres geschehen. Doch all dies taugt in Deutschland nicht zum Skandal. Denn der größte Skandal ist, dass es keinen gibt, weil derlei außer den üblichen Verdächtigen niemanden aufregt.

Foto: © Holger Raak/haOlam.de

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9.9.09

Mutter, hol mich vonne Zeche!



Das Bochumer Amtsgericht hat am heutigen Mittwoch eine Studentin zu einer Geldstrafe von 300 Euro verurteilt, weil sie durch das Zeigen einer israelischen Flagge die Teilnehmer einer antiisraelischen Demonstration „provoziert“, eine „gefährliche Situation“ geschaffen und gegen das Versammlungsgesetz verstoßen haben soll.

Rund 1.600 Menschen waren am 17. Januar dieses Jahres einem Aufruf von vier Bochumer Moscheegemeinden gefolgt, gegen den jüdischen Staat auf die Straße zu gehen. Sie riefen Parolen wie „Kindermörder Israel“, hielten blutverschmierte Puppen in die Luft und führten Transparente und Plakate mit sich, auf denen unter anderem „Stoppt den Holocaust in Gaza“ und „Terrorist Israel“ geschrieben stand. Eine kleine Gruppe von fünf pro-israelischen Aktivisten begegnete der Demonstration in der Bochumer Innenstadt; im Gepäck hatte sie israelische Flaggen, ein Transparent und Flugblätter. „Wir wollten damit zu einer Kundgebung in Duisburg gegen einen dort stattfindenden antiisraelischen Aufmarsch“, erklärte Katharina M.*, 30jährige Studentin der Sozialwissenschaft, gegenüber Lizas Welt. Doch als man die israelfeindliche Manifestation in Bochum gesehen habe, sei spontan der Entschluss gefasst worden, mit der Abreise nach Duisburg noch einen Moment zu warten, „kurz gegen diese antisemitische und die Shoa relativierende Täter-Opfer-Verdrehung zu protestieren und dann zum eigentlichen Ziel zu fahren“.

Also hielten M. und ihre Mitstreiter eine israelische Flagge hoch – und hatten es unmittelbar darauf nicht nur mit pöbelnden Demonstranten, sondern auch mit der Polizei zu tun. Diese wollte den Protest gegen den antisemitischen Aufzug zunächst unterbinden (Foto), akzeptierte nach einer kurzen Verhandlung dann aber das Angebot der Gruppe, offiziell eine Spontankundgebung anzumelden – die, anders als eine geplante Versammlung, nicht spätestens 48 Stunden zuvor angekündigt worden sein muss. Die Gruppe entrollte ihr Transparent, verteilte einige Flugblätter, in denen zur Solidarität mit Israel aufgerufen wurde, und beendete ihre Aktion nach kurzer Zeit wieder. „Das Ganze lief eigentlich ohne große Aufregung ab“, erinnert sich M., die die Anmeldung übernommen hatte, „und die Polizei hat sich zum Schluss sogar bei uns dafür bedankt, dass wir so kooperativ waren“. Nichts habe darauf hingedeutet, „dass unser Protest noch ein juristisches Nachspiel haben wird“.

Doch die Staatsanwaltschaft leitete ein Strafverfahren gegen Katharina M. ein; sie sah in der Tatsache, dass die Gruppe Fahnen, ein Transparent und Flugblätter dabei hatte, einen Beweis für die fehlende Spontaneität der Kundgebung. Daraufhin kam es am 1. Juli zu einer Verhandlung vor dem Bochumer Amtsgericht, die jedoch abgebrochen wurde, „weil die Staatsanwaltschaft weitere Beweise gegen uns ermitteln wollte“, wie M. berichtet. Heute wurde der Fall deshalb vollständig neu aufgerollt – und endete mit einer Verurteilung der Studentin zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen à 20 Euro. Denn das Gericht glaubte nicht, dass es sich um eine spontane Versammlung gehandelt hatte, obwohl M. bekräftigte, sich gemeinsam mit den vier anderen auf dem Weg zu einer Kundgebung nach Duisburg befunden und die Materialien aus diesem Anlass dabei gehabt zu haben. Die Staatsanwältin jedoch war sogar der Ansicht, M. und ihre Gruppe hätten die antiisraelische Demonstration mit der Israel-Fahne „provoziert“, und die Richterin hielt der Angeklagten vor: „Das war keine ungefährliche Situation, die Sie geschaffen haben.“

Der Fall erinnert stark an das scharf kritisierte Vorgehen der Polizei in Duisburg nur eine Woche vor den Ereignissen in Bochum. Damals hatten Einsatzkräfte die Wohnung eines 25jährigen Studenten und seiner Freundin in deren Abwesenheit gestürmt und unter dem Gejohle von mehreren tausend israelfeindlichen Demonstranten zwei am Balkon und an einem Fenster befestigte Israelflaggen abgehängt – zur „Gefahrenabwehr“ und „Deeskalation“, wie es seinerzeit hieß. Und jetzt soll die Studentin M. sogar 300 Euro dafür bezahlen, dass sie im Wortsinn Flagge gegen einen antisemitischen Aufmarsch gezeigt hat. „Es ist ein absolutes Unding, dass ein spontanes Eintreten gegen Antisemitismus kriminalisiert wird – und das auch noch unter Berufung auf die Gefährlichkeit einer israelfeindlichen Demonstration“, sagte sie zu Lizas Welt. Eine Provokation sei das Zeigen einer israelischen Flagge „nur für Antisemiten – und für niemanden sonst“. M. schließt nicht aus, in die Berufung zu gehen.

* Der Name wurde auf Bitte der Betroffenen geändert.

Zum Foto: „Ich habe damals gesagt: Ich will heute keinen Polizeibeamten sehen, der seine Hand an eine Israel-Fahne legt“, ließ der als Zeuge geladene Einsatzleiter der Polizei das Gericht bei der heutigen Verhandlung in Bochum wissen. Ob es wohl ein polizeiinternes Verfahren wegen Befehlsverweigerung gegeben hat? Bochum, 17. Januar 2009.


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Die verurteilte Katharina M. ist dringend auf finanzielle Unterstützung angewiesen, um ihre nicht unerheblichen Prozesskosten begleichen zu können. (Steuerabzugsfähige) Spenden werden deshalb auf das folgende Konto von WADI e.V. erbeten:

WADI e.V.
Verwendungszweck (nicht vergessen!): Bochumer Fahnenstreit
Kontonummer: 612 305 602
Kreditinstitut: Postbank Frankfurt/Main
BLZ: 500 100 60
IBAN: DE43500100600612305602
BIC: PBNKDEFF

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Eyes wide shut (II)



Zweiter und letzter Teil eines Beitrags von Christian J. Heinrich über die akademisierte Antisemitismusverharmlosung von Wolfgang Benz, Direktor des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung. (Zum ersten Teil geht es hier.)


VON CHRISTIAN J. HEINRICH

Die verfolgte Unschuld

Für Wolfgang Benz gehört Antisemitismus „in Mitteleuropa und im deutschen Sprachraum, nach Hitler zumal, zu den schwersten Vorwürfen in der politischen Auseinandersetzung“ (WiA, S. 10). Benzens Unwille, diesen Vorwurf zu erheben, wird motiviert durch seine Ablehnung der „Stigmatisierung“ von Antisemiten – auch wenn diese tatsächlich Antisemiten sind.

Als Martin Walser 1998 von der „Moralkeule Auschwitz“ sprach, habe er nur „öffentlich gemacht, was viele empfinden“, glaubt Benz. „Das Plädoyer des Literaten Walser im Herbst 1998 für die Privatisierung der Erinnerung an den Holocaust“, so trivialisiert er dessen Paulskirchenrede, habe „keineswegs zur Leugnung des Geschehens oder zur Abwertung von Schuld“ gedient. Benz sieht allenfalls „missverständliche Zungenschläge“ (WiA, S. 20f.). Auf diese Weise entmündigt der Berliner Professor den Dichter vom Bodensee: Der „Literat“ – mithin also ein Meister des Wortes – soll nicht gewusst haben, welche Worte er wählte und was diese zu bewirken vermochten? Statt hier bei Walser einen Schuldabwehrantisemitismus zu konstatieren, kritisiert Benz bei den Kritikern des Schriftstellers „das Ungefähre und Assoziative, das Gerüchteweise und den auf nicht beweisbare Vermutung gegründeten Umgang mit dem Thema Judenfeindschaft. Dazu gehört auch die Technik der Stigmatisierung, die ebenfalls in allen derartigen Debatten zu beobachten ist und sie rasch auf die Frage verengt, ob der Disput Auslösende ein Antisemit sei, was ebenso rasch Hilfstruppen auf den Plan ruft. Im Falle Walser wurde 2002 eine zweite Debatte um seinen Roman ‚Tod eines Kritikers’ inszeniert.“ (WiA, S. 22)

Dabei kontextualisiert Benz einen Terminus neu: Wenn in der Antisemitismusforschung bisher von der „Technik der Stigmatisierung“ die Rede war, so ging es um die Diskriminierung von Juden durch negative Zuschreibungen. Benz aber bezieht dies nun nicht mehr nur auf den Antisemitismus selbst, sondern auf den Antisemitismusvorwurf – und schon gilt Walser als Opfer einer dem Antisemitismus abgeschauten Technik. Statt die antisemitischen Rempeleien des Bodenseedichters gegen Marcel Reich-Ranicki als solche zu kennzeichnen, argumentiert der Antisemitismusforscher ähnlich wie andere, die vor der „Antisemitismuskeule“ warnen: Er sieht Stigmatisierungen, Hilfstruppen, inszenierte Debatten. Er sieht aber keine Antisemiten.

Unser Holocaust bleibt deutsch

Und während Walser die Zerknirschtheit der Deutschen ob der eigenen Vergangenheit beklagt, sieht Benz das Problem der Auseinandersetzung mit dem Holocaust eher in den USA. So schreibt er in jenem Duktus, den sonst ordinäre, antiamerikanische Globalisierungsgegner pflegen: „Natürlich sind Kitsch und Kommerz Nebenerscheinungen der Amerikanisierung der Erinnerung an den Holocaust. Und selbstverständlich ist die Trivialisierung des Völkermordes nach den Rezepten Hollywoods ebenso kritisch zu diskutieren wie das Gewinnstreben Einzelner, die Profit aus Katastrophen schlagen.“ (WiA, S. 143) Benz sichert seine Argumentation sodann mit jüdischen Kronzeugen ab – ein bekanntes Verfahren –, indem er formuliert, es gebe ja auch ein „immer deutlicher sich artikulierendes Unbehagen jüdischer Vertreter an der Entwicklung der ‚Holocaust Industry’“ (WiA, S. 140), wie beispielsweise „das seriös und umsichtig argumentierende Buch des amerikanischen Historikers Peter Novick“ (WiA, S. 140). Zugleich distanziert sich der ZfA-Direktor halbherzig von Norman Finkelstein, der mit „einer Mischung aus fachlicher Inkompetenz und persönlichem Geltungsdrang“ (WiA, S. 142) keinen Beitrag zu einer „seriösen Debatte“ (WiA, S. 144) geleistet habe. Benz setzt gegen Finkelstein aber weniger eine Kritik von dessen Thesen – ganz im Gegenteil –, sondern Formfragen wie die nach dessen „akademischem Außenseiterstatus“ (WiA, S. 142).

Des Institutsdirektors akademischer Insiderstatus hingegen ermöglicht es ihm, ohne Sorge um die Reputation Positionen zu äußern, die denen Finkelsteins ähneln und, etwas popularisiert, auch am deutschen Stammtisch artikuliert werden. So beispielsweise Benzens Andeutung, die Amerikaner beuteten die Shoa aus, denn „der Holocaust als Tragödie, der fernab von den USA stattfand, eignet sich als Metapher des Bösen hervorragend, Werte der amerikanischen Gesellschaft wie Optimismus, moralisches Sendungsbewusstsein, den Glauben an den Triumph des Guten zu vermitteln. Die Juden spielen immer nur die Rolle der Opfer, sie werden in diesem Zusammenhang nicht als ethnische oder religiöse Minderheit wahrgenommen.“ Als „ethnische oder religiöse Minderheit“ wurden und werden sie – da hat Benz gegen seine Intention Recht – in Deutschland immer schon und immer noch anders als in Amerika behandelt. „Die Rezeption des Holocaust in den USA dient zugleich der Heroisierung der eigenen Nation.“

Das allerdings kann man nicht adaptieren: Der Holocaust bleibt das düsterste Kapitel deutscher Geschichte, und man neidet es den USA, früher schon „auf der moralische richtigen Seite“ gewesen zu sein. Aber die deutsche Aufarbeitung des Holocaust – anders bewerkstelligt als in Filmen Hollywoods oder im Memorial Washingtons – gereicht gleichwohl zur moralisch abgesicherten postnazistischen Identitätsstiftung. Im Aufarbeiten empfindet sich Deutschland als mustergültig und übt sich als Lehrmeister, da doch die Amerikaner „Mühe mit dem Genozid auf amerikanischem Boden, der Vernichtung der indianischen Kulturen“ hätten. Dass dergleichen Invektiven tatsächlich nicht fern von Finkelsteins Positionen sind, gibt Benz durchaus zu, doch „Finkelstein vergröbert solche Überlegungen zu Verschwörungstheorien und Schuldzuweisungen“ (WiA, S. 141). Benz aber vergröbert nicht, er akademisiert den nämlichen Gedanken.

Trivialisierter Antisemitismus

Gut zweihundertfünfzig Seiten greift Benzens Darstellung Raum, Judenfeindschaft existiere zuvörderst „als Ressentiment, als innerer Vorbehalt gegen die jüdische Minderheit, als Einstellung“ (WiA, S. 7). Mit derlei Allgemeinem wird das Spezifische des Antisemitismus unkenntlich gemacht. Die beständig wiederkehrenden Vokabeln („Ressentiment“, „Vorbehalt“, „Einstellung“) sind also von ihrem terminus ad quem zu verstehen, also von dem aus, was an erkenntnisfördernder und vor allem -verhindernder Absicht hinter ihnen steht. Wenn beispielsweise fortwährend von einem „Vorbehalt“ gegen Juden die Rede ist, so handelt es sich um einen Euphemismus, der dazu taugt, die Gewaltsamkeit des Judenhasses zu verschleiern, wie sie in jeder seiner Formen angelegt ist. Dem Antisemiten nämlich – dem zivilisiert sich zurückhaltenden wie dem offen zur Tat schreitenden – geht es keineswegs um das konkrete Verhalten konkreter Juden, er zielt auf die Existenz der Juden als negatives Prinzip überhaupt. Der Wunsch, dass all jene Probleme, die falsch auf Juden projiziert werden, gelöst werden mögen, offenbart sich als Wunsch, von den Juden erlöst zu werden.

Dabei wird weder auf sich selbst noch auf das Ziel der Projektion reflektiert. Doch im Bewusstmachen und Bewusstwerden allein läge die Möglichkeit, den Wahn zu brechen. So heißt es – allerdings nicht bei Benz, sondern vielmehr bei Horkheimer und Adorno: „Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin.“ (1) So ist jede Form des Antisemitismus von der Konsequenz her gedacht eine existenzielle Drohung und keineswegs einfach ein in Unkenntnis begründetes zaghaftes Zurückweichen der Mehrheit vor der Minderheit, wie es der Terminus „Vorbehalt“ nahe legt. Spätestens seit Auschwitz ist ein Antisemitismus undenkbar, der nicht die Vernichtung der Juden in sich trägt oder billigt. Wolfgang Benz sieht in alledem gleichwohl nur einen „Vorbehalt“.

Der ZfA-Chef insinuiert einen moderaten, weniger gefährlichen Antisemitismus, der folgerichtig nicht mit wahnhaftem Judenhass, sondern mit unaufgeklärten „Vorbehalten“ bezeichnet wird. Darin begründet liegt auch seine Ankündigung, des Problems durch die pädagogische Vermittlung hinreichender Fakten Herr werden zu können. Der Antisemitismus wird der Verwaltung durch Bildung und Sozialarbeit verfügbar gemacht. Einem „Vorbehalt“ nämlich kann tatsächlich durch Aufklärung begegnet werden. Das Wahnhafte des Antisemitismus, an dem die Aufklärung seine Grenzen hat, bleibt notwendig ausgeblendet. Ist einmal nicht vom „Vorbehalt“ die Rede, so beschreibt der ZfA-Direktor Antisemitismus auch als „Animosität“ (WiA, S. 16), als „Abneigung“ (WiA, S. 82) oder als „Vorurteil“ (WiA, S. 166). Mit derlei Binsen ist keine Erkenntnis zu gewinnen, schon gar nicht vom Spezifischen des Antisemitismus. Eine solche Wissenschaft muss sich fragen lassen, warum sie sich so begriffslos gibt.

Islamischer Antisemitismus und „Israelkritik“

Die Antisemitismusforschung regrediert zur „Vorurteilsforschung“. Im Zuge dessen wird der Vergleich zwischen dem „antimuslimischen Ressentiment“ (wie es ganz offensiv in den Terminus „Islamophobie“ gefasst wird) mit dem Antisemitismus sowie die Übertragung der moralischen Emphase von den Juden auf die Muslime vorbereitet. Erhellend ist dabei das Bild, das bei Wolfgang Benz vom islamischen Antisemitismus (wenn er ihn überhaupt einmal beiläufig einräumt) gezeichnet wird: Es ist nicht die Rede von einem jahrhundertealten, tief im Islam verwurzelten Judenhass, der einen fruchtbaren Nährboden auch für die Ideen der NS-Rassentheorie darstellte, sondern allenfalls von einer „Adaption des europäischen Antisemitismus“ (WiA, S. 191). So wird der Antisemitismus als ein dem Islam eigentlich fremdes, originär europäisches Phänomen gekennzeichnet. Es sei, so Benz, „sichtbar, wie sich muslimische Judenfeindschaft, die durch das Palästinaproblem politisch generiert ist, traditioneller Stereotypen bedient und wie der ursprünglich im Nahen Osten unbekannte Rassenantisemitismus [...] adaptiert und ins islamische Weltbild integriert wurde“ (WiA, S. 190). Seine Behauptung, die „muslimische Judenfeindschaft“ sei „durch das Palästinaproblem politisch generiert“, ist eine fatale Rationalisierung: Als hätte der islamische Antisemitismus einen guten Grund, als wäre ohne diesen – heißt das: ohne Israel oder mit einer Zweistaatenlösung? – der islamische Antisemitismus nicht existent.

Wenn sich auf Europas Straßen die vorgebliche „Solidarisierung junger Muslime mit den Palästinensern“ als „israelfeindliche Propaganda“ und in „Demonstrationen bis hin zu Ausschreitungen“ äußert, so wird dabei in Benzens Verständnis „traditioneller Antisemitismus instrumentalisiert“ (WiA, S. 211). Das aber ist dem Antisemitismus noch nicht widerfahren: dass er instrumentalisiert wird. Ein solcher Antisemitismus jedoch muss Gründe haben, und so argumentiert Benz nachsichtig: „Formen der gewaltsamen Aggression sind: offen am Rande propalästinensischer Kundgebungen artikulierter Hass gegen Juden und heimtückisch durch nächtliche Anschläge agierte Wut junger islamischer Nordafrikaner, die am unteren Ende der sozialen Stufenleiter als Einwanderer ein schweres Leben haben (ein Drittel von ihnen ist arbeitslos) und ihrerseits Objekte der Ablehnung durch die französische Mehrheitsgesellschaft sind.“ (WiA, S.212) Als wären ein schweres Leben und eigene Ausgrenzungserfahrungen mildernde oder gar erklärende Umstände und hinreichend nachvollziehbare Gründe für antisemitisches Wüten!

Benzens Verständnis reicht jedoch noch weiter: „Das Mitleid mit palästinensischen Familien, die bei Aktionen der israelischen Armee ihr Hab und Gut, gar Kinder verloren haben, und die Entrüstung über den Zaun, mit dem die Sicherheitsbehörden Israels ihr Land schützen wollen, Abscheu ob der schikanösen Arroganz der israelischen Grenzhüter am Gaza-Streifen gegenüber friedlichen Palästinensern eint viele, die die Politik der israelischen Regierung missbilligen, weil sie sie für schädlich halten, da sie kaum den Frieden in der Region, wohl aber die stetige Eskalation von Gewalt bewirkt.“ (WiA, 200) Bei Benz gehen die Paraphrase „israelkritischer“ Positionen und die eigene, mitnichten wissenschaftliche Beurteilung der israelischen Politik untrennbar Hand in Hand. Dabei wird in auffällig dichter Aufzählung Israels Politik gegenüber den Palästinensern als brutal und kriegerisch stigmatisiert; die Einseitigkeit und Totalität der Darstellung wirkt geradezu obsessiv. Zwar spricht Benz dem jüdischen Staat ein allgemeines Selbstverteidigungsrecht nicht ab – das gebietet ihm die politische Raison –, das aber erweist sich als bloße Phrase. Das Selbstverteidigungsrecht des jüdischen Staates wird de facto denunziert, weil in concreto nur Negatives aufgelistet wird.

Und das setzt sich fort, wenn der Antisemitismusforscher mit der Frage ringt: „Wie viel Israelkritik ist erlaubt?“ Die erste so genannte Intifada gilt ihm als „Kampagne zivilen Ungehorsams“, die später eskaliert und „mit Absperrung, militärischen Aktionen, Vergeltungsschlägen und weiteren Maßnahmen einer bedingungslosen Politik der Stärke“ beantwortet worden sei (WiA, S. 200). So viel „Israelkritik“ ist also erlaubt: Die Behauptung israelischer „Vergeltung“ und „bedingungsloser Stärke“ scheint – weil Antisemitismusforscher per definitionem nicht antisemitisch argumentieren können – opportun.

Benz formuliert den Merksatz: „Erlaubt und selbstverständlich ist die kritische Beurteilung jeder Politik, unerlaubt ist aber das Bestreiten des Existenzrechts eines Staates, das mit der Diffamierung seiner Bürger argumentiert.“ (WiA, S. 208) Gemeint ist zwar nicht „jede Politik“, sondern konkret die israelische; gemeint ist auch nicht das Bestreiten des Existenzrechts „eines Staates“, sondern konkret das des jüdischen Staates. So verstanden, taugt Benzens Merksatz als Rüstzeug koscherer „Israelkritik“: Solange nicht explizit Israels Existenzrecht bestritten wird, darf man Israel kritisieren, darf man seine Selbstverteidigung durch ausschließlich negativ bewertete Beispiele delegitimieren. Die Sehnsucht der „Israelkritiker“ fände ihre Erfüllung, wenn der jüdische Staat auf jedwede Selbstverteidigung verzichtete, da ihnen ja keine konkrete Maßnahme gegen den Terror als „angemessen“ erscheint. Diese Delegitimierung jedweder Selbstverteidigung jedoch zielt auf das wehrlose Ende Israels ab.

Unvermögen und Unwillen

Kritiker der vom Zentrum für Antisemitismusforschung veranstalteten Konferenz „Feindbild Muslim – Feindbild Jude“ vom Dezember 2008 sowie des etwa zeitgleich herausgegebenen 17. Bandes des „Jahrbuchs für Antisemitismusforschung“ zeigten sich überrascht von der Selbstverständlichkeit, mit der das ZfA den antiislamisch drapierten Rassismus und den Antisemitismus auf eine Stufe stellt. (2) Dabei wurde übersehen, dass Benzens Antisemitismusforschung in ihrer historisierenden Tendenz, ihrer Ignoranz des Neuen Antisemitismus und ihrer Regression zur „Vorurteilsforschung“ eben dafür längst die Voraussetzungen geschaffen hatte. Das ZfA ist nicht erst seit kurzem „auf Abwegen“.

Symptomatisch und keineswegs zufällig ist das begriffliche Unvermögen dieser Antisemitismusforschung: Wolfgang Benz meint – und das ist das Resümee seines Buches „Was ist Antisemitismus“–, das Wesen des Antisemitismus sei in einem Witz auf den Punkt gebracht: Während des Sechstagekrieges im Juni 1967 sei einer, der sich erst über die israelischen Erfolge gefreut habe, plötzlich unglücklich. Jemand habe ihm nämlich mitgeteilt, dass die Israelis Juden sind (WiA, S. 234). Es verwundert kaum mehr, dass Benz im Epilog seines Buches ausgerechnet den notorisch antiisraelischen Demagogen Uri Avnery mit diesem Witz zitiert, um den Antisemitismus zu ergründen. So sehr hier auch ein Stück Wahrheit über den Antisemitismus des sich proisraelisch gebenden Philosemitismus seinen Ausdruck findet, so wenig ist hier „das Wesen des Antisemitismus [...] auf den Punkt gebracht“.

Dabei ginge es auch anders: Ausgehend von der Empirie (Dämonisierung, Dehumanisierung, Delegitimierung von Juden als Einzelne und als Kollektiv) wäre zur Ergründung des antisemitischen Bedürfnisses vorzudringen, welches sich in einem irrationalen, sich der Aufklärung verweigernden psychopathologischen Prozess darstellt. Ein kritischer Begriff des Antisemitismus käme nicht umhin, von einer mit der Gesellschaft verschränkten Ideologie zu sprechen, die sich entscheidend transformiert, ohne aber ihr Wesen aufzugeben. Man müsste die Identitätszerrüttungen und die Abwehrwünsche in und gegen die Moderne reflektieren, wie sie im Westen und im Islam gleichsam auf fruchtbaren Boden fallen. Das bedeutete aber auch eine Parteinahme für die Moderne und für den modernen jüdischen Staat Israel sowie eine Kritik des Antisemitismus auch und gerade in seiner postmodernen und seiner islamischen Ausprägung.

Das alles ist Wolfgang Benz nicht zuzumuten. Er zieht moralische Reputation aus der Beschäftigung mit dem Vergangenen, um die Behauptung eines Fortwesens des Antisemitismus in modernisierten Formen und in neuen Milieus empört und mit akademischer Autorität abzulehnen zu können. So aber erscheint sein begriffliches Unvermögen als Unwillen: Diese Antisemitismusforschung, die der Reflexion auf sich selbst so sehr bedürfte, lenkt von sich ab – auf vergangene Zeiten, auf andere „Vorbehalte“ und „Vorurteile“, auf andere „Stigmatisierungen“. Und das hat Gründe.

Anmerkungen:
(1) Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1981, S. 214.
(2) Beispielhaft Matthias Küntzel: Das Zentrum für Antisemitismusforschung im Kampf gegen „Islamophobie“.

Zum Foto: „Das Mitleid mit palästinensischen Familien eint viele, die die Politik der israelischen Regierung missbilligen, weil sie sie für schädlich halten“ (Wolfgang Benz): Antiisraelische Kundgebung in Köln mit Experten für Geschichte und Mathematik, 17. Januar 2009.

8.9.09

Eyes wide shut (I)



Seit gestern veranstaltet das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) seine diesjährige, dreitägige „Sommeruniversität“. Nachdem die Einrichtung im Dezember letzten Jahres zu dem Schluss kam, dass „Islamophobie“ irgendwo das Gleiche ist wie Antisemitismus und also die Muslime sozusagen die Juden von heute sind, beschäftigt sie sich nun mit den „Erscheinungsformen des aktuellen Antisemitismus“ und fragt sich: „Extremismus oder gesellschaftliche Mitte?“ Christian J. Heinrich hingegen fragt sich – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der letztjährigen Konferenz „Feindbild Muslim, Feindbild Jude“ –, wie es beim ZfA überhaupt um den Begriff des Antisemitismus bestellt ist. Dabei stellt er fest, dass man schon vor fünf Jahren hätte wissen können, welch beschränktes Verständnis das Zentrum und insbesondere sein Direktor Wolfgang Benz (Foto, links) von jenem Gegenstand haben, der ihrem Institut den Namen gegeben hat. Erster Teil eines Beitrags, den Heinrich in gekürzter Form im August-Heft der Monatszeitschrift KONKRET veröffentlicht hat. Der zweite Teil folgt morgen.


VON CHRISTIAN J. HEINRICH

Im Juli 2002 titelte das Satiremagazin Titanic: „Schrecklicher Verdacht: War Hitler Antisemit?“ Weil diese Frage noch der Beantwortung zu harren scheint, gibt Wolfgang Benz seit zwanzig Jahren den Antisemitismusbeauftragten der Bundesrepublik mit angeschlossenem Institut. In wenigen Monaten wird er nun als Direktor des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA) pensioniert. Mit dem Buch „Was ist Antisemitismus?“ (1) lieferte er bereits vor fünf Jahren ein Resümee seiner Arbeit. Das ZfA, für Wolfgang Benz „weltweit einmalig“, gilt nicht allein wissenschaftlich als bedeutsam, sondern wird seinem eigenen Verständnis zufolge „in hohem Maß auch als eine öffentliche Institution verstanden, die weit über den Rahmen eines Universitätsinstituts hinaus Dienstleistungen und Aufklärungsarbeit für die Öffentlichkeit erbringt“. Deshalb wendet es sich in vielen seiner Publikationen nicht allein an ein akademisches Publikum, sondern hegt darüber hinaus volkspädagogische Absichten. So formuliert es auch der Institutsdirektor in „Was ist Antisemitismus?“. (2)

Das Vorwort dieser Schrift eröffnet gleichwohl mit dem Nimbus nüchterner Wissenschaftlichkeit: „Gegenstand des Buches ist nicht die dramatische Darstellung judenfeindlicher Aggression und Propaganda mit dem Ziel, Abscheu, Schuld und Betroffenheit zu erzeugen.“ (WiA, S. 7) Schon in diesem ersten Satz offenbart Benz sein Anliegen, nicht „Schuld [...] erzeugen“ zu wollen. Das ist aufschlussreich in Formulierung und Gedanken: Ein gutes Buch könnte Antisemiten allenfalls (und mit Recht) Schuld zuweisen und bei diesen (bestenfalls) Schuldgefühle provozieren, bei niemandem jedoch Schuld erzeugen. Benzens Formulierung ist allerdings kein Fauxpas, sondern als vollgültig anzuerkennen: Soll nicht die Debatte über den Antisemitismus – so die zentrale Behauptung deutscher Schuldabwehr – nur dazu dienen, „Schuld [...] zu erzeugen“? Dies ist Benzens Sache nicht.

Postnazistische Selbstvergewisserung

Es gehört zu den Strategien postnazistischer Selbstvergewisserung, den rassistischen Antisemitismus der eigenen Väter und Großväter, der zu Auschwitz führte, mit großer symbolischer Geste abzulehnen und als dunkelstes Kapitel deutscher Geschichte historisch – also als Vergangenes – einzuordnen. Antisemitismusforschung am ZfA wird zu diesem Behufe vorrangig als Geschichtswissenschaft betrieben. So gibt es am Institut im Sommersemester 2009 allerlei Veranstaltungen zur Weimarer Republik, zu Polen unter deutscher Besatzung, zur antibolschewistischen Propaganda in deutschen Zeitungen 1933 bis 1945, zum nationalsozialistischen KZ-System usw. (3) Von 55 aktuellen Dissertationsvorhaben sind mehr als 40 ausdrücklich historischen Inhalts. (4)

Auffällig an dieser zuvörderst als Geschichtswissenschaft betriebenen Antisemitismusforschung ist, dass vor allem positivistisch gearbeitet und also viel Empirie, Statistik und Faktensammlung betrieben, ein Begriff des Antisemitismus jedoch kaum entfaltet wird. Zwar vermutet Wolfgang Benz vielerlei Motive hinter dem Antisemitismus: „gekränkter Nationalstolz“, „kleinbürgerliche Überfremdungsangst“ oder auch „unspezifischer Unmut über Regierung, Volksvertreter, politische und ökonomische Verhältnisse, über die unerfreulichen Zeitläufe ganz allgemein“ (WiA, S. 28f.) Aber in derlei Banalitäten und simplen Rationalisierungen erschöpft sich die begriffliche Mühe bereits. Die Antisemitismusforschung des ZfA greift stattdessen zum autoritären Verfahren: Was Antisemitismus – und vor allem was kein Antisemitismus – ist, wird mittels professoralem Zeigefinger festgelegt. So scheint man der begrifflichen Auseinandersetzung entzogen. Gleichwohl sind solche definitorischen Setzungen interessant: Sie geben zwar keine Auskunft über das Wesen des Antisemitismus, aber über die gesellschaftspolitische Funktion einer so verstandenen „Wissenschaft“.

Zu den Strategien postnazistischer Selbstvergewisserung gehört es ebenso, aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit moralische Reputation für das Deutschland der Gegenwart abzuleiten. Antisemitismus wird – weil historisch mit dem Nationalsozialismus identifiziert – heute vorrangig den Milieus der Ewiggestrigen und Rechtsradikalen zugeschrieben; andere Milieus werden ignoriert. Antisemitische Tendenzen beispielsweise in der Linken werden relativiert und im Vergleich zum Rechtsradikalismus heruntergespielt. Nach Benz werden derlei Tendenzen „gern als ‚linker Antisemitismus’ subsumiert und oft zur Aufrechnung benutzt, um die ungleich stärker verbreitete nationalistische, rechtsextreme Version der Judenfeindschaft zu rechtfertigen“ (WiA, S. 238). Statt also den linken Antisemitismus zu kritisieren, wird seine Existenz bei Benz durch Anführungszeichen angezweifelt und seinen Gegnern die Relativierung des rechtsradikalen Antisemitismus unterstellt; nicht der linke Antisemitismus, sondern seine Kritik wird – weil angeblich „zur Aufrechnung benutzt“ – denunziert. Die historisierende Antisemitismusforschung des ZfA hat also eine spezifische Funktion: Sich kritisch zur deutschen Vergangenheit zu stellen, soll legitimieren, sich unkritisch zur Gegenwart zu verhalten. Die Festschreibung des Antisemitismus auf seine alten Formen bedeutet, die neuen Formen als nicht-antisemitisch zu verkennen und damit zu salvieren. Hier schlägt die historisierende Antisemitismusforschung in zeitgenössische Antisemitismusverharmlosung, mithin in Legitimationswissenschaft um.

Dies zeigt sich auch darin, dass jene, die sich so vehement gegen den alten Antisemitismus wenden – und dazu taugt der Beruf des Antisemitismusforschers wie kaum ein zweiter –, sich oft vehement gegen den Begriff des Neuen Antisemitismus sperren. Benz begründet das so: „Judenfeindschaft gilt als das älteste soziale, kulturelle, religiöse, politische Vorurteil der Menschheit; Judenfeindschaft äußert sich [...] in ausgrenzenden und stigmatisierenden Stereotypen, d.h. in überlieferten Vorstellungen der Mehrheit von der Minderheit, die unreflektiert von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das ist ein Argument gegen die Vermutung, es gebe derzeit einen ‚neuen Antisemitismus’, der sich in seinen Inhalten oder in der Radikalität vom ‚alten Antisemitismus’ unterscheide.“

Benz unterschlägt, dass auch der Neue Antisemitismus weiterhin ein Antisemitismus ist und in der schier endlos scheinenden Tradition des Judenhasses steht. Seine Formen und Trägerschichten wurden nach Auschwitz jedoch signifikant modernisiert und zeugen vom Willen zur politischen Opportunität: nämlich Antisemit sein zu dürfen, ohne als solcher – in der Außenwirkung ebenso wie im Selbstbild – zu gelten. Eben deshalb kapriziert er sich nicht offen auf Juden, sondern auf Israel. Benz aber fokussiert auf den tradierten und ignoriert den transformierten Antisemitismus; er denunziert die Behauptung eines Neuen Antisemitismus, weil ihm nichts Neues unter der Sonne erscheinen will.

Dabei hatte sich bereits der völkische Judenhass nicht nur aus dem christlichen entwickelt, sondern sich selbst zu diesem in Widerspruch gesetzt. „Wie blödsinnig die religiöse Seite dieses Hasses war, erhellt schon daraus, dass man die Juden verantwortlich für die Kreuzigung Christi machen wollte“, meinte Wilhelm Marr, der sein Traktat vom vermeintlich drohenden „Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ vom „nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet“ verstanden wissen wollte. „Gegen jede ‚religiöse’ Verfolgung nehme ich somit die Juden unbedingt in Schutz und ich glaube, es ist in dieser Hinsicht kaum möglich, sich deutlicher auszusprechen, als ich es hier gethan habe.“ (5) Und wie der völkische ein neuer Antisemitismus in ostentativer Ablehnung des christlichen war – immer noch ein Judenhass, doch ein moderner –, so ist es heute der „israelkritische“ in scharfer Ablehnung des völkischen wieder, nur diesmal ein postmoderner. Die neuen Antisemiten wollen mit den alten nichts zu schaffen haben – und sind doch ihre Wiedergänger.

Das aktuell je Spezifische im geschichtlich Allgemeinen wird aber beim ZfA ausgeblendet; die Rede ist vielmehr von etwas Uraltem, das „unreflektiert“ – so drückt sich Benz nachsichtig aus – „von Generation zu Generation weitergegeben“ werde. Und sein Institut hätte tatsächlich ein politisches Opportunitätsproblem, würde es heute einen Neuen Antisemitismus konstatieren: Plötzlich müssten neben dem rechtsradikalen auch eigene Milieus Gegenstand der Untersuchungen werden.

Verharmlosungsstrategien

Benzens Buch kennzeichnet das Bestreben, den Antisemitismus außerhalb rechtsradikaler Milieus allenfalls so weit anzuerkennen, wie es aufgrund der erdrückenden Realität gerade nötig ist; die Antisemiten der so genannten Mitte werden bestmöglich pardoniert. So meint der Geisteswissenschaftler Benz, dessen täglich Brot Begrifflichkeiten und terminologische Mühen sein müssten: „Aber bringt solche terminologische Mühe im Dienste der Begrifflichkeit, die Frage, ob etwa der Romanschriftsteller Walser oder der Politiker Hohmann oder der Gelehrte Nolte ein Antisemit ist, in der Sache weiter?“ (WiA, S. 149)

Warum stellt Benz – obwohl die Berufe der erwähnten Herren hinreichend bekannt sind – den Walser ausdrücklich als Romanschriftsteller, den Hohmann als Politiker und den Nolte gar als Gelehrten vor? Titel und Status sprechen für Reputation und Ehrenhaftigkeit. Der ZfA-Direktor wird solchen zeitgenössischen Koryphäen nicht zu nahe treten. Dabei brächte es, um Benzens Frage gegen seine Intention zu beantworten, tatsächlich „in der Sache weiter“, wenn Antisemiten ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Stellung als solche auch benannt würden: Solange Antisemitismus in der Bundesrepublik offiziell geächtet ist, bleibt die Stigmatisierung von Antisemiten als Antisemiten ein legitimes und nötiges politisches Mittel, um Diskurs- und Opportunitätsgrenzen zu etablieren oder zu behaupten. Wenn beispielsweise Möllemann von Anfang an als das begriffen worden wäre, was er auch war – nämlich ein Antisemit –, so hätte er sich nicht so umfassend und erfolgreich ausbreiten können. So aber geht er bis heute als „Israelkritiker“ durch – und das gilt als legitim.

Benz konstruiert in drei Schritten einen Antisemitismus ohne Antisemiten: Als Zugeständnis an die Realität räumt er „absichtsvolles oder fahrlässiges Hantieren mit Stereotypen der Judenfeindschaft“ (WiA, S. 150) zunächst ein. Weil die Protagonisten aber angeblich nicht wissen, was sie tun und wohin das führt, dementiert Benz in mehreren Beispielen das „absichtsvolle“ Hantieren und behauptet allenfalls ein „fahrlässiges“. Schließlich betreibt er eine exemplarische Ehrenrettung, indem er weniger den Antisemitismus als vielmehr den Antisemitismusvorwurf problematisiert.

Exemplarisch wird das an Heinrich von Treitschke vorgeführt: Der „einst renommierte Historiker [...] entfachte im 19. Jahrhundert eine Debatte, die als ‚Berliner Antisemitismusstreit’ in die Geschichte einging. Treitschkes Sentenz ‚Die Juden sind unser Unglück’ wurde zum geflügelten Wort, wurde selbständig und war ein halbes Jahrhundert später allwöchentlich im ‚Stürmer’, dem widerlichsten Hetzblatt nationalsozialistischer Judenfeindschaft, als Leitmotiv abgedruckt. Das hat der Historiker und Reichstagsabgeordnete Treitschke, ein Mann von Reputation und einigem Nachruhm, gewiss nicht beabsichtigt, und die Nationalsozialisten hätte er sicher verachtet, so er sie hätte erleben müssen. [...] Dass Treitschke den 1933 zur Macht gekommenen Antisemiten als Kronzeuge für die Notwendigkeit der totalen Segregation der Juden bis zur letzten Konsequenz, der physischen Vernichtung, dienen würde, war natürlich nicht zu ahnen. Aber es ist geschehen. War Treitschke ein Antisemit? Die Frage wurde in mancher Abhandlung mit Scharfsinn behandelt und so oder so beantwortet [...] Die Frage, ob Treitschke ein Antisemit war und willentlich den Antisemitismus förderte, ist angesichts der Wirkung seiner Worte ganz unerheblich, und ebenso unerheblich ist das Mutmaßen darüber, ob Jürgen Möllemann ein Antisemit gewesen ist.“

Zum einen wird Treitschke hier also als „einst renommierter Historiker“, als „Mann von Reputation und einigem Nachruhm“, als „Historiker und Reichstagsabgeordneter“ vorgeführt. An anderer Stelle im Buch kontrastiert Benz Treitschkes „kulturpessimistische Ausführungen“ – derart verharmlosend bewertet er dessen Ausspruch „Die Juden sind unser Unglück“ – mit der antisemitischen Argumentation, „wie sie von drittrangigen Publizisten und eifernden Kleingeistern entfacht worden war“ (WiA, S. 87).

Zum anderen wird Treitschke von den Folgen seiner Demagogie freigesprochen: Mit den Nationalsozialisten hätte er laut Benz wohl gehadert, diese jedoch sind die unzweifelhaften, im Jahr „1933 zur Macht gekommene Antisemiten“. Fast klingt es, als würde Treitschke hier zum – nur durch frühzeitiges Ableben verhinderten – Antifaschisten geadelt. Es scheint also nicht nur die Gnade der späten Geburt, sondern auch die des frühen Dahinscheidens zu geben. Dass Treitschke, der in seinen Traktaten den „jüdischen Todhass“ gegen die Vertreter deutscher Kultur halluzinierte und deshalb – in nachgerade klassischer Täter-Opfer-Umkehr – die „antijüdische Erregung“ seines Volkes ausdrücklich goutierte, für die Nazis einmal als Kronzeuge dienen könnte, war Benz zufolge damals nicht zu ahnen. Das ist richtig: Niemand kann ein halbes Jahrhundert in die Zukunft sehen. Viele deutsche Juden fürchteten aber schon während des „Berliner Antisemitismusstreits“ eine durch Treitschke initiierte Pogromstimmung. Damit ist die Frage, „ob Treitschke ein Antisemit war und willentlich den Antisemitismus förderte“, obsolet, weil gegen Benzens Absicht beantwortet. Dieser behauptet dessen ungeachtet, man könne das „mit Scharfsinn“ so sehen oder auch ganz anders. Seine Behauptung, die Frage sei ja „ganz unerheblich“, demaskiert seinen Unwillen, Antisemiten auch dann als solche zu erkennen, wenn sie nicht gerade ausgemachte Nationalsozialisten sind. Eben das verbindet Treitschke auch mit dem durch Benz in diesen Zusammenhang gestellten Möllemann.

Alles keine Antisemiten

Bei der Lektüre von Benzens Buch erscheint es fast so, als könnte man im heutigen Deutschland außerhalb rechtsradikaler Milieus kaum Antisemiten ausmachen. Denn, so doziert der ZfA-Direktor: „Nicht alles ist freilich Antisemitismus, was Juden an Taktlosigkeit, Unsensibilität, Missverständnis und verfehltem Bemühen beleidigt und kränkt.“ (WiA, S. 19) Die Juden im heutigen Deutschland – beleidigt und gekränkt aus nicht-antisemitischen Gründen?

Das Beispiel Möllemann: Benz rekapituliert „die ebenso populistische und wirksame wie absurde Behauptung“ des FDP-Politikers (das Wort „antisemitisch“ vermeidet Benz hier tunlichst), „es existiere ein Verdikt, Kritik an Israel zu üben, und es gebe einschlägige Denk- und Meinungsverbote“ (WiA, S. 146). Die Debatte habe sich – und das scheint Benz recht eigentlich umzutreiben – „auf einen Nebenkriegsschauplatz totgelaufen, an dem Problem nämlich, ob diejenigen, die sie entzündet haben, Antisemiten seien“ (WiA, S. 147). Dieser Debatte verweigert sich der Antisemitismusforscher. Das „Mutmaßen“ darüber „ob Jürgen Möllemann ein Antisemit gewesen ist“, ist ihm ja „unerheblich“ (WiA, S. 149f.).

Oder das Beispiel Günzel: Der christdemokratische Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann hatte „Gerechtigkeit für Deutschland“ gefordert, indem er sich gegen die Bezeichnung der Deutschen als „Tätervolk wehrte und in vergleichender Absicht Juden u.a. für den Bolschewismus verantwortlich machte. Der Brigadegeneral der Bundeswehr Reinhard Günzel sprang ihm bei. Wolfgang Benz sieht auch hier weniger antisemitische Motivation als vielmehr mangelnde Kenntnis am Werk: „Vermutlich hat er [Günzel] die Rede Hohmanns nicht gelesen oder nur die patriotischen Parolen wahrgenommen, denn auch der General ist gewiss kein Antisemit, selbst wenn seine Vaterlandliebe nach rechts ziemlich grenzenlos sein mag. Der Brigadegeneral a.D. hat überdies Geschichte und Philosophie studiert und damit doch eigentlich das Rüstzeug erworben, um die Argumentation Hohmanns zu durchschauen.“ (WiA, S. 157) Auch über Fritz Schenk, einen ehemaligen Fernsehmoderator und CDU-Mann, der eine Unterschriftenaktion für Hohmann und gegen dessen Ausschluss aus der CDU initiierte, behauptet Benz, dass sich hier viele „mangels Kenntnis des Hohmann-Textes und insbesondere ohne Kenntnis der antisemitischen Agitation“ solidarisiert hätten: „Schenk ist über den Verdacht der Judenfeindschaft so erhaben wie sicherlich die Mehrheit der Unterzeichner.“ (WiA, S. 169) Das Koscher-Zertifikat wird also ohne nähere Begründung ausgestellt.

Schließlich das Beispiel Blüm: Der ehemalige Bundesminister reüssiert in den letzten Jahren als antiisraelischer Aktivist. Wenn er beispielsweise Israel einen „hemmungslosen Vernichtungskrieg“ gegen die Palästinenser unterstellt, so bescheinigt Wolfgang Benz ihm zwar, dass er „unreflektiert mit Stereotypen“ hantiert. Aber Blüm „wurde von vielen verteidigt, die – natürlich ganz zu Recht – betonten, er sei kein Antisemit“ (WiA, S. 206). Was aber müsste Blüm noch äußern, um selbst im ZfA als Antisemit durchzugehen?

Sogar bei offensichtlichen Rechtsradikalen gibt sich Benz manchmal nachsichtig: „Berliner Hertha-Fans, die sich der rechten Szene zugehörig fühlen, z.B. Rudolf Hess als Idol verehren, aber an Politik generell desinteressiert sind, zeigen alltägliche unreflektierte Judenfeindschaft, die mit bestimmten Feindbildern und Konnotationen operiert.“ (WiA, S. 237) Benz, der von „bestimmten Feindbildern und Konnotationen“ spricht und diese doch nicht näher bestimmt, relativiert die Verehrung der Fußballnazis für Rudolf Hess. Die jungen Leute seien ja „an Politik generell desinteressiert“, ihre Judenfeindschaft sei „unreflektiert“. Soll heißen: Sie können es nicht so genau wissen und es also auch nicht so ernst meinen.

Wenn sich in Umfragen erweist, dass es durchaus Antisemiten in relevanten Größenordnungen in Deutschland gibt – selbst dann, wenn nur nach den alten und nicht nach den neuen, „israelkritischen“ Erscheinungsformen gefragt wird –, dann fühlt sich Wolfgang Benz zu deren Ehrenrettung aufgerufen. „Jeder fünfte Deutsche ein Antisemit?“, fragt der ZfA-Direktor in seinem Buch rhetorisch und lehnt diesen Schluss rigoros ab. Er kritisiert vielmehr die „mediale Vergröberung und Verkürzung“: Befragte übten lediglich „Zurückhaltung“ oder seien „von der Fragestellung geleitet“ worden, „stereotype Vorstellungen über Juden (‚zu viel Macht’, ‚zu viel Geld’ etc.)“ zu äußern. Benz schlägt sich folgerichtig auf die Seite der solcherart zu antisemitischen Aussagen angeblich Verführten. Die „empörte Reaktion des Publikums auf die Umsetzung von sozialwissenschaftlichen Messergebnissen in Getöse mit moralischem Unterton“ ist für ihn „verständlich“. Die deutschen Verhältnisse seien nämlich viel besser als behauptet: „Nach empirischen Forschungen ist Antisemitismus als persönliches Vorurteil in der Bundesrepublik seit den 60er Jahren im Rückgang begriffen.“ (WiA, S. 193)

Gleichwohl ist das von Benz selbst präsentierte Zahlenmaterial erdrückend: „So glauben 18% der Deutschen, Juden versuchten, aus der Vergangenheit Vorteile auf Kosten der Deutschen zu ziehen, 19% halten die religiöse Komponente des antisemitischen Ressentiments (‚Schuld der Juden am Tode Jesu’) noch für relevant, 20% halten Juden für egoistisch, 21% finden sie ‚intolerant’, und 36% stimmen der Behauptung zu, die Juden hätten zuviel Einfluss in der Welt.“ Die zuletzt genannte Zahl allein dementiert schon die These, jeder fünfte Deutsche sei ein (klassischer) Antisemit – es ist mindestens jeder Dritte. Doch nur, weil sich jemand antisemitisch äußert, ist er noch lange kein Antisemit, so die Logik des ZfA; gerade einmal ein Prozent der Deutschen lehnten Juden doch ausdrücklich ab (WiA, S. 194).

Interessant an diesem einen Prozent ist, dass nur die zu ihm Zählenden sich offen als Antisemiten zu erkennen geben und aus ihrer Ablehnung keinen Hehl machen. Es zeigt sich hier eben jenes von Benz ignorierte Phänomen, dass der zeitgenössische Judenfeind sich selbst nicht mehr als antisemitisch verstehen möchte.

Anmerkungen:
(1) Wolfgang Benz: Was ist Antisemitismus? C.H. Beck Verlag, München 2008 (im Folgenden: WiA)
(2) Das Buch ist inzwischen in wohlfeiler Ausgabe bei der Bundeszentrale für Politische Bildung für eine Bereitstellungspauschale von zwei Euro erhältlich. Bei GoogleBooks findet sich eine vollständig digitalisierte Fassung. Herzlichen Dank an die Initiative Verteidigt Israel aus Kiel für den Hinweis.
(3) Was völlig fehlt, ist die explizite Thematisierung des islamischen Antisemitismus. Ein Hauptseminar beschäftigt sich mit „Religion und Gewalt“ im Allgemeinen; in der Ankündigung ist allenfalls von einer zu untersuchenden „Welle religiös motivierter Gewalt“ die Rede – so, als wären beispielsweise Christentum und Judentum ähnlich zu problematisieren wie der Islam. Ein anderes Seminar beschäftigt sich mit den „Debatten zum Islam“, es soll Diskurskritik geleistet werden, also: „welche Akteure auftreten, welche Thesen sie vertreten, welche Interessen und Bedürfnisse dahinter stehen und welche Dynamiken in öffentlichen Debatten wirken“ – eine Problematisierung des islamischen Antisemitsmus ist dies mitnichten.
(4) Viele der anderen Themen sprechen für eine nicht minder kritikwürdige Themensetzung („Aktuelle Entwicklungen des Antisemitismus und Philosemitismus in Japan“, „Jüdische Viehhändler“, „Probleme der Integration und Identität der koreanischen Minderheit in Deutschland“ usw.). Allein der Doktorand Günther Jikeli betreibt am ZfA eine „Vergleichende Typisierung von antisemitischen Einstellungsmustern arabisch/islamisch geprägter Jugendlicher in Europa“.
(5) Wilhelm Marr: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet. Rudolph Costenoble, Bern 1879, S. 7f.

Zum Foto: Männer „von Reputation und einigem (Nach-) Ruhm“: Wolfgang Benz und die Kameraden Treitschke, Günzel, Möllemann und Blüm.

Im zweiten Teil: Die verfolgte Unschuld – Unser Holocaust bleibt deutsch – Trivialisierter Antisemitismus – Islamischer Antisemitismus und „Israelkritik“ – Unvermögen und Unwillen

7.9.09

Wohlstand wider Willen



Diesem hinterhältigen, verschlagenen, durchtriebenen Judenstaat ist aber auch gar nichts heilig. „Israel droht mit Selbstverteidigung“, enthüllte der Focus bereits im Januar 2006 auf unnachahmliche Weise den Skandal, dass die Israelis den atomaren Vernichtungsplänen des Iran nicht einfach tatenlos zusehen wollen. Und jetzt kommt es sogar noch dicker. Benjamin Netanyahu bringt den Palästinensern nämlich Prosperität, wie die Neue Zürcher Zeitung berichtet:
„Innerhalb eines knappen halben Jahres hat er der palästinensischen Wirtschaft zu einer Blüte verholfen. Zahlreiche Straßensperren der israelischen Armee wurden abgebaut, Einfuhrbeschränkungen aufgehoben, und zur jordanischen Grenze fuhr der Ministerpräsident sogar höchstselbst vor wenigen Wochen, um dort zu verkünden, dass die Öffnungszeiten für die Güterabfertigung stark ausgeweitet würden, um den Warenfluss zu beschleunigen. Selbst der Internationale Währungsfonds zeigt sich beeindruckt und prognostizierte im Juli dem Westjordanland sieben Prozent Wachstum für 2009 – die erste Verbesserung seit Jahren. Der Aufschwung reflektiere die Lockerung der israelischen Restriktionen, so die IWF-Experten. Hinter vorgehaltener Hand räumen hochrangige Palästinenser längst ein, dass der rechtsnationale Netanyahu in fünf Monaten mehr für die Verbesserung der Lebensverhältnisse getan habe als sein friedensbewegter Vorgänger Ehud Olmert in drei Jahren.“
Sieben Prozent Wachstum? Und das mitten in der Krise? Dahinter kann natürlich nur ein besonders abgefeimter Trick stecken – schließlich spielt der ökonomische Aufschwung Abbas & Co. nicht gerade in die Karten:
„Denn er läuft der Strategie der palästinensischen Führung völlig zuwider. Solange Netanyahu den Siedlungsbau im Westjordanland nicht stoppe und sich nicht bedingungslos zur Zwei-Staaten-Lösung bekenne, werde es keine neuen Friedensgespräche geben, lautet das Mantra in Ramallah. Die Palästinensische Autonomiebehörde erwäge sogar, von der EU Sanktionen gegen die Netanyahu-Regierung zu fordern, wenn der Siedlungsausbau nicht zum Stillstand komme, hieß es dazu am Freitag.“
Houston, Verzeihung: Ramallah, wir haben ein Problem: Unsere Feinde sorgen für Wohlstand und lähmen dadurch unseren Widerstand. Wir müssen aufhören, mit ihnen zu reden.
„Dennoch ließ sich Wirtschaftsminister Khoury diese Woche auf ein Treffen mit Israels Vizeregierungschef Silvan Shalom ein – das erste Gespräch auf Ministerebene seit dem Amtsantritt Netanyahus. Auf der Agenda standen weitere Verbesserungen für die palästinensischen Unternehmen. Als ‚rein technisch’ spielte Khoury die dreistündige Zusammenkunft in einem Jerusalemer Hotel anschließend hinunter, ‚ohne politische Bedeutung’. Khoury, der erst im Mai Wirtschaftsminister wurde, hat mit dem Pharmaunternehmen Pharmacare eine der erfolgreichsten Firmen im Westjordanland aufgebaut. Sie ist per EU-Zertifikat sogar berechtigt, für den europäischen Markt zu produzieren.“
Und jetzt? Wie sage ich’s dem Vater? Wie der Mutter? Wie der Geschwister siebenköpf’ger Schar?
„Auf keinen Fall will Khoury den Eindruck entstehen lassen, mit der israelischen Besatzung lasse sich doch ganz gut leben. ‚Palästinensische Unternehmer sind Krisenmanager’, betont Khoury stets. Denn es gebe eine Regierung, aber keinen Staat. Die Unternehmen müssten Vorschriften befolgen, hätten aber keine rechtsstaatlichen Garantien. Ihr Ansprechpartner sei die Autonomiebehörde, doch Israel bestimme am Ende, was ein- und ausgeführt werden dürfe.“
Was nicht eingeführt werden darf: Waffen, Munition und anderes Kriegsspielzeug. Was nicht ausgeführt werden darf: dito. Und das ist auch gut so. Im Kapitalismus zählt die Rendite, und wenn die Palästinenser samt ihrer Führung(en) irgendwann mal einsehen, dass die nicht im Judenmord besteht, werden sie sogar ihren eigenen Staat bekommen. Bis es so weit ist, werden sie sich mit wachsendem Wohlstand begnügen müssen. Ein hartes Schicksal natürlich. Schöne Grüße auch nach Gaza!

Zum Foto: Eine palästinensische Verkäuferin versieht in einem Supermarkt Waren mit einem Schild, auf dem „Unsere Produkte“ geschrieben steht. Ramallah, 2. August 2009.