25.8.09

Alter Wein in neuen Schläuchen



Eines vorneweg: Die Pressefreiheit ist ein extrem kostbares Gut, und der Versuch, sie einzuschränken, ist falsch – auch dann, wenn sie dazu benutzt wird, den größten Unfug zu verbreiten. Insofern hat die schwedische Regierung zunächst einmal Recht, wenn sie der an sie gerichteten Aufforderung der israelischen Regierung, einen kürzlich in der auflagenstärksten schwedischen Tageszeitung Aftonbladet erschienenen Beitrag zu verurteilen, nicht nachkommen will. In diesem Beitrag hatte der Journalist Donald Boström – ohne jeden Beweis – den von Palästinensern erhobenen Vorwurf kolportiert, demzufolge einigen ihrer zuvor getöteten Verwandten in Israel Organe gestohlen worden sind, und eine Untersuchung verlangt. Niemand könne fordern, „dass die schwedische Regierung gegen ihre eigene Verfassung verstößt“, denn die Meinungsfreiheit sei „ein unentbehrlicher Bestandteil der schwedischen Gesellschaft“, begründete der schwedische Ministerpräsident Frederik Reinfeldt seine Weigerung, Kritik an Boströms Text zu äußern.

Wie gesagt: Die Pressefreiheit ist von unschätzbarem Wert. Und dennoch hat das Anliegen der israelischen Regierung an ihr schwedisches Pendant seine Berechtigung – schließlich hat sich Schweden auf diversen OSZE-Konferenzen verpflichtet, aktiv und entschieden jede Form des Antisemitismus zu bekämpfen. Da mutet es schon reichlich seltsam an, wenn in einem solch offensichtlichen und drastischen Fall von antijüdischem Ressentiment nicht nur eine Stellungnahme ausbleibt, sondern die schwedische Botschafterin in Israel, Elisabet Borsiin Bonnier, auch noch regierungsoffiziell gerüffelt wird, weil sie den Aftonbladet-Artikel als „genauso schockierend und widerlich für uns Schweden wie für Israels Bürger“ bezeichnet hat.

Reichlich fragwürdig ist aber auch ein Kommentar, den Malte Lehming für den Tagesspiegel zum schwedisch-israelischen Streit verfasst hat. Die Reaktion der israelischen Regierung sei, findet Lehming, „der plumpe Versuch, auch einmal einen Karikaturenstreit vom Zaun zu brechen, mit allem, was so dazugehört – offiziellen Protesten, Nazi-Vergleichen, Warenboykott“. Was fehle, seien noch „die Flaggenverbrennungen und diverse Tote infolge gewalttätiger Auseinandersetzungen“. Dennoch dränge sich „die Analogie zum Karikaturenstreit“ auf: „In Israel heißt es heute, die Skandinavier verwechselten Pressefreiheit mit der Freiheit zur Diffamierung. Genau dasselbe wurde dem Westen damals von der islamischen Welt vorgeworfen.“ Und überhaupt: „Israels Regierung unter Benjamin Netanyahu ist überzeugt davon, dass die schlechte Reputation ihres Landes in der Welt nichts mit Israels Politik zu tun hat, sondern das Ergebnis antisemitisch eingestellter Medien ist. Frei nach dem Motto: Kann der Bauer nicht schwimmen, ist die Badehose schuld.“

Der Vergleich, den Lehming hier vornimmt, hinkt an allen Ecken und Enden. Beim „Karikaturenstreit“ ging es um zwölf Zeichnungen, die sich mehr oder weniger humorvoll mit dem islamistischen Terror beschäftigten, dessen mörderische Existenz nun mal nicht von der Hand zu weisen ist. Boströms Aftonbladet-Beitrag hingegen käut mit vollem Ernst die uralte antisemitische Ritualmordlegende in modernisierter Form wieder, um den demokratischen Staat Israel zu dämonisieren und zu delegitimieren. Schon angesichts dieser schwer wiegenden inhaltlichen Unterschiede ist Protest nicht gleich Protest, Streit nicht gleich Streit und Vorwurf nicht gleich Vorwurf. Abgesehen davon differieren die vorgetragenen Beschwerden aber auch in ihren Formen erheblich voneinander – nicht zuletzt gibt es eben keine von Israelis verursachten „Flaggenverbrennungen und diversen Toten infolge gewalttätiger Auseinandersetzungen“. Und das ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer zivilen und demokratischen Protestkultur.

Auch in Bezug auf Israels „schlechte Reputation“ liegt Lehming daneben: Das Beispiel Donald Boström zeigt einmal mehr, welche Motivation allzu oft im Spiel ist, wenn es gilt, Israel zu „kritisieren“. Da werden dann auch schon mal wohlbekannte antisemitische Märchen hervorgekramt und ein bisschen zurecht gemacht: Hieß es einst, Juden nutzten das Blut von Christen für rituelle Zwecke, so findet heute das Gerücht Verbreitung, Israelis meuchelten Palästinenser, um sich an ihren Eingeweiden schadlos zu halten. Das ist nichts als alter Wein in neuen Schläuchen, in diesem Fall feilgeboten von einem ausgesprochen populären nordeuropäischen Blatt. Es ist nicht so, dass derlei vergorene, ungenießbare Ware nicht verkauft werden dürfen soll – ihr Konsum allerdings kann brandgefährlich sein.

Zum Foto: Ironischer Protest gegen den Aftonbladet-Artikel: Israelische Demonstranten mit „blutgetränkter“ Matze. Tel Aviv, 24. August 2009.

16.8.09

Der ehrenwerte (Anti-) Semit



Zum Stand der deutsch-jüdischen „Normalisierung“, oder: Warum jüdische „Israelkritiker“ hierzulande inzwischen ein Anachronismus sind.


VON GEORG L. STRAUCH

Was geschieht im Hirn eines zeitgenössischen Antisemiten, wenn er von einem Herrn Namens Kaufmann hört, der als in etablierten Medien publizierender Journalist sich nicht die leiseste Mühe gibt, den „israelkritischen“ Gesinnungstest zu bestehen? Es werden die wenigen Synapsen auf Kurzschluss geschaltet: Der Kaufmann muss ein Jude sein! Ein Antisemit nämlich kann sich nur schwer vorstellen, dass auch ein rheinischer Christ den jüdischen Staat zu verteidigen bereit ist. „Wer Jude ist, bestimme ich“, hieß es schon bei Karl Lueger, dem Wiener Bürgermeister, der dem modernen Judenhass im ausgehenden 19. Jahrhundert Namen und Programm gab (und der noch heute in Österreichs Hauptstadt mit eigenem Denkmal und eigener Kirche geehrt wird).

Und dieser vermeintliche Jude Kaufmann ist – der Wahn hat seine Binnenlogik – ein ganz spezieller: ein Hofjude nämlich. Denn der Antisemit versteht sich seit je als Gegner derer „da oben“, denen echte und vermeintliche Juden als „Hofjuden“ zugeschlagen werden und an denen sich die Rage recht konformistisch ausagieren darf. Alsdann fragt der Antisemit, ob denn die Zeitung, in dem der „journalistische Hofjude“ schreibt, zum Propagandaorgan Israels geworden sei. Eine rhetorische Frage, denn man (in concreto: jeder Antisemit) weiß doch, dass der „Einfluss auf die Massen bei uns in den Händen der Juden [und] der größte Teil der Presse in ihren Händen [ist]“ (Karl Lueger). Weil man sich auch sonst von jüdischen „Blogwarten“, „Schreibtischtätern“ und anderen „einfältigen und fanatischen Zionisten“ bedroht und verfolgt fühlt, wird die Anrufung des deutschen Volkszornes zur Pflichtübung: „Wie lange soll er noch für den Kölner Stadt-Anzeiger schreiben, dieser aufgebrachte zionistische Jude mit seinem Schaum vor dem Mund.“ Kein Fragzeichen am Ende, sondern ein ganz ehrlicher Punkt.

Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass auch Juden Antisemiten sein können, so hätte ihn jüngst der notorische Abraham Melzer in seiner wiederauferstandenen Zeitschrift Semit geliefert. Von ihm nämlich stammen diese – auch hinsichtlich ihrer Orthografie und Grammatik bemerkenswerten – Invektiven gegen den zum Juden geadelten Tobias Kaufmann. (Nur ein veritabler Antisemit kann in dieser Zuschreibung eine Beleidigung sehen.) Der erwähnte Beweis aber ist inzwischen so überflüssig wie Melzers Zeitschrift. Zwar wähnt man sich dort noch als Wegbereiter des koscheren Antisemitismus; von Hajo Mayer über Judith Bernstein bis Rolf Verleger sind fast alle entsprechenden Koryphäen vertreten. Allein: Diese Dienstleistung am modernisierten Antisemitismus wird gar nicht mehr benötigt.

Lange versteckte man sich als Otto Normalvergaser (Eike Geisel) postnazistisch verunsichert hinter solchen jüdischen Proponenten: Sie sind doch Juden, sie dürfen das sagen, sie können keine Antisemiten sein, und wenn selbst Juden das sagen, dann muss es doch stimmen, dann dürfen wir doch auch... Aber die Verunsicherung wie das Versteckspiel sind zunehmend obsolet geworden. Die Vergabepolitik der Bundesrepublik, das Verdienstkreuz betreffend, illustriert das: Vor Unzeiten versuchte man sich noch in deutsch-jüdischer Versöhnung; der Preis wurde deshalb beispielsweise Ralph Giordano zugesprochen (der ihn, trotz kurzzeitigen Wankens, nun doch zu behalten beabsichtigt, um sich seiner Lebensleistung wie seiner Lebenslüge nicht zu berauben). Anfang 2008 bekam es dann schon Deidre Berger, Büroleiterin des American Jewish Committee in Berlin. Ihre Aufgabe, jede Aufregung um den zeitgenössischen deutschen Antisemitismus herunterzuspielen und in diplomatischen Kaminzimmergesprächen aufzulösen, hat sie ganz zur bundesrepublikanischen Zufriedenheit erfüllt.

Und nun, quasi als Höhepunkt und Abschluss der deutschen-jüdischen Normalisierung (und die deutsche Normalität besteht seit je darin, einen Antisemitismus auf der Höhe der Zeit zu pflegen), hat ihn stellvertretend und aus Dankbarkeit für das Geleistete die Palästina-Aktivistin und Exil-Israelin Felicia Langer erhalten. Bei der Preisverleihung durch den baden-württembergischen Staatssekretär Hubert Wicker sprach dieser vom Engagement Langers gegen die „Deportationen“ von Palästinensern und die „sippenhaftähnlichen Bestrafungen“ durch die Israelis; in dieser Terminologie analogisierte der Vertreter des Ministerpräsidenten Oettinger die israelische Politik mit der nationalsozialistischen.* Inzwischen bestellt man als Wortführer der „Israelkritik“ also längst keine Juden mehr; ein Staatssekretär ist so gut wie ein ehemaliger Minister (Norbert Blüm) oder willige Intellektuelle (Henning Mankell, Günter Grass et al.), und auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, der CDU-Politiker Ruprecht Polenz, warnt Israel mittlerweile davor, „als demokratischer Staat schrittweise Selbstmord“ zu begehen. Die Ranküne kleidet sich nur zu durchsichtig als Sorge um den vorgeblichen Freund.

Die antizionistischen Juden haben derweil ihre Schuldigkeit getan. Der Hegelsche Reiter der Geschichte ist über sie hinweggaloppiert, die nichtjüdischen „Israelkritiker“ haben die Zügel längst übernommen. Melzer und die Seinen stellen heute ein erbarmungswürdiges Grüppchen dar; sie missverstehen sich noch als Avantgarde und sind doch längst ein Anachronismus: Denn für unverhohlen Antisemitisches braucht es in Deutschland längst keinen Semiten mehr.

* Ausführlich dazu John Rosenthal: Why did Germany honor an Israel-basher?, Pajamas Media, 14. August 2009.

Zum Bild: Die ehrenwerte Gesellschaft trifft sich beim Ball der Stadt Wien. Links im Vordergrund, mit dem Hut in der Hand: Karl Lueger. Aquarell und Öl auf Leinwand, Wilhelm Gause, 1904.

10.8.09

Ganz die Alten



Als Shlomo Ben-Ami, ehemaliger israelischer Außenminister, im September 2001 in einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Ha’aretz gebeten wurde, die gescheiterten Friedensgespräche von Camp David zu bilanzieren, an denen er beteiligt war, zog er unter anderem dieses Resümee: „Es gab in den Verhandlungen zwischen uns und den Palästinensern keinen einzigen palästinensischen Gegenvorschlag. Es gab keinen, und es wird niemals einen geben. Deshalb befindet sich der israelische Unterhändler immer in einem Dilemma: Entweder stehe ich auf und gehe hinaus, weil diese Jungs nicht bereit sind, von sich selbst aus weiterführende Vorschläge zu machen, oder ich mache ein weiteres Zugeständnis. Am Ende macht auch der moderateste Unterhändler die Erfahrung, dass es kein Ende dieses Ablaufes gibt.“ Es ist überaus lohnenswert, dieses Interview mit dem zeitlichen Abstand von acht Jahren noch einmal zu lesen, zumal vor dem Hintergrund des Parteitags der Fatah vom vergangenen Wochenende. Was dort beschlossen – besser gesagt: widerspruchslos verkündet – wurde, zeigt nämlich einmal mehr, dass nicht nur die Hamas, sondern auch die im Westen als gemäßigt gehandelte Fatah keine Zweistaaten-, sondern weiterhin eine Kein-Staat-Israel-Lösung anstrebt.

Denn die Organisation von Mahmud Abbas hat auf ihrer Generalversammlung in Bethlehem – der ersten seit zwanzig Jahren – nicht zuletzt einen Anspruch der Palästinenser auf ganz Jerusalem behauptet. Zudem hat sie offiziell bekräftigt, dass die Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden ihr „bewaffneter Arm“ sind. Zur Erinnerung: Diese Truppe war unter anderem für zahlreiche Selbstmordanschläge verantwortlich – wobei sie teilweise sogar Kinder als Attentäter einsetzte – und kooperierte mit anderen Terrorbanden wie dem Islamischen Djihad und der Hizbollah. Darüber hinaus erklärte sie im Juni 2005, dass sie sich „mit den Positionen und Erklärungen des iranischen Präsidenten [Mahmud Ahmadinedjad], der in ehrenvoller Weise dazu aufrief, Israel von der Landkarte zu streichen, identifiziert und sie vollkommen unterstützt“. Ein prominenter früherer Kommandeure der Brigaden, Zakariya Zubeidi, ermunterte die Fatah-Mitglieder nun, sich auf eine Konfrontation mit Israel vorzubereiten, die durchaus die Form einer weiteren „Intifada“ haben könne.

Passend dazu hatte die Fatah ihren Versammlungssaal mit einem großen Konterfei Yassir Arafats und einem Bild verziert, das ein Maschinengewehr zeigt. Eine solche Dekoration spricht Bände: Es geht der in der Westbank herrschenden Partei nicht darum, wie ein künftiger Palästinenserstaat auszusehen hat, wie er verfasst ist, welche Gesetze er sich zu geben gedenkt und wie beispielsweise das Bildungs- oder das Gesundheitssystem gestaltet sein sollen. Die Fatah hat kein Programm, das Antworten auf solche Fragen gibt. Ihr ganzes Dasein ist weiterhin einzig und allein auf die Zerstörung Israels ausgerichtet; diskutiert werden allenfalls die Mittel und Wege, um dieses Ziel zu erreichen. Wie früher für Yassir Arafat sind auch für Mahmud Abbas Fortschritte in Verhandlungen mit Israel deshalb ein Graus. Was auch immer eine israelische Regierung anbietet – und sei es noch so weitgehend wie die Offerte von Ehud Barak in Camp David –, stets wird die palästinensische Seite, und sei es in allerletzter Minute, sagen: Das genügt uns nicht. Und stets wird sie sich weigern, eigene Vorschläge zu unterbreiten – denn täte sie es, würde sie damit ja zeigen, dass sie sich tatsächlich mit der Existenz des israelischen Staates abfindet. Und das will sie um keinen Preis.

Es ist deshalb nur konsequent, dass die israelische Regierung von Premierminister Benjamin Netanyahu hart bleibt und an die Entstehung eines palästinensischen Staates Bedingungen knüpft, die für Israels Sicherheit existenziell sind: Demilitarisierung, Anerkennung der Roadmap als Verhandlungsgrundlage, Anerkennung Israels als explizit jüdischer Staat. Unannehmbar sind solche Forderungen lediglich für jene, die weiterhin das Ziel eines Nahen Ostens ohne Juden verfolgen. Netanyahu weiß, dass Israel sich im Zweifelsfall nur auf sich selbst verlassen kann und dass es Schlimmeres gibt als einen ungelösten Nahostkonflikt: eine Lösung nämlich, wie sie Israels Feinde anstreben. Und zu diesen Feinden gehört weiterhin auch die Fatah. Es wird Zeit, dass die Palästinenser sich ein Beispiel an der Opposition im Iran nehmen und sich erheben: nicht gegen Israel, sondern vielmehr gegen die Hamas, die Fatah, den Islamischen Djihad und all die anderen antijüdischen Kräfte, die ein Hindernis auf dem Weg zu einem guten oder doch wenigstens erträglichen Leben im Diesseits sind.

Das Foto zeigt (von links) die Hamas-Führer Ismail Hanija und Khaled Meshaal nebst dem Kollegen Mahmud Abbas von der Fatah.

Herzlichen Dank an Julius für wertvolle Hinweise.

3.8.09

Djihad gegen Schalke?



Als zu Beginn des Jahres 2006 der so genannte Karikaturenstreit losbrach, wunderten sich nicht wenige darüber, dass die Randale beleidigter Muslime erst mit einer mehrmonatigen Verzögerung auf die Veröffentlichung von zwölf harmlosen islamkritischen Zeichnungen in der dänischen Zeitung Jyllands Posten folgte. Doch dieser Abstand ist noch gar nichts gegen den Zeitraum, der zwischen der Entstehung des Vereinsliedes von Schalke 04 und den Protesten gekränkter Anhänger des Islam gegen das Stück liegt. Schlappe sechsundvierzig Jahre, nachdem Hans J. König die ursprüngliche Version der 1924 verfassten Hymne „Blau und weiß, wie lieb’ ich dich“ um zwei weitere Strophen ergänzt hatte, echauffieren sich Muslime nun über den kuriosen dritten Abschnitt dieses Schlagers, in dem es heißt:
Mohammed war ein Prophet
Der vom Fußballspielen nichts versteht
Doch aus all der schönen Farbenpracht
Hat er sich das Blau und Weiße ausgedacht
Selbst der so umtriebige wie notorische Yavuz Özoguz, Mitbegründer der Website Muslim Markt, meldete sich erst jetzt zu Wort, nachdem ihn „aufmerksame Geschwister aus dem Ruhrpott, die wohl selbst als Schalke-Fans auf diese Ungeheuerlichkeit aufmerksam geworden sind“, von diesen Zeilen in Kenntnis gesetzt hatten. Özoguz griff in die Tasten und versuchte im Forum des Muslim Markt umständlich zu begründen, warum der Schalker Song eine nicht länger hinzunehmende Verhöhnung des Propheten darstellt. Zwar könne man, findet er, „zunächst das Positive sehen“, denn „immerhin bezeugt erstmalig in der Geschichte der Bundesliga gleich ein ganzer Verein, dass Prophet Muhammad ein Prophet ist“. Aber, ach:
„Blau und weiß [sind] nicht gerade exklusive Farben von Schalke. Bayerns Landesflagge hat genau wie die israelische Flagge diese beiden Farben, aber solch einen weiten Bogen wollen wir nun wirklich nicht spannen. Nur sollte bekannt sein, dass die Farben des Propheten eher grün, weiß, rot und schwarz waren.“
Das ist natürlich in der Tat ein antimuslimischer Affront, ach was, ein islamophober Riesenskandal – allerdings noch nicht lange, wie Özoguz in einem anderen Beitrag für sein Forum so großzügig wie pathetisch konstatierte. Denn früher, als man noch Arm in Arm vonne Zeche ging und den lieben Gott gemeinsam einen guten Mann sein ließ, war alles besser:
„Viele der heute ‚Beleidigten’ waren 1963, als das Lied geschrieben wurde, noch gar nicht geboren. Damals waren es die Kumpel, [die] gemeinsam schwarz untertage arbeiteten, die Schalke-Fans waren; Christen und Muslime gemeinsam in einem Knochenjob! Man hat gemeinsam geduscht und gemeinsam gelebt! Fußball war noch nicht kapitalistisch durchorganisiert! Und vom 11. September wusste niemand etwas! Damals waren jene Passagen eine Verbrüderung von Muslim und Nichtmuslim unter dem Dach eines Vereins, der die Freizeit mitgestaltete. Und im damaligen Kontext waren jene Passagen des Liedes keine Beleidigung, sondern eine Verbrüderung! Heute aber, im Kontext der heutigen Zeit, können solche Passagen leicht missverstanden werden.“
Und deshalb gelte es, umgehend Maßnahmen zu ergreifen: „Wie wäre es, wenn alle Schalke-Fans, die sich als Anhänger des Islam betrachten, ganz einfach nicht mehr zu Schalke gehen?“ Vor einem solchen Boykott könne „man ja noch eine Mail an Schalke versenden, in aller Freundlichkeit und mit aller Sachlichkeit“. Nämlich ungefähr so:
„Sehr geehrte Damen und Herren, als langjähriger Schalke-Fan bin ich erst jetzt auf den Missbrauch des gesegneten und heiligen Namens des Propheten Muhammad – der Friede sei mit ihm – im Vereinslied von Schalke 04 aufmerksam geworden. So gerne ich die Spiele von Schalke 04 auch besuche, haben meine Familie und ich sowie viele Freunde beschlossen, sowohl den Spielen von Schalke 04 fern zu bleiben als auch keinerlei Fan-Artikel mehr zu kaufen, bis jene Strophe aus dem Vereinslied gestrichen wird. Ich gehe nicht davon aus, dass das Lied auf Böswilligkeit gegenüber dem Islam und dem Muslimen beruht, denn sonst würde ich für immer dem Verein den Rücken kehren, sondern auf Unachtsamkeit. Prophet Muhammad ist für uns aber die höchste menschliche Heiligkeit, und sicherlich würden Sie auch nicht beispielsweise Jesus oder nur den Papst, der für Christen eine viel niedrigere Heiligkeit darstellt als Muhammad für Muslime, in solch einem Lied auf diese Weise erwähnen. Daher bitte ich Sie höflichst, schnellstmöglichst auch zu berücksichtigen, dass die Vielzahl muslimischer Anhänger des Vereins einen sensibleren Umgang mit diesem Thema notwendig macht. In der Hoffnung auf Ihr Verständnis usw...“
So mancher von Özoguz’ Glaubensgenossen wird allerdings etwas direkter und gibt sich auch nicht mit einer Boykottankündigung zufrieden, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. Ihr zufolge trudeln beim FC Schalke derzeit E-Mails mit ultimativen Aufforderungen wie diesen ein: „Ihr verdammten Hurensöhne werdet euer beschissenes Lied sofort ändern! Was hat unser Prophet mit eurem ungläubigen Lied zu tun? Löscht diesen Teil, oder ihr müsst die Konsequenzen tragen!“ Und was tut man auf Schalke? Eine Strafanzeige wegen Nötigung und Beleidigung stellen? Aber nicht doch: „Zunächst müssen wir klären, ob es sich hier um künstliche Empörung oder ehrliche Überzeugung handelt“, zitiert die Süddeutsche den Vorsitzenden des Schalker Ehrenrates, Hans-Joachim Dohm – einen pensionierten Pfarrer. Und weiter: „Womöglich wird der Verein jetzt erst einmal anerkannte Islamwissenschaftler konsultieren. Wenn sich Gläubige des Islam durch das Schalke-Lied verletzt fühlten, sei dies aber durchaus ernst zu nehmen, erklärt Dohm. ‚Deshalb sollten wir das Gespräch suchen.’“

Nun darf man gespannt sein, was bei diesen Unterhaltungen herauskommt. Drohen die Surensöhne den Hurensöhnen aus Überzeugung oder nur künstlich mit einem Fußball-Djihad? Wird Schalke „nach über vier Jahrzehnten ein neues Lied komponieren“, wie es Yavuz Özoguz vorschlägt? Lässt sich der Schalker Stümperstürmer mit dem dünnen Bärtchen als Geste des guten Willens in Kevin Koranyi umbenennen? Oder werden die einbestellten Islamwissenschaftler die empörten Muslime mit einem Befund beruhigen, nach dem der Revierklub nicht erst vor 105, sondern bereits vor rund 1400 Jahren gegründet wurde – von Mohammed persönlich nämlich – und die dritte Strophe des Vereinsliedes deshalb eine Hommage an den Propheten darstellt, die letztlich auf das Jägerlied „Lob der grünen Farbe“ des Ludwig Karl Eberhard Heinrich von Wildungen aus dem Jahr 1797 zurückgeht?

Herzlichen Dank an Claudio Casula für einige Steilvorlagen.