29.8.07

Nichts wie weg

Manchmal kann es sinnvoll sein, den Rechner für ein paar Tage ausgeschaltet zu lassen und das Weite zu suchen. Das hat auf jeden Fall den Vorteil, dass der nagelneue Bundestrojaner noch ein bisschen warten muss, bis er es sich auf der Festplatte bequem machen kann (wenn er es denn überhaupt bis dahin schafft und nicht vorher vom Virenscanner und der Firewall höflich, aber bestimmt zur Umkehr ermahnt wird). Doch wohin schweifen, wenn die Kiste ausnahmsweise ruht? Vielleicht nach Kanada? Dort leben auf jeden Fall originelle und widerspenstige Menschen, die angesichts eines drohenden Alkoholtests auch schon mal Kontaktlinsenflüssigkeit trinken, sich anschließend ihre Socken in den Mund stopfen und – nachdem die Polizei ihr Anliegen erst mit Pfefferspray untermauert und ihm anschließend auf der Wache nochmals Nachdruck verliehen hat – zum Finale ihren Kopf in eine Kloschüssel tauchen. Man könnte aber auch nach China fliegen. Da soll es gerade gar nicht so übel sein, nachdem die deutsche Kanzlerin ein „Klima von Respekt und Humor“ erzeugt hat, wie zu erfahren ist. Womöglich handelt es sich aber auch nur um ihr Double; das weiß man nicht so genau, weil in China alles raubkopiert wird, was es nicht bei drei auf die Bäume geschafft hat. Wahrscheinlich also auch Frau Merkel und sogar der Bundestrojaner. Dann schon lieber Italien. Jenseits der Alpen hat man es zumindest nicht so hündisch mit Autoritäten wie hierzulande; ganz im Gegenteil wird der Gerechtigkeit dort bisweilen auf recht respektlose Weise nachgeholfen, besonders beim Fußball. Andererseits brennt dort auch gerade der Baum.

Gleichwie: Lizas Welt wird eine kurze Pause einlegen. Den nächsten Beitrag gibt es voraussichtlich am 7. September.

28.8.07

Die Brandstifter von der Feuerwehr

Es ist, als würde man einen Brandstifter zum Leiter der Feuerwehr machen: Gleich zwei honorige Zusammenkünfte verantworten die Vereinten Nationen dieser Tage, eine zur Vorbereitung der 2009 erneut stattfindenden Antirassismuskonferenz und eine „zur Unterstützung eines israelisch-palästinensischen Friedens“. Das erstgenannte Treffen steht dabei unter der Leitung Libyens und sieht auch für den Iran eine Führungsrolle vor; es findet seit gestern in Genf statt und dauert noch bis zum Freitag. Die letztgenannte Versammlung wird vom UN-Komitee für die Ausübung der unveräußerlichen Rechte des palästinensischen Volkes organisiert, dem unter anderem Staaten wie Afghanistan, Indonesien, Malaysia und Nigeria angehören. Sie geht am Donnerstag und Freitag in Brüssel über die Bühne; ihr Gastgeber ist das Europäische Parlament mit seinem deutschen Präsidenten Hans-Gert Pöttering an der Spitze. Was sich die beiden Konferenzen unter Antirassismus respektive Frieden im Nahen Osten vorstellen, ist unschwer zu erraten: neuerliche antisemitische Tiraden bis hin zu Vernichtungsdrohungen gegen Israel.

Das Meeting in Genf ist dabei von der Uno offiziell beauftragt worden, die Antirassismuskonferenz von Durban aufzuarbeiten und die nun folgende zu planen, die in zwei Jahren stattfindet. Im südafrikanischen Durban sollte Israel wenige Tage vor 9/11 – so wollten es jedenfalls die beteiligten islamischen Länder – als „rassistischer Apartheidstaat“ verurteilt werden, bevor Israel und die USA die Versammlung verließen und diese ihr Vorhaben schließlich fallen ließ. Das parallel tagende NGO-Forum jedoch verabschiedete eine Deklaration, in der Israel des „Völkermords an den Palästinensern“ beschuldigt und Sanktionen „gegen den israelischen Apartheidstaat“ gefordert wurden. Nun steht eine Neuauflage dieser Tragikomödie an, bei der ausgerechnet die Mullahs – die sich bekanntlich die Auslöschung Israels auf die Fahnen geschrieben haben – von den Vereinten Nationen mit einer Regiefunktion betraut wurden. Ein „Durban II“ befürchtet daher die Nichtregierungsorganisation Eye on the UN: „Mit der Wahl des Irans in die Vorbereitungskonferenz werden Rassisten zu UN-Sprechern gegen Rassismus.“ Ihre Sprecherin Anne Bayefsky ergänzte: „Den führenden Exponenten des Antisemitismus – gleich, ob dieser sich nun gegen einzelne Juden oder gegen den jüdischen Staat richtet – wird von den Vereinten Nationen erneut eine globale Plattform gewährt.“ Und das gilt auch für Libyen, das seinen Gaddhafi-Preis schon mal einem ausgewiesenen Holocaustleugner wie Roger Garaudy verleiht.

Von ähnlichem Kaliber wie die Zusammenkunft in Genf ist die Internationale Konferenz der Zivilgesellschaft zur Unterstützung eines israelisch-palästinensischen Friedens in Brüssel. Für sie zeichnet das 22 Mitglieder umfassende UN-Komitee für die Ausübung der unveräußerlichen Rechte des palästinensischen Volkes verantwortlich, das 1975 ins Leben gerufen wurde – nicht zufällig parallel zur Verabschiedung der UN-Resolution 3379, in der Zionismus als eine Form des Rassismus gegeißelt wurde – und seitdem unter anderem alljährlich einen Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk koordiniert. Ihm geht die ebenfalls zur Uno gehörende Abteilung für die palästinensischen Rechte zur Hand, die insbesondere für die administrative und organisatorische Unterstützung des Komitees zuständig ist. Die Teilnehmer der Konferenz repräsentieren vor allem stramm antiisraelische NGOs, die bereits 2001 in Durban maßgeblich zu den antisemitischen Erklärungen gegen den jüdischen Staat beitrugen – womit eindrucksvoll deutlich wird, was im Veranstaltungstitel mit „Zivilgesellschaft“ gemeint ist und worin die „unveräußerlichen Rechte des palästinensischen Volkes“ bestehen sollen, für die die Organisatoren im Namen der Vereinten Nationen eintreten.

Als Festredner werden in der belgischen Hauptstadt neben einem „Repräsentanten Palästinas“ und je einem Gesandten des UN-Generalsekretariats sowie der Europaparlaments nicht zuletzt Vorzeigeantizionisten wie Michael Warschawski, Amira Hass und Jamal Jumaa von der Kampagne gegen die Apartheidmauer erwartet. Auf dem Programm stehen zudem diverse Workshops, unter anderem zum „Vierzigsten Jahrestag der Besatzung“, zur „Stärkung von Kampagnen gegen die Besatzung“ und – das darf nicht fehlen – zum „Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs 2008“. Darüber hinaus will man die Kooperationsmöglichkeiten mit der Europäischen Union ausloten. Und bei der rennt man offene Türen ein, schließlich sorgt sie sich schon lange um ihre palästinensischen Hätschelkinder. Dass die EU durch ihre Einladung nach Brüssel nun auch dieses Treffen bekennender Feinde Israels sponsert, ist deshalb so folgerichtig wie kritikabel: „Überraschend ist nicht die Beteiligung der Uno an der Dämonisierung Israels durch NGOs, sondern dass das EU-Parlament diesen Randgruppen Unterstützung und eine Plattform gewährt“, sagte Gerald Steinberg, geschäftsführender Direktor der Organisation NGO Monitor mit Sitz in Jerusalem. „Aber das ist nur eine weitere Absurdität in der angeblichen Friedenspolitik der EU, die solche radikalen NGOs fördert und ihnen im EU-Parlament Legitimität verleiht.“

Gut möglich übrigens, dass auch der derzeitige Präsident des Europaparlaments der Tagung einen Besuch abstattet. Der heißt Hans-Gert Pöttering, ist Deutscher und hat kürzlich mit einem peinlichen Auftritt vor der Knesset anschaulich demonstriert, was auch Helmut Kohl ritt, als er 1984 am gleichen Ort die „Gnade der späten Geburt“ einklagte. Im Grunde genommen bräuchte Pöttering vor der Konferenz nur seine Jerusalemer Rede zu wiederholen, um abwechselnd Beifallsstürme zu ernten und seine Zuhörer zu Tränen zu rühren: „Die Augen eines palästinensischen Babys – und ich sage das als Vater – strahlen ebenso wie die eines israelischen Babys. Das Lachen von palästinensischen Schülerinnen ist ebenso herzerfrischend wie das Lachen israelischer Mädchen. Palästinensische Jungen lernen ebenso fleißig wie israelische Jungen. Palästinensische Mütter und Ehefrauen weinen ebenso wie israelische, wenn ihre Männer keine Arbeit haben, im Gefängnis sitzen oder tot sind.“

Natürlich weisen die Verantwortlichen beider Versammlungen den Vorwurf weit von sich, antiisraelische Veranstaltungen zu sein. Man ist schließlich kein Antisemit, sondern bloß „Antizionist“ oder „Israelkritiker“. Und damit dem Brandstifter ähnlich, der bei der Feuerwehr anheuert.

Übersetzungen: Lizas Welt

26.8.07

Debütantenbälle

Zwei außergewöhnliche Premieren gab es an diesem Wochenende im deutschen Fußball, doch sie machten keine großen Schlagzeilen – wohl vor allem deshalb, weil sie nicht in der Eliteklasse aufgeführt wurden, sondern im Unterbau, der Zweiten Liga: Beim Spiel zwischen dem FSV Mainz 05 und Borussia Mönchengladbach gab mit dem Mainzer Stefan Markolf (23) am Freitag der erste Gehörlose im Lizenzspielerbetrieb seinen Einstand. Bei den Gästen wiederum kam Roberto Colautti (25) zum Debüt für seinen neuen Klub. Er ist der dritte israelische Profi in Deutschland – und der erste seit zwanzig Jahren.

Stefan Markolf (Foto, links) ist von Geburt an zu 90 Prozent taub. Fußball gespielt hat er schon mit fünf Jahren, in seinem Geburtsort Witzenhausen in der Nähe von Göttingen. Auf dem Platz trägt er widerstandsfähige Hörgeräte, mit denen er Umweltgeräusche jedoch nur bedingt wahrnehmen kann. Sein Gleichgewichtssinn hingegen funktioniert einwandfrei. „Im Verhalten auf dem Platz sieht man dem linken Verteidiger seine Beeinträchtigung dennoch an“, schrieb Daniel Meuren im Tagesspiegel, „im positiven Sinn: Markolf blickt sich deutlich mehr um als anderen Spieler, er sucht öfter den Augenkontakt zu Mitspielern und stimmt mit Gestiken das Verhalten im Abwehrspiel ab“. Gelegentlich kommt es vor, dass er einen Pfiff des Schiedsrichters überhört und weiterspielt; die Referees werden jedoch vor dem Spiel in Kenntnis gesetzt, und daher gibt es auch keine Gelbe Karte.

„Ich habe gegenüber anderen Spielern den Vorteil, dass ich die ganzen Rufe von Mitspielern und von der Seitenlinie nicht höre“, sagt Stefan Markolf, „da rufen ja teilweise drei auf einmal, weil sie alle denken, dass sie am besten positioniert sind“. Das beeinflusst ihn nicht, und so hat er mehr Ruhe, um sich den nächsten Spielzug zu überlegen. Sein Trainer Jürgen Klopp bestätigt: „Stefan hat tatsächlich eine sehr gute Spielübersicht, weil er darauf mehr angewiesen ist als andere Spieler.“ Markolf ist sogar Nationalspieler – in der deutschen Auswahl der Gehörlosen, die 2008 an der Weltmeisterschaft teilnimmt. Ob der Mainzer mit dabei ist, ist allerdings noch nicht sicher – sein Klub braucht ihn ebenfalls. Einen Gebärdendolmetscher muss er übrigens nicht in Anspruch nehmen: Den Anweisungen seines Trainers folgt er, indem er sie ihm im Wortsinne von den Lippen abliest, und seinen Mitspielern kann er sich sprachlich ohne Einschränkung mitteilen.

Letzteres gilt für Roberto Damian Colautti (Foto, rechts) noch nicht, denn sein Wechsel nach Mönchengladbach kam erst vor wenigen Tagen zustande, und so blieb bisher kaum Zeit für den Neuzugang, um sich mit der deutschen Sprache vertraut zu machen. Colautti ist gebürtiger Argentinier und mit einer Israelin verheiratet. Vor drei Jahren wechselte er von den Boca Juniors Buenos Aires zu Maccabi Haifa, für die er in 90 Erstligaspielen 39 Tore schoss – eine sehr gute Bilanz. Noch besser fällt sie jedoch in Bezug auf seine Einsätze in der israelischen Nationalmannschaft aus, für die er seit September letzten Jahres unterwegs ist: Mit sechs Toren in sieben Spielen trug er maßgeblich dazu bei, dass sie sich weiterhin berechtigte Hoffnungen machen darf, an der Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz teilnehmen zu können. Die Borussia hat also einen erfolgreichen Torjäger unter Vertrag genommen, für drei Jahre und eine Ablösesumme, die bei 1,5 Millionen Euro gelegen haben soll.

Dass es gerade die Gladbacher waren, die Colautti verpflichteten, ist dabei kein Zufall. Denn dort sieht man sich bei der Kooperation mit Israel in einer „Vorreiterrolle“, wie Geschäftsführer Stephan Schippers betont. Zu Recht: Schon im August 1969 trug man auf dem heimischen Bökelberg ein Freundschaftsspiel gegen das Nationalteam des jüdischen Staates aus. Und auch der allererste israelische Profi in Deutschland spielte bei den Niederrheinern: Shmuel Rosenthal lief in der Spielzeit 1972/73 dreizehn Mal für den fünffachen Deutschen Meister auf und erzielte dabei ein Tor, nämlich das 2:0 beim 3:1-Sieg gegen Hannover 96. Am Saisonende war Rosenthal DFB-Pokalsieger; im Uefa-Cup verlor sein Klub erst im Finale gegen Liverpool, und in der Bundesliga erreichte er den fünften Platz. Dennoch musste der dreifache israelische Nationalspieler Mönchengladbach wieder verlassen, „wegen seiner zuweilen allzu sorglosen Interpretation der Libero-Rolle“, wie es in der offiziellen Vereinschronik heißt. Länger als Rosenthal spielte David Pizanti in der Bundesliga, nämlich zwischen 1985 und 1987 für den 1. FC Köln. Er kam in dieser Zeit auf 19 Spiele in der höchsten deutschen Spielklasse, und auch sein Klub stand in einem Uefa-Pokal-Endspiel, das er ebenfalls verlor: gegen Real Madrid.

Es hat nicht nur sportliche Gründe, dass Roberto Colautti erst der dritte israelische Spieler hierzulande ist, sondern auch die obligatorischen politischen: „Schon 1972 wurden aus dem Gladbacher Kader Ängste geäußert, die sich mit der allgegenwärtigen Terrorgefahr beschäftigten“, erinnerte Roland Leroi in der Welt. „Der damalige Manager Helmut Grashoff versuchte derlei Sorgen trotz des Attentats auf israelische Sportler bei den Olympischen Spielen in München im September 1972 zu verwischen. Am Ende entpuppten sich die Befürchtungen als grundlos.“ Darauf hofft nun, 35 Jahre später, auch Grashoffs Nachfolger Schippers: „Wir haben uns über dieses sensible Thema natürlich Gedanken gemacht, sehen aber keine Veranlassung zu weiterführenden Maßnahmen“, sagte er. „Unser Busfahrer wird jetzt nicht mit einer Waffe ausgerüstet.“ Anders stellt sich die Lage beim Qualifikations-Rückspiel Deutschlands gegen Israel für die U21-Europameisterschaft dar, das am 8. September nächsten Jahres ausgetragen wird: Man werde vor allem „bei der Auswahl des Stadions die Sicherheitsfrage berücksichtigen“, kündigte DFB-Sprecher Jens Grittner an.

4:1 für die Gastgeber aus Mainz endete der Debütentenball in der Zweiten Liga übrigens, weshalb Stefan Markolf sich vermutlich deutlich lieber an seinen Einstand erinnern wird als Roberto Colautti. Zudem wurde ersterer schon nach 21 Minuten eingewechselt – da hieß es bereits 2:0 –, während der Gladbacher 78 Minuten warten musste, bis er eingreifen durfte. Beim Spielstand von 1:4 gegen sein Team vermochte aber auch er nichts mehr zu retten.

23.8.07

Hemmungslose Herrenrasse

Das Strickmuster ist im Grunde immer das gleiche: In einem ostdeutschen Kaff werden Menschen, die nicht so aussehen, als könnten sie jederzeit der NPD beitreten, gejagt und halb oder ganz tot geschlagen. Der Bürgermeister beharrt gleichwohl darauf, in seinem Örtchen gebe es gar keine Rechtsradikalen, und fürchtet oder beklagt einen Imageschaden. In Politik und Medien heißt es, der Standort respektive das Ansehen Deutschlands im Ausland sei in Gefahr – was bekanntlich weit schwerer wiegt als Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit der Opfer –, weshalb man künftig runde Tische organisieren, Zivilcourage lehren, die NPD verbieten, Aktionsprogramme ins Leben rufen und der Jugend andere Perspektiven, als alles Undeutsche kurz und klein zu hauen, offerieren müsse. Gleichzeitig vergisst kaum jemand zu betonen, im Osten gebe es nach zwei Diktaturen nun mal ein Demokratiedefizit – was wohl heißen soll, dass die jeweiligen Schläger oder Messerstecher nicht so recht Herr ihrer Sinne, sondern letztlich auch nur Opfer der Verhältnisse seien, Modernisierungsverlierer sozusagen. In der betroffenen Ortschaft zeigt man sich dessen ungeachtet störrisch, lässt die Jalousien herunter, weist alle Vorwürfe von sich und schilt die Medien, die das alles bloß hochspielten. Im Fall der Attacke eines fünfzigköpfigen deutschen Pogrompöbels auf acht Inder in Mügeln war das kein bisschen anders.

Fast auf den Tag genau fünfzehn Jahre zuvor hatte ein Mob von Deutschen versucht, zumindest den Rostocker Stadtteil Lichtenhagen mit Brandsätzen ausländerfrei zu machen. Seinerzeit reagierte die Politik darauf mit jeder Menge Verständnis und der Konsequenz, das Asylrecht faktisch einfach abzuschaffen; schließlich könne man der Bevölkerung den „massenhaften Asylmissbrauch“ nicht mehr zumuten. Derlei ist heute nicht mehr zu vernehmen, und zwar vornehmlich aus zwei Gründen: Zum einen gibt es am Artikel 16 des Grundgesetzes oder dem Ausländerrecht nicht mehr viel zu verschärfen; zum anderen hat der Pogromismus sich tatsächlich als echtes Investitionshindernis erwiesen und daher ausgedient. Als guter Deutscher hat man nun seine Vergangenheit bewältigt und bringt deshalb keine Ausländer mehr um, sondern beurteilt sie zuvörderst nach ihrem Nutzen für Staat und Vaterland: Wenn sie in irgendeiner Weise geeignet sind, für Weltoffenheit und Toleranz zu bürgen – wie bei der Fußball-Weltmeisterschaft –, wenn sie Kongruenzen mit den handelsüblichen deutschen Feinden zu bieten haben – wie nicht wenige Muslime – oder ökonomisch wertvoll sind, umgarnt man sie oder lässt man sie doch zumindest weitgehend in Ruhe.

Im Osten der Republik ist das allerdings anders. Das Argument mit dem Standort beispielsweise zieht dort nicht, denn er ist gar keiner, und deshalb entfällt noch ein Grund, irgendeine Form von taktischer Zurückhaltung zu üben. Nur werden die Angriffsobjekte immer weniger, weil kaum noch Ausländer, Punks oder Obdachlose in der Zone leben, wenn es sich vermeiden lässt. Falls es dann doch einmal ein paar Asiaten, deren Schnellimbiss ansonsten als Erweiterung der eintönigen Speisekarte geduldet wird, aufs Dorffest verschlägt, braucht es nicht viel, um die Volksseele zum Kochen zu bringen. „Der verordnete Antifaschismus der DDR mag als Lebenslüge noch so oft dekonstruiert worden sein“, schrieb die kommunistischer Neigungen bekanntermaßen unverdächtige FAZ, „vielen Ostdeutschen ist er trotzdem die wirksamste Arznei gegen braune Ideologie gewesen“. Denn damals war er noch ein Standortvorteil, weil es Faschismus nur im Westen geben sollte und das Wohlverhalten entsprechend sanktioniert wurde. Das ist anders geworden, und daher bricht sich seit 1989/90 immer wieder Bahn, was ohnehin nie verschwunden war.

Dazu bedarf es nicht einmal unbedingt einer organisierten Neonaziszene, denn wenn es darum geht, noch den letzten Zugereisten nichtarischen Teints – ersatzweise auch „Zecken“ oder „Penner“ – mindestens in die Flucht zu schlagen, wird so mancher brave Bürger zum hemmungslosen Hooligan. Gut möglich also, dass der Mügelner Bürgermeister Gotthard Deuse durchaus die Wahrheit spricht, wenn er behauptet: „Ich kenne unsere Jugendlichen, da ist kein Rechtsextremer dabei.“ Als ob es besser wäre, wenn CDU-, SPD- oder Linksparteiwähler die Hatz betreiben respektive beklatschen. Die Rechtsradikalen, die in Ostdeutschland auf ihre „national befreiten Zonen“ stolz sind und in einigen Orten längst mehr zu sagen haben als gewählte Kommunalpolitiker, setzen die Parole „Alle Gewalt geht vom Volke aus“ nur besonders einsatzfreudig und konsequent um, stets jedoch mit dem entsprechenden Rückhalt. Mit Protest, der in diesem Zusammenhang nicht selten als Beweggrund ausgemacht wird, hat das übrigens nichts zu tun: Es ist schlicht eine konformistische Rebellion, die nach mehr und gnadenloserer staatlicher Härte ruft und dabei schon mal demonstriert, wie das auszusehen hat.

Rasereien der Marke Mügeln belegen regelmäßig, wie dünn hierzulande vor allem im Osten die zivilgesellschaftliche Hülle ist, die den volksgemeinschaftlichen Kern umgibt. Der autoritäre Charakter sucht sich immer wieder eine lustvolle Befriedigung in der Erniedrigung anderer; sein klägliches Leben trachtet nach einer Sinnstiftung durch die Zugehörigkeit zu kleineren und größeren Kollektiven – der Familie, dem Betrieb, dem Schützenverein, der Dorfgemeinschaft, der Nation – und durch den verbalen wie tätlichen Angriff auf alles, was nicht dazu gehört und es auch nicht soll. Wem das Leben sonst nichts zu bieten hat, der kann sich immer noch daran halten, Teil der Herrenrasse zu sein – mit den bekannten Aufgaben und Folgen. Die projektive Energie, die daraus erwächst, ist enthemmend und wirkt wie ein Elixier für den Exzess gegen das Abweichende: Nicht zuletzt deshalb setzte der Ausländer-raus-Mob in Mügeln alles daran, seinen Opfern auch noch nach deren Flucht in eine Pizzeria mit dem tragischen Namen Picobello den Garaus zu machen, und dabei attackierte er folgerichtig sogar die Staatsgewalt mit Flaschen, Gläsern und Bierbänken.

Da runde Tische, Exit-Programme, Zivilcourage-Workshops und andere sozialarbeiterische Sperenzchen offenkundig und nachweislich nichts fruchten, muss es – vor allem kurzfristig – darum gehen, spontane wie organisierte Angriffe auf Leib und Leben möglichst effektiv zu unterbinden. Ob dazu die Alliierten wieder einmarschieren müssen oder es auch von der Bundeswehr überwachte Ausgangssperren tun, wird sich weisen. Wenn schon verordneter Antifaschismus, dann so einer.

21.8.07

Märtyrerturniere

Dem Sport im Allgemeinen und dem Fußball im Besonderen wird oft und gerne nachgesagt, „völkerverbindend“ und dem „Abbau von Feindbildern“ dienlich zu sein. Dahinter steht der Gedanke vom fairen Wettkampf unter letztlich Gleichgesinnten, der grenzüberschreitend sei und etwaige Differenzen per allseits akzeptierter Mittel überwinden möge. Eine naive Weltsicht und eine romantizistische obendrein, die handfeste und teils grundsätzliche Interessenunterschiede einebnet und sie am liebsten auf das Feld der Zeiten, Weiten und Tore verlagern möchte, auf dass, wie es immer mit kindlich-sonnigem Gemüt heißt, der Bessere gewinnen möge. Auch der Weltfußballverband Fifa folgt von Amts wegen diesem Leitmotiv, und dabei entgeht der Öffentlichkeit allzuoft, dass die Protagonisten dieser Organisation selbstverständlich handfeste Politik betreiben, die jedoch – gerade weil sie vordergründig so harmlos und menschelnd daherkommt – als unpolitisches Engagement für die gerechte Sache wahrgenommen werden soll. Vor diesem Hintergrund werden nicht selten Fakten geschaffen, die in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen sind. Denn die Fifa orientiert sich nicht zwangsläufig an bestehenden politischen Grenzen, sondern zieht ihre eigenen. Und daher gehören dem Verband auch Mitglieder an, die keinem international anerkannten Staatswesen zuzurechnen sind.

Eines davon ist die Palestinian Football Federation (PFF), 1964 gegründet und 1998 aufgenommen. Seit neun Jahren darf Palästina also offiziell Länderspiele austragen und an der Qualifikation zu internationalen Turnieren wie der Weltmeisterschaft teilnehmen (bei den Ausscheidungsspielen zu den Wettkämpfen 2002 in Japan und Südkorea sowie 2006 in Deutschland scheiterte die Auswahl jedoch bereits frühzeitig). Darüber hinaus erfreuen sich die palästinensischen Kicker einer besonderen finanziellen und logistischen Förderung durch den Weltverband, etwa in Form des Goal-Projekts, mit dem, so heißt es, die fußballerische Infrastruktur verbessert werden soll. Gegen letzteres wäre gewiss nichts einzuwenden, würden die Sportplätze nicht regelmäßig auch anderen Zwecken dienen – etwa als Trainingslager für Djihadisten oder als Raketenabschussrampen –, und würden Fußballspiele in den palästinensischen Gebieten nicht immer wieder in antisemitische Manifestationen verwandelt. So wurde beispielsweise 2003 ein Turnier nach einem Selbstmordattentäter benannt, der im März des Vorjahres im Park Hotel Netanya 31 Menschen bei einer Pessach-Feier getötet hatte; darüber hinaus kam dessen Bruder die Ehre zu, dem Sieger den Pokal überreichen zu dürfen. Die Fifa mochte dazu keine Stellung beziehen – genauso wenig wie etwa im Oktober 2003, als im Restaurant Maxim in Haifa drei Funktionäre des lokalen Fußballklubs Maccabi bei einem Selbstmordattentat verletzt wurden.

Nun fand in einer Schule in Tulkarem, das in der Westbank liegt, ein Fußballturnier statt – und auch dieses trug den Namen eines mörderischen Judenhassers, wie Palestinian Media Watch berichtet: Ziyad Da’as, ein städtischer Kommandeur der Tanzim-Milizen innerhalb der Fatah, war für die Planung eines Attentats verantwortlich, bei dem im Januar 2002 während einer Bat Mitzvah-Feier in Hadera sechs Menschen ermordet und 30 verletzt wurden, und er stand zudem hinter der Entführung und Ermordung zweier Israelis in Tulkarem im gleichen Monat. Im August jenes Jahres töteten ihn schließlich israelische Soldaten. Grund genug für die Schulleitung in Tulkarem, seiner mit einem Wettbewerb zu erinnern, und Anlass für eine Zeitung der Palästinensischen Autonomiebehörde, ihn als „einen der mutigen Menschen des palästinensischen Widerstands“ zu rühmen, den „die israelischen Besatzungstruppen kaltblütig ermordeten“: „Am Ende des Turniers bezeugten die Zuschauer, dass der Wettkampf geeignet war, des mutigen Märtyrers Ziyad Da’as, die Gnade Allahs sei mit ihm, zu gedenken, und dass alljährlich ein Turnier an seinem Todestag stattfinden soll.“ Die diesjährige Ausscheidung gewann übrigens eine Mannschaft, die sich nach den „Märtyrern“ des südlichen Viertels von Tulkarem benannt hatte.

Eine Kritik der Fifa ist gleichwohl erneut nicht zu vernehmen. Aber vielleicht ist die Bezeichnung Goal-Projekt ja auch wörtlicher gemeint, als man bisher dachte.

18.8.07

Ein Dutzend Nebbichs

Der Berg kreißte zwar, doch er gebar nur ein Mäuslein: Gerade einmal ein Dutzend übellauniger Mitstreiter brachte die Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden auf die Beine, um dem Kaufhof respektive seinen Aktionswochen Kulinarisches Israel in Berlin zu trotzen. Die Feinkostabteilung des Warenhauses beendete den Nachmittag jedenfalls als klare Siegerin – kein Wunder: Wer will schon ernsthaft bei einer Mahnwache darben, wenn ein paar Schritte weiter Gaumenfreuden wie Dattel-Walnuss-Marmelade, Olivenpaste und Golan-Wein warten?

Henryk M. Broder hatte ursprünglich zwar andere Pläne, als sich einen Haufen biestiger Boykotteure anzusehen, aber er packte schließlich doch die Digitalkamera ein und machte sich auf den Weg nach Berlin-Mitte. Lesen und sehen Sie im folgenden Beitrag mehr von den zwölf Nebbichs, die auch am Schabbat den lieben Gott keinen guten Mann sein lassen wollen, und von anderen Skurrilitäten, die sich an einem Samstagnachmittag in der deutschen Hauptstadt so zutragen.


Henryk M. Broder

Die Weisen vom Alex


Eigentlich hatte ich heute nicht vor, das Haus zu verlassen. Schon am Morgen wurde mein neuer Kühlschrank im Retro-Look angeliefert; der alte war zu klein geworden, vor allem für die Magneten, die ich an der Tür und einer Außenwand nicht mehr unterbringen konnte. Die wollte ich nach Größen, Farben und Motiven neu sortieren und dabei isländische Kaffeehausmusik von Ragnar Bjarnason hören.

Gegen 11 Uhr rief Daniel an. „Kommst du mit, Verrückte gucken?“ – „Veganer, Herta BSC-Fans oder moderate Taliban?“, fragte ich. „Viel besser“, sagte Daniel, „jüdische Stimmen für eine gerechte Endlösung der Nahostfrage“.

Da ich vergessen hatte, den Mini aus der Werkstatt zu holen, nahm ich den Hummer. Ich mache das ungern bei Stadtfahrten, erstens wegen der Umweltbelastung, zweitens weil er mir neulich zerkratzt wurde, als ich ihn in der Oranienstraße auf einem Behindertenparkplatz abstellte. Ich parkte hinter dem Roten Rathaus, in Sichtweite einer Polizeiwache, und ging die letzten zweihundert Meter zu Fuß. Vorbei an einem Wagen mit Thüringer Bratwürsten, einem Stand der Scientologen und etlichen Hütchenspielern mit Migrationshintergrund, die damit beschäftigt waren, Berlinbesucher auszurauben.

In einiger Entfernung sehe ich eine lange Menschenschlange am Fuß des Fernsehturms. Das müssen sie sein, denke ich, „die jüdischen Stimmen“ für eine gerechte Endlösung der Nahostfrage. Und freue mich schon auf ein Wiedersehen mit der „Tochter“ und dem GröVaZ. Aber es waren nur Touristen, die sich Berlin von oben ansehen wollten, aus 204 Metern Höhe.

Ich gehe weiter, Richtung S-Bahnhof, vorbei an einem Marionettenspieler und einigen Dönerbuden. Auf der Nordseite des Bahnhofs lümmeln ein paar Hertha-Fans, in nüchterner Vorfreude auf das Spiel gegen den VfB Stuttgart, ohne den Stand der Bürgerbewegung Solidarität wahrzunehmen. Die deutschen Hiwis von Lyndon LaRouche und seiner reizenden Frau Helga verteilen Werbeschriften für eine „weltweite Wirtschafts-Revolution“. Kernpunkt des Programms ist der Bau eines Eisenbahntunnels unter der Beringstraße, der Alaska mit Sibirien verbinden soll. Keine schlechte Idee, aber nicht einfach zu realisieren, fast so schwierig wie die Schaffung eines demokratischen, säkularen Palästinenserstaates unter der Führung der Hamas.

Und gleich neben den BüSo-Leuten stehen sie tatsächlich, die „jüdischen Stimmen“ für eine gerechte Endlösung der Nahostfrage. Ich hätte die Gruppe beinahe übersehen. Zwölf Leute, die so unglücklich aussehen, als hätte man ihnen den Eintritt zu einem Konzert der Wildecker Herzbuben verweigert und sie ersatzweise zu einer Techno-Party geschickt. Sie halten selbst gemalte Transparente hoch, auf denen sie alles Mögliche fordern, unter anderem das sofortige Ende der Besatzung und des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel sowie „Fair Trade“, womit sie einen Boykott israelischer Produkte meinen, die aus „illegalen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten“ kommen.

Ich frage eine Demonstrantin, warum nur so wenige „jüdische Stimmen“ zu der Demo gekommen sind. Sie sagt, auf die Zahl komme es nicht an; außerdem sei heute Schabbat, da blieben viele lieber daheim. Ich frage, warum Moishe Arye Friedman, der Vorsitzende der ultraorthodoxen antizionistischen Gemeinde im zweiten Wiener Bezirk, nicht gekommen ist. Er ist doch bis nach Teheran gefahren, um an der Holocaustleugner-Konferenz teilzunehmen. Ich habe Friedman zuletzt auf dem Schwedenplatz in Wien getroffen, wo er meine Einladung in ein Café damit beantwortete, dass er gleich die Polizei holte, bei der er sich darüber beschwerte, dass ich ihn entführen wollte. „Ich kenne ihn nicht“, sagt die Demonstrantin. Da stehen sie nun, wie bestellt und nicht abgeholt, ein Dutzend Nebbichs, die Sand im Getriebe des Weltgeschehens spielen wollen.

Zu Hause warten 333 Magneten auf mich, sie wollen auf meinem nagelneuen Retro-Kühlschrank platziert werden. Daniel und ich gehen zu Starbucks am Hackeschen Markt, und wir skypen ein wenig mit Freunden in Singapur, Honolulu und Kempten im Allgäu. Morgen um die gleiche Zeit bin ich schon am Strand von Tel Aviv, und die „jüdischen Stimmen“ stehen sich noch immer am Alex die Beine in den Bauch.

Jedem das Seine.

Fotos: Henryk M. Broder und Daniel Fallenstein

17.8.07

Ein Gläschen in Ehren

Bisweilen haben die Weltläufte schon ein absurdes Theater im Programm: Im April 1933 boykottierten die Nationalsozialisten Warenhäuser, die Juden gehörten, darunter jene der Leonhard Tietz AG; deren Geschäfte wurden schließlich „arisiert“ und heißen seither Kaufhof. Nun veranstaltet just dieser Kaufhof in vielen seiner Filialen noch bis zum 25. August die Aktion Kulinarisches Israel und bietet dabei koschere Lebensmittel an. Gegen diese Werbemaßnahme richtet sich wiederum ein Boykottaufruf mit dem Motto „Fair Trade – auch mit Israel!“, verfasst von der Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden und dem Arbeitskreis Nahost, zwei stramm antizionistischen Gruppen. Die Begründung: „Galeria Kaufhof verkauft israelische Siedlungsprodukte aus dem besetzten palästinensischen Westjordanland und aus den annektierten syrischen Golan-Höhen. [...] Von den etwa 40 beteiligten Unternehmen haben mindestens fünf direkte Beziehungen zu den völkerrechtswidrigen Siedlungen im Westjordanland und in den Golan-Höhen.“

Also fordert man „die Kaufhof Warenhaus AG auf, Produkte aus den israelischen Siedlungen aus dem Sortiment zu nehmen und zu überprüfen, welche weiteren Waren mit den Siedlungen verwoben sind“. Die „Israel-Wochen“ sollten derweil ausgesetzt werden. Alsdann richten sich die Boykotteure mit Nachdruck an die Kundschaft: „Schließen Sie sich bitte diesen Forderungen an! Verweigern Sie sich als Verbraucher und Verbraucherin einer Unterstützung von Besatzung und Siedlungspolitik!“ Es folgen Ausführungen über die „Kräuter der Apartheid“ sowie eine akribische Aufzählung von Unternehmen, die in oder mit israelischen Siedlungen wirtschaften, bevor das Pamphlet mit der obligatorischen Litanei gegen den jüdischen Staat schließt: „Siedlungspolitik und Besatzung bedeuten für die Palästinenser: Wasserknappheit, Landraub, Zerstörung eines erträglichen Alltagslebens, Einzwängung in Kantone, bis zu etwa 600 Kontrollposten (Checkpoints), die Mauer/Sperranlage, ein faktisches Apartheidsystem in allen Lebensbereichen, ‚gezielte Tötungen’ durch Verbände der israelischen Armee (mit vielen umgebrachten palästinensischen Zivilisten), Armut und Traumatisierung: Bis heute terrorisieren z.B. Verbände der israelische Armee jede Nacht die Bewohner des Flüchtlingslagers Jenin durch Lärm.“

Und beim Schreiben von Flugblättern belassen es die furchtlosen Rächer der Enterbten nicht: Am kommenden Samstag wollen sie zudem eine Mahnwache auf dem Berliner Alexanderplatz ins Werk setzen – vor dem Eingang zu besagtem Warenhaus. Blasen dort also neuerlich Antisemiten zum Boykott? Ach was: bloß „Israelkritiker“, die ein von den Nazis entjudetes Geschäft daran hindern wollen, ein bisschen Merchandising mit Produkten aus dem jüdischen Staat zu betreiben. Das nennt man dann wohl Antifaschismus. Gut, dass Leonhard Tietz, der Gründer des ersten Kaufhauses in Deutschland, das nicht mehr miterleben muss.

Update 18. August 2007: Henryk M. Broder über ein Dutzend Nebbichs vor dem Kaufhof am Alex.

Lesetipp: Karl Selent: Ein Gläschen Yarden-Wein auf den israelischen Golan. Polemik, Häresie und Historisches zum endlosen Krieg gegen Israel, ça ira Verlag, Freiburg 2003.

15.8.07

Berliner Amateurgroteske

Dass sich ein ordentliches Gericht mit der Frage befassen muss, in welcher Klasse ein Fußballverein kicken darf, kommt nicht alle Tage vor; schließlich werden solche Dinge in der Regel auf sportlichem Wege geklärt. Doch nun hat der TuS Makkabi Berlin per einstweiliger Verfügung erwirkt, dass seine zweite Mannschaft in der höchsten Kreisliga der Hauptstadt spielen kann. Vorangegangen war eine ganze Reihe schier unglaublicher Fehler und Versäumnisse der Sportgerichtsbarkeit, deren Beginn fast ein Jahr zurückliegt: Damals führten antisemitische Ausschreitungen zum Abbruch eines Makkabi-Spiels.

Beim Spiel der Reservemannschaft der VSG Altglienicke gegen die Zweitvertretung von Makkabi hatte im September 2006 eine Gruppe von Neonazis unablässig Hassparolen wie „Synagogen müssen brennen“, „Führer, Führer, Führer“, „Auschwitz ist wieder da“, „Dies ist kein Judenstaat, dies ist keine deutsche Judenrepublik“, „Vergast die Juden“ und „Wir bauen eine U-Bahn bis nach Auschwitz“ gegrölt. Der Schiedsrichter wollte davon jedoch nichts mitbekommen haben und reagierte auch auf mehrere eindringliche Hinweise von Makkabi-Spielern nicht. Der gastgebende Verein blieb ebenfalls untätig. Nach 78 Minuten verließen die Gästekicker deshalb den Platz; die Partie war damit vorzeitig beendet. In der anschließenden Sportgerichtsverhandlung wurde der Referee lebenslänglich gesperrt (inzwischen darf er allerdings wieder Spiele in der Freizeitliga pfeifen); die VSG Altglienicke hingegen kam ausgesprochen glimpflich davon: Sie musste lediglich zwei Heimspiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit austragen (die in den Kreisligen ohnehin kaum anwesend ist), an einem „Seminar gegen Rassismus“ teilnehmen und Platzordner stellen, die bei antisemitischen oder rassistischen Parolen einschreiten sollen. Geldstrafen, Punktabzüge oder Sperren gab es nicht.

Das abgebrochene Spiel wurde neu anberaumt und musste wiederum abgebrochen werden, diesmal jedoch, weil der Platz unbespielbar geworden war. Im dritten Anlauf am 25. März dieses Jahres konnte die Partie dann zu Ende geführt werden, mit einem 4:1 für Altglienicke II. Weil der Klub jedoch sieben Spieler aus seiner ersten Mannschaft eingesetzt hatte, legte Makkabi Einspruch ein und bekam Recht: Das Sportgericht befand am 23. April, der Einsatz von Kickern der „Ersten“ in der „Zweiten“ sei „erst nach Ablauf von 10 Tagen, spätestens jedoch nach zwei tatsächlich stattgefundenen Punktspielen“ der ersten Mannschaft zulässig.* Diese Fristen habe Altglienicke nicht beachtet, weshalb das Match mit 6:0 Toren und 3 Punkten für Makkabi gewertet wurde. Anschließend wurden die entsprechenden Tabellen amtlich korrigiert. Die Angelegenheit schien beendet. Makkabis Reserveteam schloss die Saison Anfang Juni als Dritter der Kreisliga B ab und stieg dadurch auf.

Doch am 5. Juli – einen Monat nach dem Ende der Spielzeit 2006/07 – trudelte unerwartet ein neues Urteil ein. In ihm hieß es jetzt, der erstinstanzliche Spruch sei aufgehoben worden; das Wiederholungsspiel werde nun doch gewertet wie ausgetragen, also mit einem 4:1 für Altglienicke. Dadurch war Makkabi nur noch Vierter und kein Aufsteiger mehr. Das Verbandsgericht des Berliner Fußball-Verbands (BFV) hatte die Fristenregelung für den Einsatz höherklassiger Spieler in der Reserve eines Klubs anders ausgelegt; der entsprechende, nicht eindeutig formulierte Passus in der Spielordnung – „erst nach Ablauf von 10 Tagen, spätestens jedoch nach zwei tatsächlich stattgefundenen Punktspielen“ – beziehe sich auf die jeweiligen zweiten Mannschaften, nicht auf die ersten. Somit sei der VSG Altglienicke kein Verstoß vorzuwerfen.

Allerdings hatte das Verbandsgericht zwei schwere Fehler begangen: Zum einen hatte es den TuS Makkabi nicht, wie vorgeschrieben, von der Berufung der Altglienicker – die bereits am 8. Mai eingegangen war – in Kenntnis gesetzt; zum anderen hatte es seine Entscheidung nicht innerhalb der vorgesehenen Frist von 18 Tagen getroffen, sondern erst nach zwei Monaten. „Man kommt nicht umhin zu vermuten, dass der TuS Makkabi bewusst im Glauben belassen wurde, das Sportgerichtsurteil sei rechtskräftig geworden und die drei Punkte aus dem Wiederholungsspiel seien gesichert“, zeigte sich Makkabis Präsident Tuvia Schlesinger (Foto) befremdet. Er wandte sich an das Präsidium des BFV, wies es auf die gravierenden Fehler der Fußballjuristen hin und bekam zur Antwort, es bleibe nur die Möglichkeit eines „Gnadengesuchs“ beim Verbandsvorstand. Darauf wollte sich Schlesinger nicht einlassen: „Es kann nicht sein, dass wir als Opfer des unsportlichen Verhaltens von Altglienicke und angesichts der offensichtlichen, schweren Formfehler des Verbandsgerichts als Geschädigter um Gnade bitten sollen.“ Er schlug als Kompromiss eine Aufstockung der Kreisliga A von 16 auf 17 Mannschaften vor. Anders sei die Angelegenheit nicht befriedigend zu regeln.

Schließlich kam es doch noch zu einer erneuten Verhandlung vor dem Verbandsgericht, das diesmal in anderer Besetzung tagte. Am 2. August fällte es sein abschließendes Urteil: Die „schwer wiegenden Verfahrensmängel der vorerkennenden Kammer“ seien zwar nicht von der Hand zu weisen; dennoch bleibe ihr Beschluss in Kraft, die Punkte aus dem Wiederholungsspiel der VSG Altglienicke zuzuerkennen, auch wenn das „bedauerlich für den TuS Makkabi“ sei und einen „bitteren Beigeschmack“ habe.* Der Vorschlag einer Aufstockung der Kreisliga A wurde rundweg abgelehnt. Tuvia Schlesinger bat das BFV-Präsidium daraufhin neuerlich darum, aktiv zu werden, doch dort winkte man nun ab: Es werde in dieser Angelegenheit nichts mehr unternommen.

Makkabi blieb letztlich nichts anderes übrig, als die Justiz einzuschalten. Ende letzter Woche beantragte der Klub angesichts des bevorstehenden Saisonbeginns eine einstweilige Verfügung, die kurz darauf vom Berliner Landgericht bestätigt wurde. Nun erwägt der BFV, Rechtsmittel einzulegen, und auch der Deutsche Fußball-Bund (DFB) überlegt, ob er tätig werden soll. Die beiden Verbände fürchten um ihre Autonomie und darüber hinaus ein Durcheinander im Spielplan, sollte die Zugehörigkeit des TuS Makkabi erst nach einem längeren Gerichtsprozess geklärt sein. Immerhin erkannte DFB-Präsident Theo Zwanziger: „In den unteren Klassen haben wir es mit Menschen zu tun, die sich für Fußball interessieren, die aber oft nicht die juristische Ausbildung haben, um solche sensiblen Maßnahmen durchführen zu können. Da haben wir Fortbildungsbedarf.“ Tuvia Schlesingers Fazit fiel allerdings noch wesentlich deutlicher aus:
„Eine 18-Tage-Frist für die Berufungsverhandlung wurde auf den unverhältnismäßig langen Zeitraum von nahezu 60 Tagen, bis nach Saisonende, ausgedehnt, und so im Nachhinein ein sicher geglaubter Aufstieg revidiert. Eine Regelung zum sportliche fairen Wettbewerb der zweiten Mannschaften wurde ins Gegenteil verkehrt. Ein Rechtsorgan des Fußball-Verbands, das zugibt, rechtswidrig gehandelt zu haben, aber dann zynisch feststellt, das Opfer dieser Rechtsmängel hätte eben einfach Pech gehabt. Ein Verband verschanzt sich hinter seiner angeblichen ‚Rechtsprechung’, seinen Sonntagsreden und ist, wenn es um die reale Umsetzung geht, nicht bereit, seiner hochtrabenden Ankündigung eines Kampfes gegen Diskriminierung und Rassismus auch Taten folgen zu lassen. [...] Der TuS Makkabi Berlin kann sich des Eindrucks nicht erwehren, in voller Absicht nicht über eine Berufung informiert worden zu sein, um ihm eigene Handlungsmöglichkeiten zu nehmen.“
Angesichts der kaum zu fassenden Fülle an Fehlern und Peinlichkeiten, die sich sowohl das Verbandsgericht als auch der Berliner Fußball-Verband geleistet haben – und die auch nicht mit dem Verweis auf den Laienstatus der Fußballrichter zu entschuldigen sind –, ist das Resümee des Makkabi-Präsidenten mehr als nachvollziehbar. Formal mögen der Spielabbruch im vergangenen September und der von den Hobbyjuristen verschuldete Streit um die Punkte aus dem Wiederholungsspiel nichts miteinander zu tun haben. Dass der TuS Makkabi Berlin aber ohne jedes eigene Zutun als mehrfach Geschädigter aus dem Ganzen hervorgeht, ist schlichtweg absurd. Die Sturheit und Hartnäckigkeit, mit der das Sportgericht sich trotz offenkundiger schwerster Fehler selbst dem sinnvollen Kompromiss verweigert, eine Kreisliga um einen Verein aufzustocken, grenzt ans Groteske und legt den Verdacht nahe, dass hier tatsächlich ein unliebsamer Verein benachteiligt werden soll. „Werden wir etwa so behandelt, weil wir ein Verein mit jüdischen Wurzeln sind?“, fragt Tuvia Schlesinger. Zu Recht.

* Pressemitteilung des TuS Makkabi Berlin vom 13. August 2007 (nicht online abrufbar, liegt Lizas Welt jedoch vor)

13.8.07

Verwaltungskämpfe

Wenn in Berlin eine Koordinierungskonferenz deutscher NGOs gegen Antisemitismus stattfindet und sich kurz darauf eine zuerst im Auswärtigen Amt gezeigte Ausstellung mit dem Titel „Antisemitismus? Antizionismus? Israelkritik?“ der Frage widmet, „wo legitime Kritik aufhört und die Grenze zum Antisemitismus überschritten wird“: Sind das dann nicht echte Fortschritte im Kampf gegen den Judenhass? Hat sich das Thema tatsächlich „vom Rand in die Mitte der Gesellschaft bewegt“, wie Malte Lehming im Tagesspiegel befand, und falls ja: Ist es dort, sagen wir, gut aufgehoben? Gibt es also Anlass zur Entwarnung, wenn der Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, sagt: „Kritik an der Politik Israels ist eine ganz natürliche Sache. Viele benutzen sie heute aber als Ventil, um ihre Judenfeindschaft zu äußern – und dann ist es nicht mehr normal“?

Nein, meint der Politikwissenschaftler Jörg Rensmann: Die NGOs wollten vor allem den Zielen der deutschen Außenpolitik genügen und vermieden die Forderung nach einschneidenden Konsequenzen, insbesondere gegenüber dem Iran. Sie machten den Antisemitismus zu einem abstrakten Problem und richteten sich im Mainstream ein: „Die deutsche Zivilgesellschaft überschreitet keine Grenze, die ihr gleichsam autoritär von der jeweiligen Regierungspolitik gesetzt wird. Sie überschreitet sie deshalb nicht, weil es zwischen Zivilgesellschaft und Regierung keinen Widerspruch gibt. Der Stand der hierzulande ‚Wissenschaft’ genannten Antisemitismusforschung spiegelt exakt die Erfordernisse des Auswärtigen Amtes unter Frank-Walter Steinmeier wider.“ Warum vordergründig kritische Konferenzen und Ausstellungen deshalb letztlich Teil des Problems statt Teil der Lösung sind und der Antisemitismus nicht bekämpft, sondern bloß verwaltet wird, analysiert Rensmann in einem Gastbeitrag für Lizas Welt.


Jörg Rensmann

Anmerkungen zur institutionellen Antisemitismusverwaltung in Deutschland


In einem Beitrag für die Jüdische Allgemeine kritisierten Robert Wiesengrund und Christian Heinrich Ende Juni dieses Jahres, was in Deutschland so alles als Bekämpfung des Antisemitismus ausgegeben wird. Weder linker noch islamischer Antisemitismus werde mit hinreichender Schärfe erkannt, schrieben sie; von einer Bekämpfung ganz zu schweigen. Wiesengrund und Heinrich haben Recht; bereits die Empirie zeigt an der Oberfläche das Bewusstsein: Nach einer BBC-Umfrage positionieren sich 77 Prozent der Deutschen eindeutig negativ gegenüber Israel. Auf ähnlich hohe Werte kommen nur die Befragten im Libanon und in Ägypten. Kombiniert mit dem Antiamerikanismus – der gesellschaftlich ebenfalls vorherrschenden und tief internalisierten Ideologie in Deutschland von links bis rechts und von oben bis unten – ist schon lange eine gefährliche Mischung mit bedrohlichen Folgen für die Sicherheit der prospektiv Verfolgten in Europa und Israel entstanden.

Mitte Juni versammelte sich einmal mehr der Koordinierungsrat deutscher Nicht-Regierungsorganisationen gegen Antisemitismus im Berliner Centrum Judaicum, um „gegen Antisemitismus vorzugehen“: Nahezu ohne Aussprache und akklamatorisch wurde eine Resolution verabschiedet, deren Kernstück die Aufforderung an die Bundesregierung bildete, „in Anlehnung an das Vorgehen anderer Staaten einen jährlichen Bericht zur Antisemitismusbekämpfung herauszugeben und dem Bundestag zuzuleiten“. Immerhin besser als nichts, könnte man meinen, zumal Einrichtungen wie das Berliner AJC unter seiner Leiterin Deidre Berger, das eine harmlose Einrichtung namens Task Force zur Antisemitismusbekämpfung unterhält, oder das den Antisemitismus in Deutschland und den islamischen Judenhass systematisch verharmlosende Zentrum für Antisemitismusforschung gleich ganz fehlten.

Der derzeitige Koordinierungsrat der Koordinierungskonferenz besteht unter anderem aus dem Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum – das es unter Julius Schoeps kürzlich für notwendig hielt, angesichts der Bedrohung Israels ausgerechnet eine Tagung zum Philosemitismus zu veranstalten – und aus der Amadeu-Antonio-Stiftung, die zumindest den vor allem von Linken aller Schulen, Szenen und Richtungen heruntergespielten antisemitischen Antizionismus in der DDR endlich einmal ins Bewusstsein rückt. Daraus zieht die Stiftung jedoch die gesellschaftlich überall anschlussfähige Konsequenz, von einem, sei’s auch veränderten, Begriff des Antifaschismus nichts mehr wissen zu wollen, statt den Totalitarismusbegriff zu diskutieren: Hat die DDR einen historisch präzedenzlosen antisemitischen Vernichtungskrieg geführt? Ist es nicht nach wie vor Sinn und Zweck des „Gedenkstättenkonzepts“ der Bundesregierung, die DDR und den Nationalsozialismus konzeptuell zu identifizieren und letzteren dadurch zu bagatellisieren?

Zum Koordinierungsrat zählt ferner der Persönliche Beauftragte des OSZE-Vorsitzenden zur Bekämpfung des Antisemitismus, Gert Weisskirchen, dessen Strategie im Frühjahr noch darin bestand, seinen Mitarbeiter Veranstaltungen zur „Islamophobie“ organisieren zu lassen: Unter dem Titel „Gegenstrategien gegen Antisemitismus“ (!) sollte dort der „Persönliche Beauftragte des OSZE-Vorsitzenden zur Bekämpfung der Intoleranz und der Diskriminierung gegen Muslime“, Ömur Orhun, über „Diskriminierung und Intoleranz gegenüber Muslimen in Europa und Nordamerika“ sprechen.

Politikberatung für den Außenminister

Zum erwähnten Treffen im Centrum Judaicum kamen Vertreter aller Bundestagsfraktionen. Gitta Connemann (CDU) war jedoch die einzige auf dem Podium, die den Begriff Antizionismus überhaupt in den Mund nahm und ihn mit Antisemitismus gleichsetzte. Jerzy Montag von den Grünen wusste davon zu berichten, dass er sich vor seinen Parteigremien für seine Solidaritätsreise nach Israel während des letzten Libanonkrieges hatte rechtfertigen müssen. Solche Verhöre zeigen, was von der Behauptung des grünen Parteistiftungsvorsitzenden Ralf Fücks zu halten ist, die Achtundsechziger hätten ihre eigene massiv antizionistische Vergangenheit „aufgearbeitet“.

Die besagte Resolution des Koordinierungsrates selbst sieht ausdrücklich vor, Bundesinnen- und -außenministerium an einem zu erstellenden „Antisemitismusbericht“ der Bundesregierung zu beteiligen. Das dürfte in der Praxis darauf hinauslaufen, dass namentlich die Beamten des Außenministeriums – die bis heute nicht einmal eine „Aufarbeitung der Vergangenheit“ ihres eigenen Hauses angehen – in extenso begründen werden, warum die Politik des Staates Israel Antisemitismus verursache respektive fördere, weshalb man mit wichtigen Partnern wie den Klerikalfaschisten in Teheran nicht allzu hart ins Gericht gehen möge.

Überhaupt der Iran. Analog zu den Arbeiten von Klaus Holz – die den Antisemitismus zur bloßen Frage der Semantik machen und keinen Begriff von Staat, Subjekt und Vergesellschaftung haben oder ihn leugnen müssen, um nicht von Psychoanalyse oder spezifischen historischen Bedingungen und Entwicklungen reden zu müssen – generalisiert das Papier des Koordinierungsrates das Problem und macht es zu einem bloß abstrakten. Dies gründet in der Methode und dem gesamten Denkansatz. Es geht gar nicht um die lebensgefährliche Bedrohung von Juden hier und in Israel, sondern um die Bekämpfung des Antisemitismus als „Teil des Kampfes für die Menschenrechte“, deren Begriff bei den Vereinten Nationen bekanntlich dazu dient, Israel permanent und institutionell an den Pranger zu stellen.

Nicht der iranische Vernichtungsantisemitismus wird beim Namen genannt – um, was an dieser Stelle das Mindeste wäre, sofortige politische Konsequenzen von der Bundesregierung zu verlangen, die wie kaum ein Zweiter das Regime in Teheran stützt –, sondern es wird vielmehr zuvörderst die hiesige „Berichterstattung“ verantwortlich gemacht, weil sie die antisemitische Propaganda in den arabischen und islamischen Staaten vernachlässige, die doch ihre Wirkung in Europa und dort nicht nur in den muslimischen Communities zeitige. Das ist richtig und doch nur die halbe Wahrheit. Denn durch die Fokussierung auf eine bloß mangelhafte Berichterstattung trägt die ausschließliche Betonung der Propaganda eher zur Verharmlosung der iranischen Bedrohung bei: Den Akzent nahezu exklusiv der Funktion von antisemitischer Propaganda zu widmen – auch historisch –, birgt die Gefahr, gesellschaftlich vermittelte subjektive Dispositive und geschichtlich spezifische Vergesellschaftungen zu unter-, den Staat jedoch zu überschätzen und die Judenhasser zu entlasten. Der iranische Vernichtungsantisemitismus ist eine konkrete und auch materielle Bedrohung; er hat das Stadium eines bloßen Propagandainstruments nach innen längst verlassen, wie Antisemitismus ohnehin nie allein in dieser Funktion aufgeht.

Der Koordinierungsrat jedoch hält sich in seiner Resolution mit der Benennung des Iran und Syriens als konkrete Bedrohungen für Israel absichtsvoll zurück, um keine Forderungen politischer Art an die eigene Regierung stellen zu müssen. Die Kündigung von Hermes-Bürgschaften und die durchaus mögliche Isolierung der Mullahs zunächst durch wirkungsvolle Sanktionen zu verlangen, ist für sämtliche Initiatoren des Papiers kein Thema. In Abwandlung eines berühmten Wortes von Max Horkheimer ist hierzulande das Reden über den Judenhass aber bedeutungslos, wenn man nicht über den Vernichtungsantisemitismus der Klerikalfaschisten in Teheran reden möchte. Ein NPD-Verbot mag in mancherlei Hinsicht sinnvoll sein; es ist aber auch wohlfeil, weil nahezu überall konsensfähig.

Mit einer Politik gegen die Mullahs jedoch und einer auch öffentlich bekundeten, offensiven Unterstützung der USA in der militärischen Bekämpfung von islamistisch motivierten Schlächtern sieht es ganz anders aus; dergleichen ist mit SPD und Grünen, den Antiamerikanern schlechthin also, nicht zu machen. Eher lässt man sich von Islamisten zum Rückzug aus Afghanistan erpressen; wie schon in Madrid nach den Anschlägen am 11. März 2004 sitzen auch am Werderschen Markt in Berlin die Massenmörder längst mit am Verhandlungstisch. Diese mangelnde Courage mit Rücksicht auf den je eigenen Status im postnazistischen Deutschland entspricht bei allen sonstigen kleinen Fortschritten im Text der Resolution denn auch dermaßen exakt dem zivilgesellschaftlichen Mainstream, dass diese Fortschritte infolge des Unterlassens notwendiger politischer Folgerungen und Forderungen sofort wieder kassiert werden.

Anleitung zur „Israelkritik“

Die deutsche Zivilgesellschaft überschreitet keine Grenze, die ihr gleichsam autoritär von der jeweiligen Regierungspolitik gesetzt wird. Sie überschreitet sie deshalb nicht, weil es zwischen Zivilgesellschaft und Regierung keinen Widerspruch gibt und noch nicht einmal ein Idealismus der am Staatstropf hängenden, nur scheinbar selbstständigen zivilgesellschaftlichen Organe existiert, der über die Grenzen der deutschen Außenpolitik hinausgeht und an dem gewöhnlich der Widerspruch zwischen Ideologie und gesellschaftlicher Wirklichkeit festzumachen ist. Der Stand der hierzulande Wissenschaft genannten Antisemitismusforschung spiegelt exakt die Erfordernisse des Auswärtigen Amtes unter Frank-Walter Steinmeier wider, wie eine dortselbst zu bestaunende Ausstellung zum Antisemitismus beweist, die nicht zuletzt vom Zentrum für Antisemitismusforschung kreiert wurde und wie eine Anleitung zur „richtigen“ und genehmen „Israelkritik“ wirkt.

Der Staatsminister im Auswärtigen Amt Gernot Erler benannte die dazu erforderlichen Versatzstücke in seiner Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung. Er räumte ein, es gebe Antisemitismus – anscheinend unterschiedslos intensiv – „sowohl in westlichen wie in islamischen Gesellschaften“, als wäre der antizionistische Israelhass nicht gerade in Deutschland, wie die BBC-Umfrage zeigt, und in den palästinensischen Gebieten, wo die „Zivilgesellschaft“ genannte Ansammlung aus barbarischen Clans und Rackets nach wie vor vernichtungsantisemitisch motivierte Mordanschläge goutiert, besonders ausgeprägt. Bezeichnenderweise heißt es bei Erler, „ein neuer Antisemitismus mit verschwimmenden Grenzen zum Antizionismus und zur Kritik am heutigen Israel“ finde „eine wieder wachsende Resonanz“. Fein säuberlich wird also nach wie vor zwischen Antisemitismus und Antizionismus wie „Israelkritik“ unterschieden. Zum Antisemitismus unter Moslems heißt es: „Wir haben eine Debatte über ‚neuen Antisemitismus’. Die Pöbeleien mancher Jugendlicher zum Beispiel, deren Familie aus islamisch geprägten Ländern stammen, beziehen ihre Energie aus den Erfahrungen des ungelösten Nahost-Konflikts; und die Zahl solcher Vorfälle steht in direktem Zusammenhang mit dem jeweiligen Krisenstand dort. Oft steht hier ein eklatanter Mangel an politischer Bildung und Aufklärung Pate.“

Antisemitisch sind die verharmlosend als solche bezeichneten „Pöbeleien“ der bloß mangelhaft gebildeten, bedauernswerten Täter also schon per definitionem nicht; überhaupt könnte der Eindruck entstehen, Antisemitismus sei lediglich ein Problem von Bildung und nicht eine geschlossen, wahnhafte Welterklärung, für die der Antisemit sich entscheidet. Zentral aber ist: Einmal mehr wird, und zwar von Staats wegen, Israel zum Verursacher von Antisemitismus gemacht. Genau hier liegt die Identität von Ideologie und Gesellschaft, von der Adorno sprach, von deutscher Wissenschaft, Politikberatung und Politik. Genau hier sind die Juden in Israel diejenigen, die je nach „Stand des Konflikts“ – also auf der Basis ihres Handelns oder Unterlassens – die migrantischen Jugendlichen auch hierzulande zu bedauernswerten Opfern ohne eigene Handlungsfreiheit machen. Auch deutsche „Antisemitismusforscher“ machen also Juden in Israel zu Tätern: Sie rationalisieren den so genannten palästinensischen Widerstand, dem sie damit die Legitimation verleihen.

Nach innen suggerieren die linken Akteure der Zivilgesellschaft – im Grunde die Feinde der Dialektik der Aufklärung –, erst die Islamkritik locke junge Leute „mit Migrationshintergrund“ in eine „Identitätsfalle“, als seien nicht die islamische Vergesellschaftung und Elendsverwaltung das Problem, sondern deren Kritiker. Nebenbei wird den ganz solidarisch in Schutz Genommenen die eigene Urteilsfähigkeit abgesprochen. Islamkritik wird so zur Ursache des antijüdischen Hasses umgelogen, nicht aber innerfamiliär, gesellschaftlich und medial Tradiertes als Grund für Antisemitismus benannt. Hier hätte die Kritik antisemitischer Propaganda ihren Platz, ohne den Anteil des Subjekts an der Rezeption zu leugnen. Darüber hinaus übt niemand außerhalb der je eigenen Community den Zwang aus, sich zu repressiver Vergesellschaftung und zu einer im Gegensatz etwa zur jüdischen Denktradition bis dato historisch aufklärungsresistenten Religion wie dem Islam zu bekennen, den Holocaust zu leugnen und ihn mit der so genannten Naqba in eins zu setzen, als ginge es per se um Identisches.

Einen anderen Teil von Gernot Erlers Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung bildeten Ausführungen zum Iran: „Wer – wie etwa der iranische Präsident – gegen Israels Existenz hetzt oder den Holocaust leugnet, um Israel indirekt das Existenzrecht abzustreiten, der stößt bei uns auf breiteste Ablehnung und muss mit unserem entschiedenen Protest rechnen. Er isoliert sich auch in einer Staatengemeinschaft, die, so im Rahmen der Vereinten Nationen, jedes Jahr am 27. Januar der Opfer des Holocaust gedenkt.“ Da fühlt man sich doch an den seligen Münchhausen erinnert, denn weder streitet der iranische Präsident nur indirekt das Existenzrecht Israels ab noch sind die Klerikalfaschisten in Teheran ausgerechnet von Deutschland isoliert oder stoßen hier auf „breiteste Ablehnung“.

Ideologische Flankierungen

Ideologisch flankiert werden diese offenkundigen Lügen von Wissenschaftlern, die versichern, Antisemitismus sei allein von außen in islamische und arabische Gesellschaften hineingetragen worden, allein ein Produkt der europäischen Aufklärung, wobei auch der nationalsozialistische Vernichtungsantisemitismus als tatsächlich übertragene und bereitwillig aufgesogene Ideologie relativiert wird: War es universalisierend und verallgemeinernd „die Aufklärung“, so muss es bloßer Zufall gewesen sein, dass die Vernichtung der Juden von Deutschland geplant und in die Tat umgesetzt wurde. Solche „Islamwissenschaftler“ sollten sich zur Abwechslung vielleicht einmal auf den internationalen Forschungsstand beziehen. Die bezeichnenderweise ohne internationale Gäste geplante Sommeruniversität der Technischen Universität Berlin zum Antisemitismus, die im September stattfinden wird, lässt jedenfalls wenig Substanzielles erwarten, sondern wird so schlicht wie üblich den ideologischen Erfordernissen hierzulande genügen.

So lange eine deutsche Regierungsinstitution wie die Friedrich-Ebert-Stiftung, die im Nahen Osten offen antiisraelische Projekte fördert sowie Wissenschaftler beschäftigt und publizieren lässt, deren Motivation das antijüdisch-antiisraelische Ressentiment ist, so lange also eine solche Praxis einer Regierungsstiftung zivilgesellschaftlich nicht als Teil des Problems erkannt wird, wird man den zahnlosen Akteuren in Deutschland Kumpanei vorwerfen müssen, ein taktisches Verhältnis zur Bekämpfung des Antisemitismus, das allein der Imagepflege nach außen dient. Bezeichnenderweise hatte einer der Initiatoren des Papiers des Koordinierungsrates bei der Podiumsdiskussion im Centrum Judaicum auf Nachfrage noch eingeräumt, dass es noch Jahre dauern könne, bis die Bundesregierung sich überhaupt dazu durchringt, einen Antisemitismusbericht vorzulegen.

Man darf sicher sein, dass eine Mischung aus Begriffslosigkeit und Hermetik gegen Kritik sowie politisches Kalkül dazu führen wird, dass gar nichts geschieht. In fünf Jahren mag es einen harmlosen „Bericht“ geben, an dem friedlich vereint und sich die zu erwartenden staatlichen Mittel aufteilend diverse Institutionen gewerkelt haben werden. Aber gibt es dann noch die politische jüdische Souveränität, oder haben Europäer und „Aufarbeitungsweltmeister“ aus Deutschland bis dahin dazu beigetragen – und sei es durch Unterlassung und den hilflosen Appell an abstrakte und kollektivistisch verstandene Menschenrechte –, dass der Staat der Juden, der allein qua Existenz als Stachel der Erinnerung an den bisher präzedenzlosen deutschen Massenmord den kollektiven Narzissmus hierzulande bis heute schädigt, nicht länger existiert?


Update 12. November 2007

Spät gelesen: Replik auf Jörg Rensmann, „Anmerkungen zur institutionellen Antisemitismusverwaltung in Deutschland“

Von Lars Rensmann, Ann Arbor (USA)


In seinem Beitrag zur „institutionellen Antisemitismusverwaltung“ reklamiert Jörg Rensmann, dass es beim Thema Antisemitismus (und überhaupt?) „zwischen Zivilgesellschaft und Regierung keinen Widerspruch gibt“. Diese behauptete Identität von Regierung und Gesellschaft wird belegt durch den Verweis auf bestimmte jüdische und nicht-jüdische Individuen, Gruppen und Organisationen. Jörg Rensmann wirft hierbei verschiedenste unabhängige Forschungsinstitute, NGOs, die den Rechtsextremismus bekämpfen, und pro-israelische Einzelpersonen in einen Topf mit rechten Antisemiten und linksprotestantischen Antizionisten und unterstellt allen ein „identisches“, gleichsam gleichgeschaltetes, in jedem Fall aber einheitliches Interesse, zudem noch einheitlich mit der jeweiligen Bundesregierung. Dieses Interesse sei die Bekämpfung Israels.

Ein solches – im Grunde deterministisches – Argumentationsmuster ist politik- und sozialwissenschaftlich gewagt. Eine Interessensidentität wäre selbst für den NS-Staat eine Übertreibung, wie, anders als Jörg Rensmann suggeriert, u.a. Theodor W. Adorno reflektiert aufgezeigt hat. Bei Jörg Rensmann wird dennoch alles Handeln auf einen homogenen Ursprung – das identische Interesse – zurückgeführt, um zugleich den Akteuren, die dadurch bestimmt seien, in voluntaristischem Gestus individualmoralische Vorhaltungen zu machen. Ich habe in meiner Studie Demokratie und Judenbild dagegen nachgewiesen, dass es sehr wohl auch beim Problem des Antisemitismus auf die konkrete politisch-diskursive Auseinandersetzung in der Demokratie ankommt, also soziales Handeln weder unmittelbar auf „(nationales) Interesse“, noch ausschließlich auf individuelle Moral zurückgeführt werden kann. Für Jörg Rensmann aber spiegelt die „hierzulande Wissenschaft genannte Antisemitismusforschung“ ohnehin in toto schlicht „exakt“ die Erfordernisse des Auswärtigen Amtes wider, namentlich eine Anleitung zur „genehmen Israelkritik“.

Ziel von Jörg Rensmanns Kritik ist auch der Koordinierungsrat deutscher Nicht-Regierungsorganisationen gegen Antisemitismus, dem ich selbst angehöre. Der Koordinierungsrat ist ein Zusammenschluß verschiedener Organisationen, Einrichtungen, Forschungsinstitute und Einzelpersonen, die sich mit Antisemitismus auseinandersetzen. Sie sind indes keinesfalls für „Antisemitismusfragen zuständig“, als hätten sie einen regierungsamtlichen Auftrag. Sondern deren Engagement im Koordinierungsrat beruht einzig auf Eigeninitiative „von unten“, bis auf Einzelfälle sogar frei von öffentlichen Geldern. Nachdem es seit Jahren keine deartigen Treffen von NGOs gegeben hat (was nicht zuletzt dem Versagen einiger professioneller Organisationen geschuldet ist), hatten verschiedene unabhängige Organisationen und Personen im Sommer schlicht einen neuen Anlauf zur Koordinierung unternommen und hierzu auch Politiker aller Bundestagsfraktionen eingeladen, um zunächst der ursprünglich vor allem von Arno Lustiger formulierten Forderung an die Bundesregierung nach einem jährlichen Antisemitismusbericht Nachdruck zu verleihen. Für Jörg Rensmann heißt dies freilich: der Koordinerungsrat hält sich in Sachen Iran „absichtsvoll“ zurück, „um keine Forderungen politischer Art an die eigene Regierung stellen zu müssen.“ Jede Initiative erscheint so nur als Ausdruck von Dummheit, Naivität und Fassade für die Regierungspolitik, denn der Koordinierungsrat sei, wie alle zivilgesellschaftlichen Akteure, getragen von einer „Mischung aus Begriffslosigkeit und Hermetik gegen Kritik sowie politische[m] Kalkül“.

Mit den unterschiedlichsten Begründungsmustern werden die Unterstützer des Koordinierungsrates von Jörg Rensmann dabei schnell als Gegner der Antisemitismusbekämpfung ausgemacht, eben „identisch“ mit Regierung und Gesellschaft: das Moses Mendelssohn Zentrum sei zu kritisch gegenüber Philosemitismus, die Amadeu-Antonio-Stiftung zu „totalitarismustheoretisch“, da sie eine (im Übrigen m.E. vorzügliche) Ausstellung über Antisemitismus in der DDR nicht mit dem (überflüssigen) Hinweis versehen hat, der Nazismus sei schlimmer gewesen, usw. Die eklektizistische Reihung von solchen Argumenten belegt indes vor allem: Hier geht es darum, die längst gefasste These, sämtliche gesellschaftlichen Akteure (und insbesondere die Mitglieder des Koordinierungsrats) seien Verwalter und Feinde der Antisemitismusbekämpfung, irgendwie zu rechtfertigen, wie sehr an den Haaren herbeigezogen das jeweilige Argument dafür auch sein mag. Diesmal ist die primäre Gretchenfrage, die das pauschale moralische Verdikt rechtfertigen soll: Wie stark engagierst du dich gegen die nukleare Bedrohung Israels durch den Iran?

Das Problem, das hier angesprochen wird, ist ohne Zweifel ein drängendes. Doch erstens ist der Koordinierungsrat von NGOs gegen Antisemitismus kaum die Instanz, die dieses Problem wird lösen können; der Weltsicherheitsrat hat andere Referenzpunkte. Und zweitens ist nach der Logik, die Jörg Rensmann in der Folge appliziert, jeder, der sich (noch) nicht oder vermeintlich noch nicht entschieden zum Thema öffentlich geäußert hat, mehr oder minder automatisch ein Unterstützer des Iran und des iranischen Staatsantisemitismus. Der Koordinierungsrat hätte sich „mindestens“ gegen die Hermes-Bürgschaften der Bundesregierung aussprechen müssen (man fragt sich, was laut Jörg Rensmann die Maximalforderung hätte sein sollen); wenn man dies – wie der Koordinierungsrat – nicht getan hat, ist man Jörg Rensmann zufolge gegen Israel, ergo antizionistisch, ergo antisemitisch. Ein beachtenswerter Argumentationsgang, der einer „Konsequenzlogik“ folgt, die Jörg Rensmann den Akteuren überstülpt. Sie läßt a priori keine Differenzen und Differenzierungen zu: alle sind irgendwie miteinander identisch und israelfeindlich. Dies ist nicht nur analytisch falsch, es ist auch politisch unsinnig.

Ich persönlich und meines Wissens auch der Koordinierungsrat befürworten im Übrigen eine deutlich entschiedene(re) Position gegenüber dem Iran seitens der Bundesregierung, wobei angesichts der – nicht zuletzt israelfeindlichen und antisemitischen – Konfrontationspolitik der iranischen Regierung selbstverständlich auch die Hermes-Bürgschaften auf den Tisch gehören; nur so lassen sich wohl auch militärische Eskalationen vermeiden. Dies war indes, in der Tat, nicht Thema des von Jörg Rensmann so scharf kritisierten ersten Koordinierungstreffens, obschon dort auch islamischer Antisemitismus deutlich zum Gegenstand wurde. Die dort von der übergroßen Mehrheit der 37 anwesenden Organisationen und Personen unterstützte Aufforderung an Parlament und Regierung, einen jährlichen Bericht zu verfassen ist allerdings, anders als Jörg Rensmann suggeriert, kein Anliegen, das in Bundesregierung und Parlament ungeteilte Zustimmung findet. Es ist aber m.E. ein Anliegen, um das es sich in der öffentlichen Auseinandersetzung zu ringen lohnt. Dies nicht zuletzt, um in der Bundesrepublik Deutschland die Sensibilisierung gegenüber dem Problem des Antisemitismus in allen Formen – auch denen des iranischen Staatsantisemitismus – zu erhöhen; dies gilt u.a. auch im Hinblick auf den Umstand, dass – anders als in Frankreich – über Satellit der Hizbollah-Sender Al-Manar („Der Leuchtturm“) weiterhin behördlich ungestört offen antisemitische Propaganda in Deutschland verbreitet, die zur Tötung von Juden aufruft.

Empirische Untersuchungen zeigen hierbei nicht nur einen weitverbreiteten Antizionismus in Deutschland und Europa, sondern auch, dass vor allem mit zunehmender Intensität Antizionismus und Antisemitismus in eins fallen. Dass dabei in den letzten Jahren Israelfeindschaft und Antisemitismus zunehmend „salonfähig“ geworden sind, und dies weit über den Rechtsextremismus hinaus auch in „alten“ Demokratien wie Großbritannien, sollte verstärkt Gegenstand einer ideologiekritischen Forschung werden, die auch die subtileren Verästelungen politischer Mentalitätsgeschichte in Europa vergleichend beleuchtet.

Wer aber, statt eine kritische Diskussion mit denjenigen Akteuren in Politik und Gesellschaft zu suchen, die das Anliegen der Bekämpfung des Antisemitismus teilen, sich in heftigen moralischen Anklagen ad hominem und teils grotesken Desavouierungsversuchen erschöpft, wird zu solcher Aufklärung wenig beitragen. Der Kreis derjenigen in Politik und Gesellschaft, die sich aktiv entsprechend engagieren, ist tatsächlich leider heute überschaubar, wie jüngst Dieter Graumann anmerkte. An einer verabsolutierten Logik der Entdifferenzierung ist indes wenig „kritisch“; die Nivellierung von politischen Unterschieden, Widersprüchen und Konflikten auch dort, wo sie offensichtlich vorhanden sind, ist vielmehr selbst eine kollektivistische Vernebelung der Realität.

P.S.: Selbstverständlich ist dabei Antisemitismusbekämpfung auch „Teil des Kampfes für die Menschenrechte“. Solche Formulierung findet Jörg Rensmann jedoch besonders beanstandenswert. Wer freilich in altlinker Rhetorik den Bezug auf die Menschenrechte mit der Begründung über Bord wirft, sie würden (in diesem Fall durch die UN) mißbraucht, argmuntiert anti-universalistisch und kulturrelativistisch. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Wie anders drückt sich denn Universalismus aus, der heute vielfach von radikal rechts, aber auch links mit engstirnigem kollektivem Partikularismus bekämpft wird, als in den universellen Menschenrechten? Genau sie bilden den Hintergrund des liberalen westlichen Wertekanons, der heute vielerorts Verachtung findet. Gerade der Umstand, dass die Menschenrechte vielfach auf Juden und die Bürger Israels, deren unteilbares Recht auf physische Unversehrtheit, in der Debatte keine Anwednung finden, verdient Kritik; kritikwürdig ist also die partikularistische Moral, die sich hinter manchem universalistischem Anspruch verbirgt. Die Menschenrechte deshalb als bloße Ideologie zu verdammen wäre dagegen politisch und normativ verheerend.

Lars Rensmann lehrt Politikwissenschaft an der University of Michigan, Ann Arbor.

10.8.07

Comeback der Chartbreaker

Das Warten hat ein Ende, und das ist, um es mit dem Berliner Bürgermeister zu sagen, auch gut so: Heute Abend startet die Fußball-Bundesliga in ihre 45. Saison. Und da die Zuständigen für den Spielplan nicht mehr wie in früheren Tagen einfach nach Schema F verfahren, sondern zum Auftakt gleich einen Knaller präsentieren sollen, lassen sie den Meister auf den Vizemeister los, also Stuttgart auf Schalke. Dass von den Bayern trotzdem deutlich mehr gesprochen und geschrieben wird als von diesem Kick, hat zwei Gründe: Erstens sind es halt die Bayern, und zweitens haben sie die für Deutschland historische Summe von siebzig Millionen Euro abgehoben, um sich zurückzuholen, was anderen gar nicht erst zusteht. Eine klare Kampfansage an die Münchner steht noch aus; fast hat man den Eindruck, als traue sich niemand so recht, das Visier hochzunehmen.

Es ist, zugegeben, derzeit nicht übermäßig unpopulär, eine Prognose abzugeben, wie die anstehende Spielzeit vonstatten gehen wird – das tut schließlich allenthalben schon ein nicht unbeträchtliches Quantum an vermeintlichen und tatsächlichen Experten. Dennoch sei an dieser Stelle ein weiterer diesbezüglicher Beitrag gestattet; das definitiv Unvorhersagbare vorherzusagen, ist zwar ein unmögliches Unterfangen, aber es bezieht seinen Reiz bekanntlich gerade daraus. Wer hernach halbwegs richtig liegt, kann sich seines Sachverstandes rühmen; wer irrt, den erinnert das Kurzzeitgedächtnis ohnehin nicht mehr daran: eine wenig riskante Angelegenheit also, die den Einsatz deshalb lohnt. Musik, bitte!

VfB Stuttgart: Alle Jubeljahre mal Meister, aber das sind nur Momentaufnahmen, denen regelmäßig der Sturz ins Jammertal folgt. Das Glück der Stuttgarter könnte es sein, dass alle vollkommen auf die Bayern fixiert sind und deshalb in Vergessenheit gerät, wer eigentlich Deutscher Meister ist. Ihr Pech: Sie wissen es selbst schon nicht mehr. Prognose: Uefa-Pokal-Platz. Pop-Hymne: Our last summer (ABBA).

Schalke 04: Man glaubt nicht ernsthaft daran, die Bayern in Gefahr bringen zu können. Und deshalb versucht man es auch gar nicht erst, Gazprom hin, Gazprom her. Mirko Slomka wird die Saison nicht überstehen, und am Ende lautet die denkwürdige Bilanz: 50 Jahre ohne Schale. Prognose: Ebenfalls Uefa-Pokal. Pop-Hymne: Hit me baby one more time (Britney Spears).

Werder Bremen: Der Start dürfte ziemlich holprig sein, aber dann wird es wieder geschmeidig laufen – wie (fast) immer. Egal, wer kommt, egal, wer geht (und sei es Klose, den in Bremen ohnehin niemand mehr wollte): Wo oben ist, ist Werder, Schaaf und Allofs sei Dank. Prognose: Vizemeister. Pop-Hymne: Praise you (Fatboy Slim).

Bayern München: Mag sein, dass Geld keine Tore schießt. Aber es erhöht die Erfolgschancen beträchtlich. Prognose: Meister. Pop-Hymne: Glory days (Bruce Springsteen).

Bayer Leverkusen: Seit Skibbe keinen Popper-Mittelscheitel mehr trägt, läuft es besser, trotz des Pokal-Aus in Pauli. Zum Vizekusen reicht es noch nicht wieder; dennoch wird Bayer die Überraschung der Saison. Daran ändern auch die peinlichen
„Werkself“-Shirts nichts. Prognose: Dritter. Pop-Hymne: Don’t stop me now (Queen).

1. FC Nürnberg: Nachdem Mainz und Freiburg eine Klasse tiefer kicken, sind die Franken der neue Everybody’s Darling der Bundesliga, nicht zuletzt wegen ihres tatsächlich formidablen Trainers. Aber der sieht die Dinge nüchtern und glaubt nicht an eine Wiederholung der Vorjahreserfolge. Zu Recht. Prognose: Gesicherter Mittelfeldplatz. Pop-Hymne: Over my shoulder (Mike & The Mechanics).

Hamburger SV: Um ein Haar hätten sie im Stadion die Uhr stilllegen müssen, die die ununterbrochene Zugehörigkeit des HSV zur Eliteliga auf die Sekunde genau anzeigt. Der Schreck ist dem gesamten Klub in die Glieder gefahren und hält sich dort immer noch auf. Aber nicht mehr allzu lange. Prognose: UI-Cup-Platz. Pop-Hymne: It ain’t over till it’s over (Lenny Kravitz).

VfL Bochum: Gekas weg, Misimovic weg, Wosz weg. Dass die Besten gehen (oder aufhören), ist man beim VfL allerdings schon gewöhnt. Eine Fahrstuhltruppe wird er deshalb immer bleiben, aber dieses Jahr klemmt der Aufzug noch, bevor er wieder in den Keller fährt und Grönemeyer mit in die Zweite Liga nimmt. Prognose: Klassenerhalt, ganz knapp. Pop-Hymne: Forever young (Alphaville).

Borussia Dortmund: Dass sie den Schalkern die Meisterschaft versaut haben, davon zehren sie beim BVB immer noch. In Dortmund ist man halt bescheiden geworden. Die Neuzugänge sind allerdings beachtlich, und der Burschenschafter Metzelder hat zur Freude von Wörns endlich eine neue Verbindung. Prognose: Oberes Mittelfeld, einstelliger Tabellenplatz. Pop-Hymne: Shout (Tears for Fears).

Hertha BSC Berlin: Dass der neue Trainer mit dem Charme eines sozialdemokratischen Studienrats in der Hauptstadt Weltbewegendes reißt, ist unwahrscheinlich. Dieter Hoeneß wird also weiterhin zu Tobsuchtsanfällen genötigt sein. Prognose: Mittelfeld. Pop-Hymne: Dreamer (Ozzy Osbourne).

Hannover 96: 3:0 im Testspiel gegen Real Madrid – Chapeau! Immerhin sind sie an der Leine nicht wie in Köln und erwarten deshalb nicht gleich den Meistertitel. Das ist auch besser so. Prognose: Einstelliger Tabellenplatz im Mittelfeld. Pop-Hymne: Holding out for a hero (Bonnie Tyler).

Arminia Bielefeld: Die „Mitgliederoffensive“ läuft immer noch auf Hochtouren, und wer jetzt eintritt, kann alles gewinnen, was der Ostwestfale so braucht: einen Möbelgutschein, ein Wasserbett, einen Partyservice-Gutschein, sechs Monate Gratis-Strom und ein Candle-Light-Dinner im Stadion beispielsweise. Middendorps Führerschein steht aber nicht auf der Preisliste. Schade eigentlich. Prognose: Erneuter Klassenerhalt. Pop-Hymne: Liebe ohne Leiden (Udo Jürgens).

Energie Cottbus: „Im Herzschlag vereint“, lautet die Begrüßung auf der Homepage des Vereins. Allzu wörtlich sollte man das wohl besser nicht nehmen. Immerhin: Gut möglich, dass Ede Geyer im Laufe der Saison auf den Trainerstuhl zurückkehrt. Aber das ändert nichts. Prognose: Platz 16. Pop-Hymne: Millionär (Die Prinzen).

Eintracht Frankfurt: Inamoto und Mahdavikia zu verpflichten, war ohne Frage eine gute Idee. Sonst wäre es wahrscheinlich mal wieder knapp geworden. So aber wird die Eintracht irgendwo im Niemandsland der Tabelle kicken – und ansonsten auf einen erneuten Pokal-Coup setzen. Nicht zu Unrecht. Prognose: Mittelfeld. Pop-Hymne: Tage wie dieser (Juli).

VfL Wolfsburg: Eigentlich sollte ja Peter Hartz
beim VfL Trainer und Manager in Personalunion werden, aber der VW-Vorstand hatte was dagegen. Deshalb kam Felix Magath, dem man nachsagt, dass selbst sein Schäferhund einen Bauch hat wie ein Brett. Das reicht zwar nicht, um Wolfsburg aus der Bedeutungslosigkeit zu befreien, aber am Ende werden sogar die Mitarbeiter der Geschäftsstelle topfit sein. Prognose: Unteres Mittelfeld. Pop-Hymne: Bruttosozialprodukt (Geier Sturzflug).

Karlsruher SC: Wenigstens ein Aufsteiger muss ja irgendwie drin bleiben, also wird es der KSC schaffen. Anschließend kehrt Oliver Kahn zurück. Und Edgar Schmitt. Und Winfried Schäfer. Prognose: Ebenfalls unteres Mittelfeld. Pop-Hymne: I will survive (Gloria Gaynor).

Hansa Rostock: Wird als Abstiegskandidat Nummer eins gehandelt und ist es tatsächlich. Wie soll man sich auch aufs Fußballspielen konzentrieren, wenn es im Klub drunter und drüber geht? In diesem Chaos geht die Kogge gleich wieder unter. Vorher springt Frank Pagelsdorf aber noch ab. Prognose: Letzter. Pop-Hymne: Goodbye (Sasha).

MSV Duisburg: Ailton wird zweifellos auch bei seinem insgesamt elften Klub Tore machen. Ansonsten klingt aber nur der Name des Physiotherapeuten Ronald Dynio, schnell ausgesprochen, nach mehr. Und das ist: zu wenig. Prognose: Vorletzter. Pop-Hymne: Don’t you forget about me (Simple Minds).

8.8.07

Himmelwärts

Ihr Name bedeutet übersetzt so viel wie himmelwärts, und ihre allererster Auftrag war dementsprechend gleich ein ganz besonderer: Die (damals noch staatliche) israelische Fluggesellschaft El Al brachte im September 1948 den ersten Staatspräsidenten Israels, Chaim Weizmann, unbeschadet von Genf nach Tel Aviv. Es blieb nicht ihre einzige außergewöhnliche Mission; El Al war nie einfach nur eine Airline, sondern gezwungenermaßen immer auch ein Politikum. Dies zumal für die Feinde des jüdischen Staates, die zahllose Angriffe auf die Linie unternahmen, den ersten davon am 27. Juli 1955: Bulgarische MiG-Kampfflugzeuge schossen eine El Al-Maschine ab, die sich auf dem Weg von London nach Tel Aviv über Wien befand. Sie soll angeblich unbefugt in den bulgarischen Luftraum eingedrungen sein. Alle 58 Passagiere starben.

In den 1960er und 1970er Jahren war es dann vor allem die palästinensische PFLP (Popular Front for the Liberation of Palestine), die mehrfach mit Flugzeugentführungen und tödlichen Schüssen El Al attackierte, bevor am 27. Dezember 1985 mit Abu Nidal ein Fatah-Führer die Flughafenschalter der Airline in Wien und Rom unter Beschuss nehmen ließ; 19 Menschen wurden dabei getötet. Doch El Al ließ sich von solch mörderischen Manövern nicht einschüchtern, sondern trotzte dem Terror und verschärfte die Kontrollen. Wie sehr sie sich ihrer Aufgaben und ihrer Bedeutung bewusst ist, zeigt sich dieser Tage einmal mehr: Die zwei neuesten Maschinen in der Flotte tragen ganz besondere Namen. Näheres dazu und noch mehr zur nicht nur sichersten, sondern wohl auch ungewöhnlichsten Fluggesellschaft der Welt weiß Franklin D. Rosenfeld in seinem Gastbeitrag.


Franklin D. Rosenfeld

Keine alltägliche Airline


Oftmals spiegeln staatliche Fluggesellschaften nicht nur die Attribute, sondern auch die Situationen der Länder wider, in denen sie ihren Sitz haben. Das gilt in besonderem Maße für die israelische El Al, die mittlerweile zwar privatisiert wurde, aber dennoch weiterhin als „Flag Carrier“ gelten darf. El Al verbindet den jüdischen Staat sozusagen mit der Welt, und dass sie nicht auch Dubai oder Casablanca ansteuert, liegt nicht an ihr. Sie symbolisiert in vielerlei Hinsicht den Wunsch Israels nach friedlichen Beziehungen mit den Nachbarländern, nach Normalität und nach einem Leben ohne Terror – oder doch zumindest nach einem Leben, das trotz allen Terrors weitergeht. Damit repräsentiert El Al gewissermaßen auch die Essenz Israels – den Willen, allen Feinden und Katastrophen zum Trotz nicht klein beizugeben, sondern Herausforderungen anzunehmen. Das funktioniert bei El Al so gut, dass ungeachtet offensichtlicher Bedrohungen seit nunmehr 39 Jahren keine Maschine dieser Gesellschaft mehr entführt werden konnte. Und auch wenn Attentatsversuche bisweilen erst in letzter Sekunde aufgedeckt wurden, so ist das El Al-System, das der israelische Inlandsgeheimdienst Shin Bet entwickelte, bemerkenswert undurchlässig.

Das bedeutet jedoch auch, dass El Al täglich mit der Perfidie und dem Vernichtungswillen von Judenhassern und -mördern konfrontiert ist und somit bei jedem Passagier zunächst einmal vom Schlimmsten ausgeht. Selbst El Al-Büros in europäischen Großstädten müssen von Sicherheitsbeamten mit Maschinenpistolen bewacht werden, und die El Al-Flughafenschalter waren wiederholt das Ziel terroristischer Angriffe – beispielsweise 1985 in Wien und in Rom sowie 2002 in Los Angeles. El Al spielte stets eine wichtige Rolle in der israelischen Geschichte – sei es, um Adolf Eichmann von Buenos Aires nach Tel Aviv zu transportieren, sei es, um mehr als 14.000 äthiopische Juden nach Israel zu bringen. Auch wenn der Hass von Israels Nachbarn extreme Umwege nötig machte – arabische Länder gewähren fast ausnahmslos keine Überflugsrechte –, ließ sich die Fluggesellschaft nicht davon abbringen, neue Routen zu eröffnen, beispielsweise nach Asien oder Südafrika.

El Al ist also ganz ohne Zweifel eine alles andere als alltägliche Airline – mit einer Ausnahme: Bei der Namensgebung für ihre Flugzeuge geht sie genauso vor wie die meisten anderen Gesellschaften auch. So, wie die größten Maschinen bei der Lufthansa Berlin, München oder Düsseldorf getauft wurden und die Swiss ihrer Langstreckenflotte Namen wie Matterhorn oder Dufourspitze gab, so heißen die Flugzeuge des El Al-Modells 747-400 (mit Platz für rund 350 Passagiere) Jerusalem, Tel Aviv-Yaffo, Be’er Sheva und Haifa, während die 777-200er-Maschinen (etwa 300 Sitzplätze) Negev, Galilee, Carmel und Ha’Sharon genannt wurden.

Diese Tradition wurde nun für die beiden neuesten 777er-Flieger außer Kraft gesetzt. Aus Solidarität mit den Einwohnern der Kleinstadt Sderot, die seit dem Rückzug der israelischen Armee aus Gaza vor zwei Jahren unter dem Beschuss von Qassam-Raketen leidet, sowie mit den Einwohnern von Israels nördlichster Stadt Kiryat Shmona, die als erste von den Raketen der Hizbollah getroffen wurde, beschloss der Vorstandsvorsitzende von El Al, Chaim Romano, die beiden neuesten Maschinen nach diesen Städten zu benennen: Sderot und Kiryat Shmona. Darüber hinaus wurden Kinder aus Sderot auf Firmenkosten in die USA geflogen; anschließend konnten sie als Gäste dem Erstflug der Sderot von New York nach Tel Aviv beiwohnen. Im Rahmen einer offiziellen Solidaritätsveranstaltung besuchten Chaim Romano und der El Al-Aufsichtsratsvorsitzende Issy Borovich Sderot und sprachen mit Betroffenen des palästinensischen Terrors. Eine ähnliche Maßnahme ist in Kürze in Kiryat Shmona geplant; die entsprechende Maschine soll Ende August zur El Al-Flotte stoßen. Da die 777er-Flugzeuge auf El Al-Routen um die ganze Welt jetten, wird El Als Rolle als Botschafterin Israels erweitert, um die Namen dieser Städte ins Gewissen der Weltöffentlichkeit zu bringen – wie vergeblich das auch immer sein mag.

Neben der Tatsache, dass El Al genau wie Sderot für Unbeugsamkeit und die Entschlossenheit steht, dem Terror zu trotzen, gibt es noch ein weiteres Element, das zu dieser Geste passt: Alle 777er-Flotten der El Al verfügen – nachdem im November 2002 eine Maschine der israelischen Chartergesellschaft Arkia beinahe von Al-Qaida abgeschossen worden wäre – über ein Raketenabwehrsystem, das die Flugzeuge vor den meisten Boden-Luft-Raketen schützt. Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft auch die Einwohner Sderots, Kiryat Shmonas und des gesamten Negevs und Galiläas in den Genuss einer solchen relativen Sicherheit kommen.

Zu den Bildern (von oben nach unten): (1) Der El Al-Maschinentyp 777: die Sderot. (2) Ankunft: Mehr als 14.000 äthiopische Juden wurden 1991 nach Israel gebracht. (3) Flugkarte der El Al (zum Vergrößern aufs Bild klicken): Nur wenige arabische Staaten gewähren Überflugsrechte.