30.7.08

Durban reloaded

Kürzlich war der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen mal wieder im Gespräch. Mitte Juni wollte der britische Historiker David Littman im Auftrag einer NGO bei einer Sitzung des Rats eine Protesterklärung zur Steinigung von Frauen und zur Verheiratung von Mädchen in Ländern, in denen die Sharia Praxis ist, verlesen. Doch dazu kam es nicht, weil die Delegierten Pakistans und Ägyptens ihn mit Rufen zur Geschäftsordnung daran hinderten: Es sei eine Beleidigung des Glaubens seines Volkes, wenn die Sharia in diesem Forum diskutiert werde, sagte der pakistanische Vertreter. Und sein ägyptischer Kollege sekundierte: „Die Sharia steht hier nicht zu Diskussion.“ Der rumänische Präsident des Rats erklärte schließlich jegliche Debatte über die islamische „Rechtsordnung“ im Rahmen einer Aussprache über Menschenrechte für unzulässig. „So weit also können religiöse Empfindlichkeiten gehen“, kommentierte Henryk M. Broder diesen Vorgang. „Man könnte glatt von einer ‚schleichenden Islamisierung’ des öffentlichen Lebens sprechen, wenn das nicht wieder so eine ‚Beleidigung’ wäre, die man sich verkneifen muss, um das friedliche Zusammenleben der Kulturen nicht zu stören.“ Was jedoch augenscheinlich hingenommen werden solle, so Broder, seien „diverse Akte der praktizierten Barbarei, wie die Steinigung von Ehebrecherinnen, das öffentliche Erhängen von Homosexuellen und Frühehen mit Kindsfrauen, die alle ganz offenbar im Einklang mit der Sharia stehen“. Und die der Rat deshalb nach Ansicht seiner Mitglieder anscheinend „unter dem Label der Religionsfreiheit“ zu respektieren habe.

Der UN-Menschenrechtsrat – ein Nebenorgan der Generalversammlung, das keine Sanktionen verhängen, aber Empfehlungen geben kann – löste im Juni 2006 die 60 Jahre zuvor gegründete Menschenrechtskommission der Uno ab, nachdem diese immer stärker in die Kritik geraten war: In ihren Entschließungen wurden selbst übelste Verbrechen von Mitgliedsstaaten und deren Verbündeten nicht verurteilt. Der seinerzeitige UN-Generalsekretär Kofi Annan wünschte sich schließlich einen Ersatz für die Kommission und kurbelte die Entstehung des Rates mit an. Der trifft sich seit seiner Gründung ein bisschen häufiger und hat ein paar Mitglieder weniger als sein Vorgänger, ähnelt ihm jedoch stark in puncto Agenda und Prozedere. Offiziell sind die Aufnahmekriterien schärfer; seine Angehörigen sollen in Bezug auf die Menschenrechte für „höchste Standards“ stehen und sich per Zweidrittelmehrheit von ihren schwarzen Schafen trennen können. Doch die Ratsangehörigen tun mehrheitlich vor allem das, was sie bereits im Vorläufermodell getan haben: Sie beschäftigen sich wie besessen mit Israel, im vergangenen Jahr alleine 120mal und damit doppelt so häufig wie mit jedem anderen Land. Am Ende stehen fast immer Verurteilungen des jüdischen Staates.

Und nun veranstaltet der Rat im April 2009 in Genf auch noch die Durban Review Conference, eine Art Remake jener zu trauriger Berühmtheit gelangten UN-Antirassismuskonferenz, die im September 2001 in der südafrikanischen Stadt Durban vonstatten gegangen war. Dort sollte Israel nur wenige Tage vor 9/11 – so wollten es die beteiligten islamischen Länder – als „rassistischer Apartheidstaat“ verurteilt werden. Der französische Essayist und Romancier Pascal Bruckner erinnert sich: „Man verdammte den Zionismus als gegenwärtige Form des Nazismus und der Apartheid, aber auch den ‚weißen Furor’, der ‚mit dem Menschenhandel, der Sklaverei und dem Kolonialismus in Afrika einen Holocaust nach dem anderen verursacht hat’. Israel sollte verschwinden, seine Politiker sollten vor einem internationalen Strafgericht ähnlich dem von Nürnberg verurteilt werden. Antisemitische Karikaturen machten die Runde, Exemplare von ‚Mein Kampf’ und der ‚Protokolle der Weisen von Zion’ wurden herumgereicht: Unter einem Foto Hitlers hieß es, dass Israel niemals existiert hätte und die Palästinenser ihr Blut nicht hätten vergießen müssen, wenn er gesiegt hätte. Einige Delegierte wurden physisch bedroht, man rief ‚Tod den Juden’. Die Farce erreicht ihren Gipfel, als der sudanesische Justizminister Ali Mohamed Osman Yasin Reparationen für die Sklaverei forderte, während in seinem eigenen Land weiterhin schamlos Menschen versklavt werden.“

Für die Neuauflage dieser Tragikomödie im kommenden Frühjahr wurde ausgerechnet das Teheraner Mullah-Regime von den Vereinten Nationen mit einer Regiefunktion betraut. Ein „Durban 2“ befürchtet daher nicht nur die NGO Eye on the UN: „Mit der Wahl des Iran in die Vorbereitungskonferenz werden Rassisten zu UN-Sprechern gegen Rassismus.“ Ihre Sprecherin Anne Bayefsky sagte bereits vor knapp einem Jahr: „Den führenden Exponenten des Antisemitismus – gleich, ob dieser sich nun gegen einzelne Juden oder gegen den jüdischen Staat richtet – wird von den Vereinten Nationen erneut eine globale Plattform gewährt.“ Gleiches gilt für Libyen, das der Vorbereitungskommission für die Konferenz vorsteht: Seinen Gaddhafi-Preis verleiht es auch schon mal einem ausgewiesenen Holocaustleugner wie Roger Garaudy. „Es wäre zum Kaputtlachen – wenn es nicht so tragisch wäre“, schrieb Pascal Bruckner, und er ergänzte: „Der Antirassismus ist in der Uno zur Ideologie der totalitären Bewegungen geworden, die ihn für ihre Zwecke benutzen. Diktaturen oder notorische Halbdiktaturen (Libyen, Pakistan, Iran, Saudi-Arabien, Algerien; Kuba, Venezuela und so weiter) bemächtigen sich einer demokratischen Sprache und instrumentalisieren juristische Standards, um sie gegen die Demokratien in Stellung zu bringen und sich selbst niemals in Frage zu stellen.“ Eine „neue Inquisition“ etabliere sich, so Bruckner, „die den Begriff der ‚Verunglimpfung der Religion’ hochhält, um jede Regung des Zweifels, besonders in islamischen Ländern, zu unterdrücken“.

Bruckner appellierte deshalb: „Angesichts dieses Narrenstücks ist eine klare Haltung Europas gefordert: der Boykott, schlicht und einfach. So wie ihn Kanada bereits beschlossen hat.“ Es sei nicht zu ertragen, „dass die Lobbys der Fanatiker und Tyrannen im Jahre 2008 – wie einst in den dreißiger Jahren – ausgerechnet jene Nationen vor das Tribunal der Geschichte ziehen, die das Recht, den Mehrparteienstaat und die Meinungsfreiheit anerkennen“. Nun haben sich 32 Journalisten, Publizisten, Wissenschaftler und Künstler aus Europa, den USA und dem Nahen Osten Bruckner angeschlossen, darunter Jeffrey Herf, Seyran Ates, Necla Kelek, Ralph Giordano und Matthias Küntzel. Sie fordern von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in einem Aufruf, der auf Bruckners Aufsatz basiert, die „Durban 2“-Konferenz zu boykottieren und sich für eine umfassende Reform des Menschenrechtsrates einzusetzen. Es gehe „um Demokratisierung, Säkularisierung und die universalistische Verteidigung der Menschenrechte gegen einen vermeintlichen Kulturpluralismus, der auf die Verteidigung der islamischen Sharia gegen die Freiheit des Individuums hinausläuft“, heißt es zur Begründung für den Appell. Die Durban-Nachfolgekonferenz stehe diesem Ziel diametral entgegen. Zudem sei eine erneute Dämonisierung Israels zu befürchten – „und auch dem müssen Demokraten entschlossen entgegentreten“.

Die Initiatoren des Aufrufs sammeln auf ihrer Website bis zum 1. Februar nächsten Jahres Unterschriften und wollen diese vor der Durban-Folgekonferenz in Genf an die deutsche Bundesregierung und andere EU-Regierungen übergeben. Eine bemerkenswerte Initiative, der vor allem eines zu wünschen ist: größtmöglicher Erfolg.

Update 1. August 2008: Eine englische Fassung dieses Beitrags ist bei EuropeNews erschienen.

26.7.08

Deutschlands Lieblingsamerikaner

Die Deutschen lieben Barack Obama. Hätten sie zu entscheiden, wer neuer Präsident der USA wird, dem 46-Jährigen wäre eine satte Dreiviertelmehrheit gewiss. Das liegt allerdings weniger daran, dass Obama, wie ein amerikanische Genealoge errechnet hat, zu exakt 4,6875 Prozent deutsch ist, weil sein 1722 geborener Ururururururgroßvater Christian Gutknecht aus dem Elsass stammte (das damals unter der Herrschaft eines bayerischen Pfalzgrafen stand) und sich 1749 jenseits des Atlantiks niederließ. Vielmehr schwärmt man für den freundlichen Mann aus Illinois, weil er der „Anti-Bush“ (Die Welt) ist und erzählt, was man hierzulande so überaus gerne hört: Er kündigt einen Abzug der US-Truppen aus dem Irak an, will mit dem Iran verhandeln und träumt von einer Welt ohne Armut und Atomwaffen, Krieg und Klimawandel. Das alles möchte er im Verbund mit den Europäern erreichen, und dementsprechend klang seine Wahlkampfrede im Schatten der Berliner Siegessäule am Donnerstag dann auch. Alleine sechzehnmal ging es um Mauern, die niedergerissen worden seien – in Berlin, in Belfast, auf dem Balkan – oder noch niedergerissen werden müssten, wie die zwischen Arm und Reich, „Rassen“ und „Stämmen“, Eingeborenen und Einwanderern sowie Christen, Muslimen und Juden. Immerhin neunmal appellierte er dazu an ein gemeinsames Handeln: „come together“ (dreimal), „stand together“, „work together“, „bind together“, „live together“, „join together“, „trade together“. Mehr together war selten. „Obamas Reden spannen fast immer den gleichen Bogen“, kommentierte David Brooks den Berliner Auftritt des Präsidentschaftskandidaten in der New York Times spitz. „Irgendein Problem steht ins Haus, und die Uneinigkeit ist den Kräften der Gerechtigkeit im Weg. Doch dann vereinigen sich Menschen guten Glaubens, und Mauern fallen“ – quasi wie von selbst.

Wie weltfremd und damit originär deutsch-europäisch Obamas Vorstellungen sind, zeigt vor allem ein Blick auf sein Szenario von einem „Neubeginn im Nahen Osten“: „Mein Land muss gemeinsam mit eurem und mit Europa die direkte Botschaft an den Iran senden, dass er seine atomaren Ambitionen aufzugeben hat“, sagte er in Berlin. Worin diese „direkte Botschaft“ besteht, hatte er zuvor schon mehrmals deutlich gemacht: Man müsse mit den Mullahs reden und ihnen eine wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen anbieten, damit sie von ihrem Nuklearprogramm Abstand nehmen. Schlage das Regime diese Angebote aus, müsse man eben die Sanktionen verschärfen, bis der Iran einlenkt. Genau das aber wird seit Jahren versucht – ohne jeden Erfolg, wie man weiß. Eine militärische Option als ultima ratio schließt Obama jedoch kategorisch aus. Israelis und Palästinenser, „die nach einem sicheren und dauerhaften Frieden streben“, will er unterstützen – als ob die Palästinenser nicht täglich beweisen würden, dass sie unter einem „dauerhaften Frieden“ nichts anderes verstehen als die Auslöschung Israels. Die US-Truppen im Irak wiederum gedenkt Obama innerhalb von 16 Monaten zurückzuziehen. Dass das der Sicherheit des Landes nicht gerade zuträglich ist, um es zurückhaltend zu formulieren, ist zweifellos keine sonderlich gewagte Prognose. Appeasement at its worst.

Die Menge in Berlin nahm diese auf der „Messe edler Gesinnung“ (noch einmal Die Welt) gesprochenen Worte gleichwohl – besser gesagt: genau deshalb – mit warmem Applaus auf. Vernehmlicher Unmut regte sich bezeichnenderweise nur, als Barack Obama betonte: „Die afghanische Bevölkerung braucht unsere Truppen und eure Truppen, unsere Unterstützung und eure Unterstützung, um die Taliban und Al-Qaida zu besiegen.“ So etwas will man sich nämlich nicht sagen lassen in Deutschland, wo nur 14 Prozent finden, dass der Kampf gegen den internationalen Terrorismus die wichtigste Aufgabe Obamas ist, sollte er die Wahl gewinnen. Doch der Kandidat der Demokraten bekam rasch die Kurve mit seinem unmittelbar folgenden Appell für „eine Welt ohne Atomwaffen“ und seinem Aufruf, „den Planeten zu retten“. Da klatschten auch diejenigen wieder, die mit „Arrest Bush“-, „Bush is a war criminal“- oder „Hands off Iran“-Devotionalien ausgestattet waren. Und natürlich diejenigen, die zwar frank und frei zugeben, über Obamas republikanischen Kontrahenten John McCain rein gar nichts zu wissen, sich aber dennoch sicher sind, dass er „ein weißes Arschloch“ und von der „Kriegslobby“ abhängig ist. Der Wiedergänger des in Deutschland und Old Europe so verhassten Bush eben.

Dennoch ist die „Obamania“ vor allem ein Medienhype. Nach anfänglich stark schwankenden Schätzungen in Presse, Rundfunk und Fernsehen war schließlich nahezu einvernehmlich von 200.000 Menschen die Rede, die Obamas Auftritt in der deutschen Hauptstadt vor Ort mitverfolgt hätten. Eine Zahl, die nicht einmal ansatzweise der Realität entsprach, wie der amerikanische Journalist John Rosenthal zeigte. Augenscheinlich war der Wunsch Vater des Gedankens – der Wunsch nämlich, den Mann des „anderen“, des „besseren Amerikas“ zu pushen, einen Mann, der so recht nach dem Geschmack der Deutschen und Europäer ist, weil er denkt und redet wie sie. Gar als „Erlöser“ rühmte ihn der Stern (die deutlich kleiner geschriebene Frage „oder Verführer?“ deutet auf vorhandene Restzweifel hin, schließlich ist der Mann immer noch Amerikaner). Und dem Spiegel muss der Freud die Feder geführt haben, als er in seinem „Live-Ticker“ die rheinland-pfälzische US-Militärbasis Ramstein – deren Besuch Obama schließlich absagte – mit der deutschen Brutalo-Band Rammstein verwechselte, die für ihre Videos auch schon mal das Filmmaterial von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl verwendet. Ein Triumph des Wollens gewissermaßen, den die deutsche Presse da feierte – dafür allerdings sollte Barack Obama bei aller Kritik dann doch nicht in Haftung genommen werden.

Ein herzliches Dankeschön an barbarashm für wertvollste Hinweise.

22.7.08

Avnerys Armageddon

Vielleicht muss man Nachsicht mit Uri Avnery üben, schließlich ist er mit seinen fast 85 Jahren nicht mehr der Allerjüngste. Andererseits ist Altersstarrsinn wirklich unangenehm, und deshalb verdient es der „Darling der deutschen Israelkritikerszene“ (Claudio Casula) auch nicht, einfach in Ruhe gelassen zu werden. „Verschiedene Planeten“ hat er seinen unlängst auf seiner Website veröffentlichten Beitrag zum „Gefangenenaustausch“ zwischen Israel und der Hizbollah getauft, und nach dessen Lektüre drängt sich die Frage auf, welchen Himmelskörper Avnery (Foto) eigentlich bewohnt. Die Erde kann es jedenfalls nicht sein. Am wahrscheinlichsten ist, dass er mit seinem Raumschiff Unterpreis gerade einen Billigflug hinter den Mond unternommen hat.

Dort verbrachte er am vergangenen Mittwoch „den ganzen Tag“ damit, „ständig zwischen israelischen Fernsehkanälen und Al-Jazeera zu schalten“. Und das sei „eine unheimliche Erfahrung“ gewesen: „Im Bruchteil einer Sekunde konnte ich zwischen zwei Welten wechseln, aber alle Kanäle berichteten genau über dasselbe Ereignis.“ In dessen Zentrum habe ein Mann gestanden, „der die beiden Welten, die israelische und die arabische, trennt: Samir al-Kuntar“. Alle israelischen Medien hätten ihn „Mörder al-Kuntar“ genannt, „als ob dies sein Vorname wäre“. Ist er tatsächlich nicht, da hat Avnery durchaus Recht. Aber als Berufsbezeichnung taugt das Wort ziemlich gut.

Dieser Kuntar habe „vor 29 Jahren, bevor die Hizbollah ein bedeutsamer Faktor wurde“ – als also noch andere für den Judenmord zuständig waren – „mit seinen Kameraden am Strand von Nahariya einen Angriff“ ausgeführt, „der sich wegen seiner Grausamkeit ins israelische Nationalgedächtnis eingeprägt hat“, klärt der Grandseigneur der israelischen Friedensbewegung auf, um sogleich einzuschränken: „Al-Kuntar war damals 16 Jahre alt – er war weder Palästinenser noch Schiite, sondern ein libanesischer Druse und Kommunist.“ Ob er damit in Avnerys Augen qua Jugend, Herkunft und politischer Gesinnung mildernde Umstände oder die Berufung auf Höheres beanspruchen darf, erfährt man leider nicht. Dafür kramt Avnery umso tiefer in seinem Gedächtnis und findet dort einen „ähnlichen Vorfall“, über den er „vor vielen Jahren mit meinem Freund Al-Sartawi“ ein „Streitgespräch“ gehabt habe:
„Al-Sartawi war ein palästinensischer Held, ein Vorkämpfer für Frieden mit Israel; er wurde wegen seiner Kontakte mit Israelis ermordet. 1978 landete eine Gruppe palästinensischer Kämpfer (nach israelischer Sprachweise ‚Terroristen’) an der Küste südlich von Haifa, um Israelis für einen Gefangenenaustausch zu kidnappen. Am Strand begegnete ihnen eine Fotografin, die dort in aller Unschuld spazieren ging. Sie brachten sie um. Danach brachten sie einen Bus voller Passagiere in ihre Hände – und am Ende wurden sie getötet. Ich kannte die Fotografin. Sie war eine zarte junge Frau, eine gute Seele, die gern Blumen in der Natur fotografierte. Ich machte Al-Sartawi gegenüber Vorhaltungen wegen dieses abscheulichen Aktes. Er antwortete mir: ‚Das verstehst du nicht. Es sind Jugendliche, fast noch Kinder ohne Erfahrungen, die hinter den Linien eines für sie schrecklichen Feindes operierten. Sie hatten fürchterliche Angst. Sie waren nicht in der Lage, mit kühler Logik zu handeln.’ Das war einer der wenigen Fälle, in denen wir nicht übereinstimmten – obwohl wir beide, jeder innerhalb seines Volkes, am Rande des Randes des politischen Konsenses lebten.“
Was für ein Glück für die „zarte junge Frau“, dass sie bloß die Rabatten knipsen wollte und deshalb Gnade vor den Augen des alten Peacemakers fand! Und was für ein „palästinensischer Held“, was für ein „Vorkämpfer für Frieden mit Israel“, der da größtes, ja, geradezu väterliches Verständnis für den Nachwuchs hatte, weil dieser nun mal „fürchterliche Angst“ vor einem „schrecklichen Feind“ leide und deshalb – sozusagen als Kompensation – Zivilisten meucheln und Busse kapern müsse! Dass Al-Sartawi mit solchen Ansichten „innerhalb seines Volkes am Rande des Randes des politischen Konsenses“ gelebt haben soll, kann übrigens nur ernsthaft glauben, wem selbst eine solch kaltblütige Rechtfertigung eines Mordes nicht mehr ist als eine kleine Meinungsverschiedenheit. Aber gute Freunde kann halt niemand trennen, das wusste Franz Beckenbauer schon 1966.

Und deshalb lässt sich Uri Avnery auch weder durch Kuntars Gemetzel noch durch den Staatsempfang für den Terroristen 29 Jahre später in seinem Glauben an die unermessliche Friedfertigkeit der Araber erschüttern. Im Gegenteil habe sich Israel die Party für den Heimgekehrten selbst zuzuschreiben, weil es „aus einem einfachen Gefangenen einen pan-arabischen Helden gemacht“ habe – durch sein „endloses Reden über den ‚blutbefleckten Mörder’“ nämlich. Dass Kuntar im Knast Englisch und Hebräisch lernen, ein Soziologiestudium abschließen und heiraten durfte und bei seiner Freilassung außerdem nicht gerade unterernährt aussah, ist da natürlich nicht der Rede wert. Viel lieber gibt Avnery zum Besten, die israelische Öffentlichkeit habe in ihrem „Wirbel von Selbstmitleid [!] und Trauerzeremonien keine Kraft und Interesse, den Versuch zu machen, um zu verstehen, was auf der anderen Seite geschah“.

Umso größer ist das Verständnis, das Avnery höchstselbst aufbringt: „Es war natürlich der große Tag Hassan Nasrallahs“, schreibt er in seinem Beitrag. „In den Augen von Dutzenden von Millionen Arabern hat er einen riesigen Sieg errungen. Eine kleine Organisation in einem kleinen Land hat Israel, die Regionalmacht, auf die Knie gezwungen, während die Herrscher aller arabischen Länder die Knie vor Israel beugen.“ Diese „Demonstration persönlichen Mutes und Selbstvertrauens“ sei „charakteristisch für das dramatische Talent“ Nasrallahs, glaubt Avnery, um sodann die antiisraelischen Siegesfeiern im Libanon zu schildern, als wären sie ein Naturereignis gewesen:
„Es war für den arabischen Zuschauer unmöglich, nicht von den Wellen der Begeisterung mitgerissen zu werden. Für einen jungen Menschen in Riad, Kairo, Amman und Bagdad gab es nur eine mögliche Reaktion: hier ist der Mann! Hier ist der Mann, der die arabische Ehre nach Jahrzehnten von Niederlagen und Demütigung wieder herstellt. Gemessen an diesem Mann sehen die Führer der arabischen Welt wie Zwerge aus. Und als Nasrallah verkündigte: ‚Von diesem Augenblick an ist die Ära der arabischen Niederlagen zu Ende!’, hatte er die Stimmung des Tages eingefangen.“
Nur einige wenige Wörter ausgetauscht – „arabisch“ gegen „deutsch“ etwa oder „Riad, Kairo, Amman und Bagdad“ gegen „München, Berlin, Nürnberg und Köln“ –, und das Ganze hätte auch im Völkischen Beobachter stehen können. Das heißt nicht, dass Avnery ein Nazi ist, aber es gewährt trotzdem tiefe Einblicke in den Geisteszustand dieses Mannes, der den frenetischen Jubel in der arabischen Welt für eine der abscheulichsten Figuren auf der politischen Bühne augenscheinlich als zwangsläufig, alternativlos und nachvollziehbar betrachtet. Verglichen mit dem politischen Personal Israels sehe Nasrallah „verantwortlich, glaubwürdig, logisch und entschieden aus“, fährt Avnery fort, bevor er resümiert, der Chef der Gotteskrieger habe den krisengeschüttelten Libanon zu einem „geeinten Land“ gemacht.

In diesen Worten schwingt Anerkennung, wo nicht gar Bewunderung mit. Dass Avnery anschließend davon spricht, die „national-religiöse Welle in der arabischen Welt“ sei eine Gefahr für Israel, ist nur vordergründig ein Widerspruch. Denn für ihn sind selbstverständlich „alle israelischen Regierungen“ seit der Staatsgründung ganz allein verantwortlich für die gegenwärtige Situation, und sein Lösungsvorschlag sieht deshalb nicht weniger als die faktische Unterwerfung, also die Kapitulation Israels vor: Mit Nasrallah wie mit Assad, mit dem Iran wie mit der Hamas, mit all seinen Todfeinden also – von Avnery „Partner für den Frieden“ genannt – möge der jüdische Staat, bitteschön, in Verhandlungen treten. Es muss eine Art Sehnsucht nach dem Armageddon sein, die ihn dabei beflügelt. Denn unter „Frieden“ mit Israel verstehen die arabischen Führer und ihre Gefolgschaft nichts anderes als dessen Vernichtung, wie sie mehr als einmal deutlich gemacht haben. Und zwar aus prinzipiellen Erwägungen, denn Kompromisse gelten in diesen Kreisen als Zeichen von Schwäche. Das weiß Avnery natürlich – es wäre respektlos, ihm in seinem Alter Naivität zu unterstellen.

Zum Glück wird er in Israel schlicht ignoriert; außer ein paar unverbesserlichen Aktivisten hört dort niemand auf ihn. In Deutschland hingegen wurde sein Beitrag von den üblichen Verdächtigen wie immer dankbar aufgegriffen – von A wie Arendt bis Z wie ZNet. Und bei denen ist Nachsicht zweifellos völlig unangebracht.

18.7.08

Humanitärer Makel

Es war abzusehen, dass die Hamas nach dem glorreichen Tausch zweier Särge gegen fünf quicklebendige Terroristen, den ihre Kameraden von der Hizbollah am Mittwoch ausgiebig gefeiert haben, Blut geleckt hat. Schließlich besitzt sie mit dem israelischen Soldaten Gilad Shalit ein echtes Faustpfand. Doch die bislang mit dessen Einlösung betrauten ägyptischen Gesandten spuren offenbar nicht so, wie die Gotteskrieger es gerne hätten:
„Die Ägypter haben gezeigt, dass sie unfähig sind, genügend Druck auf Israel auszuüben, um unsere Forderungen durchzusetzen“, sagte ein Vertreter der Hamas. Ein anderer äußerte, die Hamas habe den Eindruck, dass die Ägypter „eher auf der Seite Israels stehen als auf unserer. Wir erwarten von unseren ägyptischen Brüdern, dass sie in den Gesprächen über Shalit die Interessen aller Araber vertreten. Aber wir scheinen ihnen egal zu sein.“
Derlei Gleichgültigkeit kann man den Deutschen weiß Allah nicht nachsagen, und deshalb bekommt der Bundesnachrichtendienst nicht nur den verdienten Beifall von der richtigen Seite, sondern auch gleich den Auftrag, die erwähnten „Interessen aller Araber“ wahrzunehmen:
Am Donnerstag sagten einige Hamas-Vertreter, sie glaubten, dass deutsche Vermittler effektiver darin seien, einen Gefangenenaustausch mit Israel einzufädeln. Osama Hamdan, der Repräsentant der Hamas im Libanon, bestätigte, dass der Wunsch in seiner Bewegung wachse, die guten Dienste der Deutschen zu beanspruchen. Bislang habe es jedoch noch keine offiziellen Bemühungen gegeben, die Ägypter durch Deutsche zu ersetzen. Die Hamas habe allerdings auch keine Eile mit dem Fall Shalit, sagte Hamdan. „Wir wollen einen gerechten und fairen Deal, um das zu erreichen, was wir wollen.“
Nämlich die Freilassung von 1.000 Gefangenen im Austausch gegen Shalit. Nicht mehr und nicht weniger. Ein klarer Fall also für den selbst ernannten „ehrlichen Makler“ und einen von ihm zu beauftragenden „Mr. Hamas“, findet auch die Terrorbande, denn sie weiß, auf wen mehr Verlass ist als auf die Verräter aus Ägypten:
„Der Hauptgrund, warum der Handel mit der Hizbollah erfolgreich war, liegt darin, dass der deutsche Vermittler objektiv und fair war“, hieß es auf einer Website der Hamas. „Die ägyptischen Vermittler, die die indirekten Gespräche zwischen der Hamas und Israel abwickeln, sind nicht ehrlich. Sie versuchen, die israelischen Forderungen zu erfüllen, indem sie Druck auf die Palästinenser ausüben und deren schlechten Lebensumstände ausnutzen, die aus der Besatzung resultieren.“
„Israelische Forderungen zu erfüllen“ oder „Druck auf die Palästinenser auszuüben“, das fiele den Deutschen ganz sicher nicht ein. Hinterher wird die Bundesregierung zweifellos wieder zufrieden verkünden, Deutschland habe „Brücken zu beiden Seiten bauen können“ und werde auch weiterhin „auf humanitäre Lösungen dringen“. So humanitär, wie der Tausch von tausend Terroristen gegen einen Soldaten eben ist.

Übersetzung: Lizas Welt

17.7.08

Die Fratze der Barbarei

Dass die Hizbollah den gestrigen „Gefangenenaustausch“ mit Israel als großen Erfolg verbuchen kann, dürfte unstrittig sein. Die Leichen von zwei israelischen Soldaten gegen fünf inhaftierte Terroristen – der Deal hat sich für Hassan Nasrallahs Mordbande wahrlich gelohnt. Nun sitzt kein einziges ihres Mitglieder mehr in einem israelischen Gefängnis. Unter den Freigelassenen war auch Samir Kuntar (Foto rechts), jener PLF-Anführer, der 1979 in Nahariya fast eine ganze Familie auslöschte und dabei den Kopf eines vierjährigen Mädchens mit einem Gewehrkolben zertrümmerte. Am Dienstag war er nach 29 Jahren Haft von Israels Staatspräsident Shimon Peres begnadigt worden. Mit dem ungleichen Austausch wurde die Hizbollah faktisch belohnt; sie darf ihn getrost als Beleg dafür werten, dass es sich rechnet, nach Belieben Soldaten des Erzfeindes zu entführen – und dabei auch gleich umzubringen. Dass Ehud Goldwasser und Eldad Regev lebend überstellt werden würden, glaubten in Israel schon seit längerem nur noch wenige – was nichts daran ändert, dass die endgültige Gewissheit immer unvorstellbar grausam ist. Der Preis, den Israel gezahlt hat, war hoch – zu hoch, meinen viele Israelis, ohne deshalb weniger Verständnis für die Situation der Familien der beiden Soldaten zu haben und zu zeigen.

Der Transfer und die ihm folgenden Ereignisse verweisen aber noch auf ein viel grundsätzlicheres Problem: „Nichts symbolisiert den Unterschied zwischen Zivilisation und Barbarei so deutlich wie das Bild der zwei Särge, die an der Grenze zum Libanon entgegen genommen wurden“, umriss es Claudio Casula auf Spirit of Entebbe. Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod, lautete die programmatische Botschaft dieses Bildes, und sie entsprach damit exakt jener Maxime, die schon so oft von den islamischen Gotteskriegern propagiert und in mörderische Taten umgesetzt worden ist. Verstärkt wurde der Unterschied, von dem Casula schrieb, noch durch die Geschehnisse, die der Übergabe folgten: Während sich am Grenzübergang Rosh Hanikra auf israelischer Seite dramatische Szenen abspielten und nicht nur Angehörige, Freunde und Bekannte der beiden Soldaten den Vorgängen fassungslos und in tiefster Trauer gegenüberstanden, wurde den heimkehrenden Terroristen im Libanon ein Staatsempfang bereitet und buchstäblich ein roter Teppich ausgerollt. Im Gazastreifen gab es derweil zur Feier des Tages Süßigkeiten, und der Hamas-Führer Ismail Haniya gratulierte Kuntar und der Hizbollah zum „großen Sieg des Widerstands“, der gezeigt habe, „dass unser Weg der richtige ist“. Aus der Westbank schickte der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas seine Glückwünsche an Kuntars Familie.

„Neben der Gewissheit der Familien Regev und Goldwasser über das Schicksal ihrer Söhne“ – die heute beerdigt werden – „ist die eindrucksvolle Bestätigung der Niederträchtigkeit ihrer islamistischen Feinde das einzig Positive, was sich über den ‚Gefangenenaustausch’, der keiner ist, sagen lässt“, resümierte Casula. „Was lernen wir also aus diesem faulen Handel? Dass Israel gut daran täte, bei nächster sich bietender Gelegenheit die heute hämisch grinsende Visage Nasrallahs in den Staub zu drücken – und die seiner Horden gleich mit.“ So müsse der jüdische Staat auch in Gaza verfahren, wenn dem ebenfalls entführten und von der Hamas gefangen gehaltenen Gilad Shalit etwas zustoße. In einer zivilisierten Welt sei für Barbaren wie Hizbollah und Hamas kein Platz. Das Weblog Letters from Rungholt ergänzte: „Natürlich mag es im palästinensischen Volk Menschen geben, mit denen wir einen Friedensprozess führen könnten, die ähnliche Ziele haben wie wir. Nur: Wo sind sie? Wo hört man ihre Meinung? Wenn es sie gibt, ist ihre Einstellung jedenfalls lebensgefährlich, und sie behalten sie für sich. Die große Masse der arabischen Welt ist trunken von Hass gegen uns. Nichts, was Israel getan oder angeblich getan hat, rechtfertigt diesen Hass.“

In Deutschland feiert man unterdessen den Bundesnachrichtendienst, der den Austausch vermittelt hatte. „Mr. Hizbollah“ wird der verantwortliche Emissär Gerhard C. BND-intern genannt, und das ist als Auszeichnung gemeint. Auch die Bundesregierung ist zufrieden: Die Aktion sei ein „Erfolg“ gewesen, war ihr Sprecher Thomas Steg zu vernehmen. Deutschland habe „Brücken zu beiden Seiten bauen können“. Der Austausch sei „ein kleiner Beitrag in einem zeitlichen Umfeld, in dem sich in Nahost positiv etwas zu entwickeln scheint“. Der Sprecher des Auswärtigen Amts, Andreas Peschke, kündigte an, man werde in den Fällen weiterer vermisster israelischer Soldaten ebenfalls „auf humanitäre Lösungen dringen“. Den Hinterbliebenen von Ehud Goldwasser und Eldad Regev, und nicht nur ihnen, müssen diese Worte wie Hohn vorkommen.

15.7.08

Banal total

Vergleiche mit dem Holocaust haben Konjunktur, seit die Deutschen ihn ins Werk gesetzt haben: Alte und neue Nazis bezeichnen mal die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte während des Zweiten Weltkriegs und mal die Aussiedlung der Deutschen aus Osteuropa als „Holocaust am deutschen Volk“, Abtreibungsgegner schwadronieren von einem „Baby-Holocaust“ (oder „Babycaust“), Veganer nennen den Fleischkonsum einen „Tier-Holocaust“, Hundebesitzer heften ihren Vierbeinern gelbe Sterne an, um damit gegen den Leinenzwang zu protestieren, und Joschka Fischer entdeckte im Vorfeld des Krieges gegen Jugoslawien 1999 im Kosovo ein „zweites Auschwitz“. Der Evergreen unter den Banalisierungen der Shoa ist jedoch der vorgebliche „Holocaust an den Palästinensern“, geplant und ausgeführt, so heißt es, ausgerechnet von jenen, die (oder deren Vorfahren) selbst Opfer von Verfolgung und Vernichtung gewesen seien. Waren es in früheren Jahren noch vor allem linksradikale Gruppierungen wie die RAF oder die Revolutionären Zellen, die derlei behaupteten, so fanden vor vier Jahren bereits 51,2 Prozent aller Deutschen: „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben.“ Gar 68,3 Prozent waren der Meinung, Israel führe „einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“. Gleiches verbreiten bekanntlich auch palästinensische, iranische und arabische Propagandastellen und ihre Adepten.

Einen Holocaust-Vergleich wollen der britische Entwicklungsminister Shahid Malik und der Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien (ZfT), Faruk Sen (Foto), nach eigenem Bekunden zwar nicht vorgenommen haben, als sie kürzlich äußerten, die Muslime seien „die Juden von Europa“ (Malik) und die Türken „die neuen Juden“ (Sen). Dass die Art und Form der Ausgrenzung sich ähnlich sind, glaubten allerdings beide. Unterstützung erhielt der SPD-Politiker Sen dabei vom Sprecher des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Sergey Lagodinsky. Der schrieb in der taz, die Singularität des Holocausts stehe „außer Frage“, doch die „Diskriminierungsgeschichte der europäischen Juden“ sei „mehr als eine Geschichte der Vernichtung“. Das scheine aber „durch unsere intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust verschüttet gegangen zu sein“: „Der Vorwurf des Antisemitismus wird zum Vorwurf einer Vernichtungsabsicht. Alles, was die Hürde dieser Monstrosität nicht zu nehmen vermag, wird ausgeblendet.“ Wer Details über den Umgang mit Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert lese, entdecke jedoch „unangenehme Parallelen zu heutigen Debatten“, meint der 32-jährige Jurist und Publizist: „Vom Vorwurf der ‚doppelten Loyalitäten’ und Diskussionen um die Grausamkeit und das Verbot ritueller Schächtungen bis hin zum deutschen Strafrecht, das es untersagt, sich durch Gruppenbeleidigungen individuell betroffen zu fühlen.“ Angesichts dessen sei die Frage „nach ähnlichen, wenn auch nicht identischen Wahrnehmungsmustern von Juden damals und Türken heute nicht völlig aus der Luft gegriffen.“

Rassismus und Antisemitismus

Lagodinsky irrt – wie auch Malik und Sen –, und das aus mehreren Gründen. Da ist zunächst einmal die Abspaltung der Diskriminierung der europäischen Juden von ihrer Vernichtung – eine Trennung, die schlicht und ergreifend unsinnig und unzulässig ist. Denn durch sie wird der Antisemitismus nicht mehr als umfassende Weltanschauung begriffen, die in der Konsequenz immer und per se auf die schiere Existenz von Juden zielt, sondern lediglich als eine Form des Rassismus unter vielen verstanden. Warum das falsch ist, zeigen bereits grundlegende Fragen, wie sie der Politikwissenschaftler Clemens Heni, bezogen auf die Äußerungen Sens und Lagodinskys, in einem Kommentar gestellt hat: „Wo sind die Vernichtungsdrohungen gegen Türken? Wo sind die ‚Protokolle der Weisen von Istanbul’? Wo werden Türken des Ritualmordes beschuldigt? Wo wird die weltweite Verschwörung der Groß- oder Jungtürken [behauptet]? [...] Wo wurde jemals den Türken oder den Muslimen die Entwicklung des Kapitalismus zur Last gelegt? Oder wo wurden Türken der bolschewistisch-kommunistischen Revolte [geziehen]? Wo wird Türken (oder Muslimen insgesamt) unterstellt, sie würden mit ihrer ‚Künstlichkeit’ und Modernität die organische Verwobenheit der Menschen zerstören?“

Henis Fragen verweisen auf Unterschiede zwischen Judenhass und Ausländerfeindlichkeit, die nicht nur gradueller Natur sind. Zwar verweigert sowohl der Rassist als auch der Antisemit ganz bestimmten Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe an der eigenen Gesellschaft; zwar behauptet der eine wie der andere die Verschiedenwertigkeit von Menschen(gruppen) und die Höherwertigkeit des eigenen nationalen Kollektivs; zwar befürworten beide zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen auch unmittelbare Gewalt und werden dabei gegebenenfalls selbst handgreiflich – auf eigene Faust wie auch im Mob. Doch während der Rassist meistenteils mit der staatlich organisierten Abschiebung, Versklavung und Kolonisierung seiner Hassobjekte – die er je nachdem für triebhaft, faul, schmutzig, hinterhältig, primitiv oder kriminell hält – ruhig zu stellen ist, geht es dem Antisemiten um nicht weniger als die Auslöschung seiner Feinde, der Juden.

Sie nämlich hält er für die absolute Gegenrasse, für das Anti-Volk, das die „Völker“ zersetzt; sie verdächtigt er, im Verborgenen die Weltherrschaft zu planen; sie macht er für alles Übel dieser Welt verantwortlich: für Globalisierung und Egoismus, für Vereinzelung und die Zerstörung traditioneller sozialer Beziehungen, für die Macht der Banken und die Dominanz des Geldes, für Kosmopolitismus und Krieg. Kurz: Der Rassist konstruiert „Untermenschen“, die er dauerhaft aus den Augen geschafft haben und beherrschen will; der Antisemit sieht in den Juden so unsichtbare wie allgegenwärtige „Übermenschen“, deren von ihm selbst erfundene Allmacht letztlich nur durch eine möglichst vollständige Vernichtung zu brechen ist. Dass das eine mit dem anderen überaus häufig zusammengeht und in Personalunion auftritt, ist dabei gerade kein Widerspruch.

Doch Shahid Malik, Faruk Sen und Sergey Lagodinsky liegen mit ihrer Parallelisierung noch aus anderen Gründen daneben. „Denn von einer systematischen Diskriminierung oder gar Verfolgung der etwa 25 Millionen Muslime in Europa, wie sie den Juden des 19. und 20. Jahrhunderts widerfuhr, kann heute keine Rede sein“, befand Richard Herzinger in der Jüdischen Allgemeinen zu Recht. „Dass Muslime als einzelne und als Gruppe tatsächlich vielfach herabwürdigenden Vorurteilen oder rassistischen Anwürfen und Angriffen ausgesetzt sind, ist zwar wahr und schlimm. Doch es gibt in den europäischen Demokratien keine offizielle Politik der Ausgrenzung und Diffamierung gegenüber der islamischen Religion und Kultur – von staatlich geförderten oder geduldeten Pogromen gar nicht zu reden. Im Gegenteil: Nachdem die muslimische Präsenz in Europa jahrzehntelang verdrängt oder ignoriert wurde, erleben wir heute einen intensiven Diskurs über ihren Platz in der Mitte der europäischen Gesellschaft.“ Noch weniger als Muslime im Allgemeinen seien türkischstämmige Europäer im Besonderen von einer organisierten Verfolgung bedroht, konstatierte Herzinger, „nicht zuletzt dank der Existenz eines türkischen Staates, dessen Bedeutung für Europa in den kommenden Jahrzehnten weiter zunehmen wird“.

Holocaust-Vergleich durch die Hintertür

Maliks und Sens Rede von den Muslimen und Türken als den „Juden von heute“ ist also falsch, und zwar – qualitativ wie quantitativ – auch dann, wenn sich ihr Vergleich „nur“ auf die Diskriminierung der Juden jenseits der Shoa bezogen haben sollte. Aber ihre Beteuerung, keine Analogie zum Holocaust vorgenommen haben zu wollen, hat ohnehin keine Substanz: Zu offensichtlich war ihr Spiel mit den Assoziationen, zu durchschaubar ihre Absicht, nicht nur zu vergleichen, sondern gleichzusetzen – und damit zu suggerieren, den Muslimen respektive Türken drohe heute letztlich das gleiche Schicksal wie den Juden damals, nämlich die Vernichtung. Der Holocaust-Vergleich hat also quasi die Hintertür genommen. Gleichwohl wird auch auf diese Weise – „wie bewusst auch immer – das Unvergleichliche nicht nur der Judenfeindschaft, sondern namentlich der Shoa geleugnet“, resümierte Clemens Heni treffend, und er benannte, den Historiker Dan Diner zitierend, die unweigerlichen Konsequenzen: „Wie unter der Hand wird der so seiner Geschichtlichkeit entblößte Holocaust – das zum bloßen Exempel verallgemeinerte Ereignis Auschwitz – zu einem Genozid unter anderen Genoziden mutieren.“

Infolge einer solchen „anthropologisierenden Wahrnehmung“ (Diner) gerät zudem aus dem Blickfeld, dass der Antisemitismus mitnichten tot ist; er hat auch nicht an Bedeutung verloren oder der „Islamophobie“ Platz gemacht. Vielmehr hat er eine Art Modernisierung durchlaufen und tritt heute bevorzugt als „Antizionismus“ und „Israelkritik“ auf; er hält sich dadurch für ehrbar und kann doch seine Verwandtschaft mit dem Judenhass alter Prägung nicht verbergen. Vertreten wird dieser (gar nicht so) neue Antisemitismus nicht zuletzt von den Nachfahren derjenigen, die einst die Shoa ersannen und vollstreckten, derweil sich diejenigen Palästinenser, Araber, Muslime, die sich als Opfer eines angeblich von Israel betriebenen „Holocausts“ wähnen, wünschen, dem jüdischen Staat und seinen Bürgern möge das Gleiche widerfahren wie weiland den europäischen Juden, nachdem sie keine Staatsbürger mehr sein durften.

Und ihre Chancen stehen nicht einmal schlecht: Das iranische Regime arbeitet tatkräftig – und kaum ernsthaft gehindert, schon gar nicht von der deutschen Regierung – daran, die Träume der Judenfeinde aller Couleur Wirklichkeit werden zu lassen und das zu vollenden, was die Deutschen vor 63 Jahren abzubrechen gezwungen wurden. Doch just wer sich dadurch an den Holocaust erinnert fühlt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dessen Verharmlosung zu betreiben; noch nicht einmal antisemitisch sollen die Pläne der Mullahs sein, sagen nicht wenige von denen, die sonst bereits das morgendliche Klingeln des Weckers für lupenreinen Faschismus halten.

Dass Faruk Sen entlassen werden soll, ist gewiss nicht zu bedauern. Aber die Begründung dafür geht an der Sache vorbei: Für NRW-Integrationsminister Armin Laschet ist Sen nämlich „weder ein Antisemit noch ein Relativierer des Holocaust“, sondern bloß einer, der „die deutsche Integrationspolitik“ verkenne. Sens Aussage treffe „insbesondere die deutsche Gesellschaft“, fand Laschet in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung; selbst mit gutem Willen dürfe man „so die Deutschen und die deutsche Gesellschaft nicht mit der Zeit vor 1945 vergleichen“. Der ZfT-Direktor hat sich also nicht der Banalisierung der Shoa schuldig gemacht, sondern an der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ vergangen. Und das wiegt hierzulande allemal schwerer.

10.7.08

Kollektive Amnesie in Köln

Als Mitte Juni nach jahrelangem Ringen die Entscheidung gefallen war, wie das geplante Jüdische Museum auf dem Kölner Rathausplatz aussehen soll, gab es allenthalben großen Beifall für das Modell. Auch die Stadtoberen applaudierten vernehmlich – um wenige Tage später, flankiert von der Lokalpresse, den Bauentwurf plötzlich scharf zu kritisieren. Nun steht das Projekt, dem ein Ratsbeschluss aus dem Jahr 2006 zugrunde liegt, erneut in Frage. Die Geschichte einer Provinzposse in der angeblich schönsten Stadt Deutschlands.

Ein Rathausplatz ist gewöhnlich ein zentraler Ort, häufig sogar der Mittelpunkt einer Stadt. Das namensgebende Amtsgebäude wird oft von einer baulich mehr oder weniger attraktiven Fußgängerzone gesäumt, die Touristen wie Einheimische anziehen soll, nicht zuletzt mit Straßencafés und schicken Läden. In Köln aber ist das anders: Dort liegt der Rathausplatz zwar ebenfalls mitten in der City, zwischen Domplatte und Alter Markt. Aber seine Anziehungskraft hält sich, bei Lichte betrachtet, in Grenzen: Er ist leicht abschüssig und Durchgangsgebiet sowohl für Autofahrer wie für Fußgänger; eingerahmt wird er von der Rathauslaube, dem Wallraf-Richartz-Museum und einer großen Wohnanlage, deren Erdgeschoss einige wenige Geschäfte beheimatet. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Rathausplatz zerstört; nach dem Wiederaufbau war er größer als zuvor und ansonsten – typisch für Köln – eine städtebauliche Katastrophe, eine „verhübschte Nachkriegsbrache“, wie Stefan Kraus vom Diözesanmuseum treffend befand.

Die Straße, die direkt am Rathaus vorbei führt, heißt Judengasse – ein Hinweis auf das jüdische Viertel, das sich im Mittelalter an dieser Stelle befand. Wer heute über den Platz geht, sieht die Reste davon: die Mikwe – das jüdische Ritualbad – unter einer Glaspyramide und seit einiger Zeit die Grundmauern der Synagoge, geschützt von einem großen Zelt. 1424 hatte der Rat beschlossen, die Juden „auf alle Ewigkeit“ zu verbannen; die Synagoge wurde anschließend zu einer Kapelle umgebaut. Hier – am historischen Ort also – soll nun ein Haus und Museum der jüdischen Kultur entstehen. Köln hat die älteste jüdische Gemeinde nördlich der Alpen – die Zeugnisse gehen zurück bis ins Jahr 321, zu der Zeit Kaiser Konstantins des Großen –, es verfügt über unvergleichliche jüdische Schätze und die größte Judaica-Sammlung Europas. Aber er hat bislang kein Jüdisches Museum, anders als etwa Frankfurt, München und Berlin.

Doch nicht die Stadt Köln tritt für dessen Bau ein, sondern seit 1996 eine Gesellschaft zur Förderung eines Hauses der jüdischen Kultur in Nordrhein-Westfalen. Mit privaten Mitteln und der Hilfe von Sponsoren will sie ihr Projekt Wirklichkeit werden lassen, und einen anderen Standort als den Rathausplatz hat sie stets abgelehnt. Aus gutem Grund: Das mittelalterliche jüdische Viertel ist das „wichtigste Monument jüdischen Lebens am Rhein“, wie der Vorsitzende des Fördervereins, Benedikt Graf Hoensbroech, zu Recht befand. „Das dort vorhandene archäologische Bauensemble ist in Europa einzigartig.“ Als das Vorhaben jedoch konkreter wurde, regte sich Widerspruch: „Der Platz ruft von sich aus nicht nach einer Bebauung“, fand beispielsweise der Kölner Ex-Stadtkonservator Ulrich Krings, und der Vorsitzende des Kölner Haus- und Grundbesitzervereins, Hanns Schaefer, fürchtete, von einem „Platz der Bürger“ könne nach dem Bau des Jüdischen Museums „keine Rede mehr sein“. Gar für ein „Symbol des Wiederaufbaus nach dem Krieg“ hielt der Vorsitzende des Stadtentwicklungsausschusses, Karl Jürgen Klipper, das Gelände.

Ein Ratsbeschluss und die Folgen

Die Befürworter eines Jüdischen Museums auf dem Rathausplatz waren im Kölner Rat jedoch in der Mehrheit, und so wurde im Mai 2006 der Beschluss gefasst, dem Förderverein das Areal kostenlos zur Bebauung zu überlassen – mit den Stimmen von SPD, FDP und den Grünen, gegen die Stimmen der CDU und bei einer Enthaltung des Oberbürgermeisters Fritz Schramma. Die Entscheidung war allerdings an Bedingungen geknüpft: Zum einen sollte der Verein als Bauherr die Finanzierung in Höhe von geschätzten 15 Millionen Euro alleine gewährleisten; zum anderen sollte ein von der Stadt ausgeschriebener Architektenwettbewerb ermitteln, welches Modell das am besten geeignete ist. Die Teilnehmer standen dabei vor der komplizierten Aufgabe, auch die Archäologische Zone auf dem Rathausplatz zu berücksichtigen. Diese Grabungsstätte – die im Unterschied zum Museum durch die Stadt und das Land finanziert wird – ist ein wesentlicher Baustein des Projekts Regionale 2010, einer Ausstellung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen zur Förderung der Strukturentwicklung. Sie umfasst neben den mittelalterlichen jüdischen Bodendenkmalen auch Bauten aus der Römerzeit.

Mitte Juni kürte ein international besetzter Gutachterausschuss den Sieger des Wettbewerbs, zu dem 36 Arbeiten eingereicht worden waren. Die Wahl fiel mit der deutlichen Mehrheit von 21:1 Stimmen auf das Architekturbüro Wandel Hoefer Lorch + Hirsch aus Saarbrücken, das bereits die Neubauten der Synagogen in Dresden und München entworfen hatte. Nach dessen Plan soll über der Archäologischen Zone ein mit Stützen versehenes Tragwerk entstehen. Dessen oberer Teil ist aus Stein, der untere ist gläsern und ermöglicht Einblicke auf die Grabungen. Die frühere Synagoge und die Mikwe werden von dem Bau eingeschlossen und von oben belichtet. Durch das Konzept wird das mittelalterliche jüdische Viertel in seinen Grundzügen wiederhergestellt. Die Höhe des Baus bleibt dabei unter der des unmittelbar benachbarten Wallraf-Richartz-Museums.

Die Reaktionen auf den Siegerentwurf fielen durchweg positiv aus, auch bei den Stadtoberen. „Dankbar und froh“ war etwa Oberbürgermeister Fritz Schramma, dass „an dem historischen Platz, wie es ihn in dieser Konstellation nördlich der Alpen kein zweites Mal gibt“, eine Lösung gefunden wurde. Auch Kulturdezernent Georg Quander („mir fällt mit der Entscheidung ein Stein vom Herzen“) und Städtebaudezernent Bernd Streitberger („genial, eine fast poetische Architektur“) zeigten sich sehr zufrieden. Es schien, als seien alle Hürden überwunden, zumal der Förderverein zuversichtlich war, die Frage der Finanzierung – laut Schramma „eine schwierige Aufgabe, aber eine lösbare“ – schnell und erfolgreich zu klären. Das Land Nordrhein-Westfalen habe dabei signalisiert, zwar nicht den Löwenanteil der benötigten Mittel zu tragen, sich aber zu beteiligen, sagte Graf Hoensbroech, der Vorsitzende des Vereins.

Plötzliche Kehrtwende

Doch nur wenige Tage nach der Entscheidung wollten die politischen Verantwortungsträger Kölns plötzlich nichts mehr von ihrem ursprünglichen Urteil wissen. „Der Entwurf stellt einen Riesenkomplex dar, der so hoch ist wie das Rathaus“, klagte der Oberbürgermeister nun im Kölner Stadt-Anzeiger. „Er füllt den vorhandenen Raum sowohl in der Länge und Breite als auch in der Höhe vollständig aus. Weder die Fassade des Rathauses noch die des Wallraf-Richartz-Museums sind überhaupt noch in der Sichtachse erkennbar, die werden schlichtweg zugebaut.“ Zudem sei „im Vorfeld niemals die Frage gestellt worden, wie denn überhaupt die grundsätzliche Akzeptanz einer solchen Bebauung des Rathausvorplatzes ist“, sagte Schramma und forderte eine erneute öffentliche Diskussion über das Projekt. Außerdem seien die Gelder für den Bau noch längst nicht gesichert. Bemerkenswert auch die Kehrtwende des Kulturdezernenten Georg Quander: Er hatte – anders, als es seine erste Reaktion vermuten ließ – im Gutachterausschuss als einziger gegen die Pläne der Saarbrücker Architekten gestimmt: Diese erfüllten die Ausschreibungskriterien zu einem Drittel nicht und gingen „mit der Substanz der Archäologischen Zone sehr rigoros um“, fand er – ebenfalls im Kölner Stadt-Anzeiger.

Die Zeitung bot und bietet aber nicht nur den Verantwortlichen der Stadt Köln breiten Raum für die Darlegung ihrer Knall auf Fall veränderten Ansichten, sondern fiel selbst der kollektiven Amnesie anheim. Von dem Ratsbeschluss aus dem Jahr 2006 ist, wenn überhaupt, nur am Rande die Rede; es scheint schlichtweg in Vergessenheit geraten zu sein, dass die Diskussionen über den Standort Rathausplatz längst gelaufen sind und der Förderverein seit zwei Jahren die feste Zusage hat, dort auf der Grundlage des siegreichen Architektenmodells ein Haus und Museum der jüdischen Kultur bauen zu dürfen. Mehr noch: Das Blatt entwickelte sich zum Sprachrohr der Museumsgegner und heizte die Debatte dabei ordentlich an. In Grafiken war der geplante Baukomplex rot schraffiert wie eine Gefahrenzone, und Chefredakteur Franz Sommerfeld setzte in einem Kommentar zu einer regelrechten Blutgrätsche an: „Ein Verlust für die Stadt“ sei die vorgesehene Bebauung des Rathausplatzes, empörte er sich, denn „einer der wenigen gelungenen Plätze Kölns würde mit einem großen Block zugestellt“. Hier habe John F. Kennedy zu den Bürgern gesprochen, „hier wurde der Sieg der deutschen Handballer in der Weltmeisterschaft 2007 gefeiert“. Und deshalb dürfe man ihn nun nicht „zerstören“. Das Gelände des unweit gelegenen ehemaligen Kaufhauses Kutz sei der bessere Ort für ein Jüdisches Museum.

Doch das war noch nicht alles, denn Sommerfeld unterstellte den Initiatoren des Projektes außerdem, mit ihrem Beharren auf dem Standort Rathausplatz Antisemitismus zu schüren: „Noch ist nur unterschwellig zu vernehmen, der Ort müsse mit Rücksicht auf die jüdische Gemeinde gewählt werden“, hatte er es im Volke rumoren gehört. Doch wenn der Förderverein weiterhin so störrisch sei, drohe bald Schlimmeres: „Jeder Versuch, städteplanerische Entscheidungen durch Hinweis auf die deutsche Schuld gegen Kritik zu immunisieren, spielt denen in die Hände, die die Vernichtung der Juden relativieren und auf antisemitische Reflexe spekulieren.“ Bloß hatte nachweislich überhaupt niemand einen solchen Versuch unternommen, weshalb Sommerfelds Behauptung sich als haltlose Unterstellung entpuppte, deren Botschaft in etwa diese war: Die jüdische Gemeinde schwingt die Antisemitismuskeule, macht damit sämtliche Einwände platt und sich mitten in der Stadt viel zu breit; daher muss sie sich nicht wundern und ist es sogar selbst schuld, wenn Holocaustleugnung und Judenhass Konjunktur bekommen. Eine Stimmungsmache der besonders abgefeimten Art.

Kölscher Klüngel?

Der blitzartige Meinungsumschwung von Schramma & Co. sowie die fast täglichen gegen den Museumsbau auf dem Rathausplatz gerichteten Beiträge in der Kölner Presse schreien förmlich nach einer Erklärung. Und die ist wohl am ehesten im berüchtigten „Kölschen Klüngel“ zu finden, zu dem auch Alfred Neven DuMont zählt. Ihm gehören unter anderem sämtliche Tageszeitungen der Domstadt – neben dem Kölner Stadt-Anzeiger auch die Kölnische Rundschau und das Boulevardblatt Express. In der Welt berichtete Hildegard Stausberg*, in der traditionellen Kölner Gerüchteküche werde von einem Neven DuMont zugerechneten Brief gemunkelt, der den Oberbürgermeister vor einigen Tagen erreicht habe: „Der Verfasser soll das Bauvorhaben ‚sehr kritisch’ gesehen und um ‚umgehende Korrektur’ gebeten haben.“ Wenn es wirklich Neven Dumont gewesen sei, der zur Feder gegriffen habe, erkläre sich auch die ablehnende Haltung seines Stadt-Anzeigers: „Der Herausgeber der Zeitung ist schließlich auch Vorsitzender des Stifterrates des Wallraf-Richartz-Museums. Und der sieht die Museumspläne seit jeher kritisch, weil er in ihnen eine Konkurrenz zum Ungers-Bau erkennt.“

Nun sollen ab dem 16. Juli die Ergebnisse des Architektenwettbewerbs öffentlich ausgestellt werden, wovon sich Oberbürgermeister Schramma nach eigenem Bekunden eine breite Debatte erhofft. Das ist in zweierlei Hinsicht seltsam: Zum einen gab es solche Diskussionen bereits vor dem Ratsbeschluss, der im Übrigen eindeutig besagt, dass „der Rathausvorplatz der einzig mögliche Standort“ für das Jüdische Museum ist und der Förderverein sich verpflichtet, „den ersten Preisträger mit der Durchführung des Bauvorhabens zu beauftragen“. Zum anderen erstaunt die plötzliche Bürgernähe der Stadtoberen – bei anderen Projekten wie dem Bau einer Moschee im Stadtteil Ehrenfeld oder der Nord-Süd-Stadtbahn war man deutlich weniger basisdemokratisch gesinnt.

Auch die Historikerin Ingrid Strobl wunderte sich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk darüber, dass diese Debattenfreudigkeit „ausgerechnet bei einem jüdischen Thema“ aufkommt. Offenbar passe es einigen nicht, dass das jüdische Leben und die jüdische Kultur in Köln „in einer adäquaten Größe dokumentiert werden“, sagte sie. In der Welt argumentierte Rainer Haubrich zudem gegen den Einwand, das Museum verbaue den Rathausplatz zu sehr: „Köln hat keinen Mangel an größeren und kleineren Plätzen in der Umgebung des Domes. Was der Innenstadt dagegen an vielen Stellen fehlt, ist großstädtische Dichte. Die Saarbrücker Architekten fassen durch ihre Neubebauung den eigentlichen historischen Rathausplatz direkt vor dem Rathaus neu. Dadurch stünden dieses bedeutende Denkmal und der Platz davor wieder in einem ausgewogenen Verhältnis, wie man es in vielen anderen Städten beobachten kann.“

Ob man im Schatten des Doms doch noch klug und aus der Provinzposse eine Erfolgsgeschichte wird, bleibt abzuwarten. Ernsthafte Zweifel scheinen jedenfalls angebracht.

* Der Beitrag von Hildegard Stausberg ist mittlerweile aus dem Online-Archiv der Welt entfernt worden und nur noch über den Google-Cache abzurufen. In einem am 16. Juli 2008 an Lizas Welt gerichteten Schreiben der Rechtsanwälte Oppenhoff & Partner, die Alfred Neven DuMont vertreten, heißt es dazu erklärend, ihr Mandant habe keinen Brief an den Kölner Oberbürgermeister geschrieben, und der Axel Springer Verlag habe sich deshalb am 9. Juli 2008 verpflichtet, „entgegenstehende Behauptungen nicht mehr aufzustellen“. Ohne juristische Beanstandung blieb dagegen ein am 3. Juli 2008 ebenfalls in der Welt erschienener Artikel von Rainer Haubrich, in dem der Verfasser darauf hinweist, Alfred Neven DuMont habe „nie ein Hehl daraus gemacht, dass er gegen ein weiteres Gebäude vor dem Wallraf-Richartz-Museum ist – er sitzt im Stifterrat des Hauses“.

7.7.08

Ahmadinedjad, recht verstanden

Seit mehr als zwei Jahren geistert eine geradezu absurde Debatte durch die Medien und das Internet, die sich um die Äußerungen Mahmud Ahmadinedjads zu Israel dreht. Dabei steht vor allem ein Satz im Mittelpunkt, den der iranische Präsident am 26. Oktober 2005 auf einer Konferenz in Teheran von sich gegeben hat. Mit „Israel must be wiped off the map“ wurde dieser Satz aus dem Persischen ins Englische übersetzt und mit „Israel muss von der Landkarte radiert werden“ ins Deutsche. In der britischen Tageszeitung The Guardian bestritt Jonathan Steele im Juni 2006 jedoch, dass Ahmadinedjad dem jüdischen Staat seine Vernichtung angekündigt hat: Der Präsident sei falsch übersetzt worden; er habe lediglich gesagt, das „Jerusalem besetzende Regime müsse von den Seiten der Zeit verschwinden“. Damit habe Ahmadinedjad keine militärische Drohung ausgesprochen, meinte Steele: „Er forderte ein Ende der Besetzung Jerusalems zu irgendeinem Zeitpunkt in der Zukunft. Die Redewendung ‚Seiten der Zeit‘ legt nahe, dass er es nicht in unmittelbarer Zukunft erwartet.“ Auch die beiden amerikanischen Autoren des Buches Die Israel-Lobby, Stephen Walt und John Mearsheimer, betonten unlängst, sie glaubten nicht, „dass Ahmadinedjad zum Völkermord aufruft“.

In Deutschland schrieb die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur Ende März dieses Jahres in der Süddeutschen Zeitung, der iranische Präsident habe in seinem „Schlüsselsatz“ nur geäußert, das „Besatzerregime“ in Israel müsse „Geschichte werden“. Er habe also nicht zum Vernichtungskrieg aufgerufen, sondern bloß dafür plädiert, „die Besatzung Jerusalems zu beenden“. Amirpurs Auslassungen stießen nicht zuletzt bei einem linksradikalen Grüppchen namens Arbeiterfotografie auf begeisterte Zustimmung: Dort war man bereits seit Januar eifrig damit beschäftigt, diverse Institutionen und Redaktionen mit E-Mails und Appellen auf den vermeintlichen Übersetzungsfehler sowie die angebliche Friedfertigkeit der Mullahs hinzuweisen. Nicht ohne Erfolg: Der Spiegel gestand einen „Irrtum“ ein, auch das ZDF stimmte den „Arbeiterfotografen“ zu, die Nachrichtenagentur AP erklärte, die „falsche Wiedergabe des Zitats“ nicht mehr zu verwenden, und die dpa kündigte an, sie werde „in Zukunft bei der Berichterstattung darauf achten, dass der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedjad nicht die Auslöschung Israels oder dessen Tilgung von der Landkarte gefordert hat“.

Es war Henryk M. Broder, der Sinn und Unsinn dieser Gespensterdebatte über den Wortlaut von Ahmadinedjads Stellungnahme mit einem historischen Vergleich auf den Punkt brachte: „Der ‚Führerbefehl’ zur Endlösung der Juden- und Zigeunerfrage ist bis heute nicht gefunden worden. [Hitler] hat nur dazu aufgerufen, die Welt von den Juden zu befreien. Von Vernichtung war keine Rede. So wie Ahmadinedjad sich heute eine ‚World without Zionism’ wünscht.“ In der Tat kann es keinerlei Zweifel darüber geben, was letzterer meinte, als er – wörtlich übersetzt – sagte: „Unser teurer Imam [Khomeini] befahl, dass dieses Jerusalem besetzende Regime von den Seiten der Zeit getilgt werden muss. Dies war eine sehr weise Äußerung.“ Doch angesichts der fortgesetzten internationalen Relativierungsversuche unternahm Joshua Teitelbaum vom Jerusalem Center for Public Affairs (JCPA) die Kärrnerarbeit, diese und weitere Äußerungen Ahmadinedjads und anderer Vertreter des Regimes wörtlich zu übersetzen und genau zu analysieren. „Jene, welche sich apologetisch vor die iranische Führung stellen, sollten nicht ohne Widerspruch bleiben, wenn sie auf wissenschaftliche Art versuchen, diese extremen und vorsätzlichen Aufrufe zur Zerstörung Israels zu vernebeln“, schrieb Teitelbaum. „Sprache bedingt Bedeutung“, befand er und resümierte:
„Eine umfassende Analyse dessen, was Ahmadinedjad tatsächlich gesagt hat – und wie es im Iran verstanden wurde – zeigt, dass der iranische Präsident nicht lediglich zum ‚Regimewechsel’ in Jerusalem aufrief, sondern die faktische physische Zerstörung des Staates Israel forderte. Es ist schwierig, ein Land von der Karte zu wischen, ohne dass [...] die Bevölkerung zerstört wird. Die iranische Regierung selbst bestärkt dieses Verständnis in der Art und Weise, wie sie diese Parolen auf Plakaten und Werbetafeln bei offiziellen Paraden präsentiert. [...] Ahmadinedjads Forderungen sind eindeutig ein Aufruf zum Völkermord – [zur] Zerstörung des jüdischen Staates und seiner Bevölkerung. Eine Analyse des Äußerungskontextes zeigt ohne Zweifel auf, dass, wenn die iranische Führung die Euphemismen ‚zionistisches Regime’ oder ‚das Besatzungsregime in Jerusalem’ verwendet, sie ausschließlich den Staat Israel meint und nicht seine gegenwärtige Regierung. [...] Die iranische Führung spricht zudem auch nicht über einen ungesteuerten, natürlichen historischen Prozess, welcher zum Niedergang Israels führen werde. Stattdessen befürwortet sie aktiv die Zerstörung Israels und hat klargestellt, dass sie den Willen und auch die Mittel hat, dies umzusetzen.“
Die Feinde des jüdischen Staates werden sich von Teitelbaums Ausführungen gewiss nicht überzeugen lassen, dazu sind sie ideologisch viel zu verbohrt. Allen anderen jedoch – insbesondere denjenigen deutschen Medien, die den Kotau vor einer Sekte von Israelhassern vollzogen haben – sei die gründliche Lektüre des „Plädoyers gegen apologetische Kampagnen zur Entschuldung des Aufrufs zum Völkermord“ empfohlen. Zuerst in englischer Sprache erschienen, liegt der Beitrag nun auf der Website des JCPA auch in deutscher Übersetzung vor.

Zum Foto: „Down with Esrail“ („Nieder mit Israel“) und „Down with USA“ steht in englischer Sprache auf den bei einer iranischen Militärparade gezeigten Schildern; auf Arabisch heißt es: „Tod Israel“ und „Tod USA“.

2.7.08

Göttinger Verschwörungstheorien

Vor knapp zwei Wochen vertrat ein Göttinger Universitätsprofessor in einem Vortrag vor akademischem Publikum die Ansicht, die elf während der Olympischen Spiele 1972 in München von palästinensischen Terroristen ermordeten israelischen Sportler hätten von dem bevorstehenden Attentat gewusst und seien freiwillig in den Tod gegangen, um sich für Israel zu opfern. Nach Protesten sahen sich nun sowohl der Sportwissenschaftler als auch das Präsidium der Hochschule veranlasst, Stellung zu beziehen.

Hellhörig hätte man in Göttingen schon früher werden können. Arnd Krüger, Professor für Sportgeschichte und Sportsoziologie und Direktor des zur Universität gehörenden Instituts für Sportwissenschaften, hatte seine Thesen nämlich bereits im Frühjahr in einem Interview mit dem Hochschulsportmagazin Seitenwechsel angedeutet:* „Als die Attentäter in das Olympische Dorf eindrangen, flüchtete einer der Geher als Letzter aus dem israelischen Quartier über den Balkon. Er hatte zentimeterdicke Brillengläser, das heißt er war praktisch blind ohne Brille. Und wenn jemand wie er flüchten konnte, hätte jeder flüchten können. Aber die anderen wollten nicht. Sie hatten sich freiwillig gemeldet und wussten, dass die Palästinenser kommen würden. Nicht wann – aber dass.“ Die israelische Presse habe die Gefahr für die israelischen Sportler „schon Wochen vorher“ diskutiert; die Frauenmannschaft sei deshalb privat untergebracht worden. Die Männer im Olympischen Dorf wohnen zu lassen, sei „eine politische Entscheidung“ gewesen, sagte Krüger, den die Vorgänge und ihre angeblichen Hintergründe an ein historisches Ereignis erinnerten: „[Auch] in Hebron nahm 1949** der damalige Herrscher den Tod der Bevölkerung in Kauf, um einen Freifahrtsschein für einen Krieg von der Weltöffentlichkeit zu bekommen.“

Doch niemand stieß sich an diesem Interview, und so legte Krüger am 20. Juni nach, als er bei der Jahrestagung der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (DVS), Sektion Sportgeschichte, einen Vortrag mit dem Titel „Hebron und München. Wie vermitteln wir die Zeitgeschichte des Sports, ohne uns in den Fallstricken des Antisemitismus zu verhaspeln?“ hielt. „Die 1972 beim Olympiaattentat durch palästinensische Terroristen getöteten israelischen Athleten hätten von den mörderischen Plänen gewusst und seien freiwillig in den Tod gegangen – ‚um der Sache Israels als ganzer zu nutzen’“, fasste unter anderem die Süddeutsche Zeitung, die sich auf Teilnehmer der Tagung berief, Krügers Darstellungen zusammen. „Dieser spektakuläre Opfergang hätte die Schuld (und auch die Schulden) Deutschlands gegenüber dem Staat Israel verlängern sollen. Zudem konstruierte der Professor Zusammenhänge zwischen diesem angeblichen Opfergang sowie einem unterschiedlichen Körperverständnis, das in Israel herrsche. Im Vortrag hieß es, die Abtreibungsrate in Israel sei bis zu zehnmal höher als in anderen westlichen Industrienationen. Die jüdische Kultur versuche, Leben mit Behinderungen massiv zu verhindern.“

Keinerlei Belege

Belege für seine Behauptungen brachte Krüger nicht bei – und er hätte auch keine gefunden. Denn unabhängig von der Frage, wie man grundsätzlich zu Schwangerschaftsabbrüchen steht, hatte Israel mit 11,8 Prozent im Jahr 2006 sogar die niedrigste Abtreibungsrate aller westlichen Länder und gleichzeitig die höchste Geburtenziffer. Eine Behindertenfeindlichkeit in der jüdischen Kultur lässt sich ebenfalls nicht nachweisen; im Gegenteil hätte der Sportwissenschaftler Krüger nur einen Blick auf die Paralympics werfen müssen, bei denen stets zahlreiche israelische Sportler an den Start gehen und regelmäßig Medaillen abräumen. Und das „unterschiedliche Körperverständnis“ in Israel beschrieb das Weblog Letters from Rungholt treffend so: „Es gibt wohl kaum ein Volk, bei dem das menschliche Leben eine größere Rolle spielt als im Judentum. Der Grundsatz ‚pikuach nefesh’, Rettung eines Menschenlebens, bricht alle anderen Gebote – und dabei spielt es keine Rolle, ob dieses Menschenleben jüdisch ist oder nicht. Im jüdischen Ethos spielen die Rettung von Leben, die Fortpflanzung und der Schutz von Menschenleben eine riesige Rolle. Es gibt keine Märtyrer-Rhetorik, um Tote wird getrauert, um Leben gekämpft. Israelis entwickeln Medikamente, medizinische Technologie und Diagnosemethoden, sie schicken Ärzte in die ganze Welt, und die ganze israelische Kultur ist nicht auf Totenkult, sondern auf Liebe zum Leben aufgebaut.“

Vor diesem Hintergrund erweist sich auch die These, die israelischen Sportler hätten sich in München freiwillig geopfert, als reines Hirngespinst. Wie schon in dem Seitenwechsel-Interview, bemühte Krüger auch in seinem Vortrag den Vergleich mit dem Massaker von Hebron zur Untermauerung seiner Ansichten: So, wie die jüdischen Bewohner 1929 von dem Angriff der Araber gewusst hätten und trotz der Warnung der Hagana im Ort verblieben seien, hätten auch die israelischen Sportler 1972 in München Kenntnis von den Attentatsplänen der palästinensischen Terrorgruppe Schwarzer September Kenntnis gehabt, es jedoch vorgezogen, das Olympische Dorf nicht zu verlassen. In beiden Fällen hätten sie damit ihren Herrschern und deren kriegerischer Politik aus eigenem Antrieb genützt – als Märtyrer für die jüdische Sache sozusagen.

Die Reaktionen auf Krügers Vortrag waren deutlich: „Das ist eine der schlimmsten Formen der Dehumanisierung des Staates Israel“, sagte Ilan Mor, der stellvertretende israelische Botschafter in Berlin, „und eine Form des neu aufflackernden Antisemitismus in Deutschland, verpackt als Israelkritik“. Die deutsche Politik und die Universitätsleitung müssten gegen Krüger vorgehen, forderte er. Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, schloss sich an: „Das ist Antisemitismus pur. Hier sind Konsequenzen längst überfällig.“ Äußerungen der Tagungsteilnehmer auf den Vortrag reichten von „gefährlicher Unfug“ bis zu „antijüdische Stereotype“. Die Wissenschaftler forderten die Göttinger Universität zu Maßnahmen auf und informierten die Ethikkommission der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft. Das Präsidium der Hochschule hingegen mauerte: Es „bedauerte“ in einer Erklärung zwar, „dass Äußerungen eines Göttinger Wissenschaftlers Anlass dazu gegeben haben, als Angriff auf den Staat Israel und seine Bürger oder als antisemitische Positionen verstanden zu werden“, verwies ansonsten jedoch auf den „wissenschaftlichen Diskurs“, in dem „Thesen oder Hypothesen von Angehörigen der Universität behandelt und bewertet werden“ müssten.

Noch tiefer in den Sumpf

Inzwischen hat sich auch Arnd Krüger zu einer Stellungnahme durchgerungen, die auf der Website der Universität veröffentlicht wurde. „
Meine Erklärungsversuche des Kontextes des Ereignisses waren offensichtlich untauglich“, heißt es darin. Die Verwendung aktueller israelischer Literatur zum Körperverständnis habe „keine Aussagekraft für die Situation 1972“. Er habe diese Arbeiten aus Israel zitiert, „weil ich hoffte, hiermit ein kulturhistorisches Phänomen erklären zu können – und nicht, weil ich beabsichtigt hätte, hiermit irgendjemanden zu diskreditieren“. Auch zu seinem Vergleich zwischen Hebron und München bezog der Sportprofessor Position: „Für 1929 ist es überliefert, dass die jüdische Bevölkerung konkret durch die Hagana gewarnt wurde, aber blieb, weil man sich nicht vorstellen konnte, dass die arabischen Nachbarn, mit denen man seit Generationen zusammengelebt hatte, zu solchen Gräuel fähig sein würden.“ Ob die israelische Mannschaftsführung gewarnt worden sei, werde sich erst nach Öffnung aller Archive für 1972 ermitteln lassen. Abschließend schrieb Krüger, er bedauere es, „dass der Eindruck entstanden ist, als sei ich ein Anti-Semit“. Seine bisherigen Publikationen bewiesen sämtlich „das Gegenteil“, beteuerte er. Zudem widersprach der Historiker rundweg den Äußerungen seiner Hörer: „Bei meinem Referat in Göttingen habe ich eine Fülle von möglichen Erklärungen angesprochen, aber ich habe zu keiner Zeit vom ‚Opfer-Tod’ der israelischen Sportler gesprochen.“ Natürlich seien Ermordete Opfer, „aber sie haben sich deshalb noch nicht ‚geopfert’“.

Durch diese nachgeschobenen Erklärungsversuche hat sich Krüger trotz der teilweisen Selbstkritik letztlich noch tiefer in den Sumpf gezogen. Denn zum einen bezichtigte er de facto die anwesenden Wissenschaftler, die Unwahrheit über seinen Vortrag erzählt zu haben, und bereits das dürfte kaum unwidersprochen bleiben. Zum anderen stellt sich die Frage, wieso er erst im Brustton der Überzeugung vor einem Fachpublikum verkündete, die israelischen Sportler hätten von dem Attentat gewusst und es aus politischen Gründen in Kauf genommen, um dann plötzlich auf die Archive zu verweisen, auf deren Öffnung man zur Klärung der Hintergründe warten müsse. Dieser offenkundige Widerspruch wirft auch ein Licht auf Krügers Motivation bei der Ergründung des „kulturhistorischen Phänomens“, dessen Existenz er in seiner Stellungnahme weiterhin behauptete, obwohl es doch nur seine eigene Erfindung war: Der Versuch, von 1929 über 1972 bis heute eine Kontinuität in der jüdischen Kultur aufzuzeigen, die sich durch Eugenik, Lebensfeindlichkeit, Opferkult und Kriegslüsternheit auszeichne, basiert nachweislich auf nichts als falschen Zahlen, Unterstellungen und Fehleinschätzungen – und hier war nicht ein Erstsemester am Werk, sondern ein habilitierter Wissenschaftler.

Da hat also augenscheinlich ein Akademiker seinen Projektionen freien Lauf gelassen – Projektionen, mit denen nicht zufällig und nicht zum ersten Mal Juden das unterstellt wird, was die Nationalsozialisten Praxis werden ließen und was in Teilen auch die arabisch-muslimischen Feinde Israels kennzeichnet. Dass die israelischen Olympiateilnehmer sich nicht zuletzt deshalb so willig hätten ermorden lassen, um „die Schuld (und auch die Schulden) Deutschlands gegenüber dem Staat Israel zu verlängern“, wie Krüger in seinem Referat behauptete, rundet seine Verschwörungstheorie schließlich ab. Das Zurückrudern in der öffentlichen Erklärung erfolgte nur halbherzig, und es wirkt weniger glaubwürdig als vielmehr wie die hektische Reaktion von einem, dem gerade der Wind eiskalt ins Gesicht bläst. Die „Fallstricke des Antisemitismus“, von denen Arnd Krüger sprach, er hat sie selbst ausgelegt und ist dann über sie gestolpert. Man darf gespannt sein, wie die Konsequenzen aussehen werden – wenn es denn überhaupt welche gibt und die Angelegenheit nicht, wie von der Universitätsleitung gewünscht, im „wissenschaftlichen Diskurs“ verschwindet.

* „Definitiv falsch und doch ein bisschen richtig“ – Interview mit Prof. Dr. Arnd Krüger, in: Seitenwechsel, Sommersemester 2008, Seite 40/41 (nur Printausgabe; Auszüge finden sich bei Sportswire).
** Krüger spielte auf das Massaker von Hebron aus dem Jahr 1929 an; die Jahreszahl 1949 ist deshalb falsch.

Das Foto zeigt die elf Ermordeten. Von links oben nach rechts unten: Moshe Weinberg (33, Ringer-Trainer), Jakov Springer (50, Gewichtheber-Kampfrichter), Eliezer Halfin (24, Ringer), Mark Slavin (18, Ringer), Kehat Shorr (45, Schützen-Trainer), Joseph Gottfreund (44, Ringer-Kampfrichter), David Berger (28, Gewichtheber), Zeev Friedman (28, Gewichtheber), Joseph Romano (31, Gewichtheber), Amitzur Shapira (40, Leichtathletik-Trainer), André Spitzer (27, Fecht-Trainer).


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Update 3. Juli 2008: Der Druck auf Krüger wächst, wie diese Meldung zeigt: „Der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), Thomas Bach, und DOSB-Generaldirektor Michael Vesper haben den Göttinger Sportwissenschaftler Professor Arnd Krüger aufgefordert, seine abstrusen Thesen zum Tod der israelischen Geiseln anlässlich des palästinensischen Terroranschlags auf die Olympischen Spiele von München 1972 öffentlich zurückzunehmen. Vor allem aber, so Bach und Vesper weiter, solle sich Krüger unverzüglich bei den Hinterbliebenen der damaligen Terroropfer entschuldigen. Krüger hatte seine Thesen bei der Jahrestagung der Sektion Sportgeschichte der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaften am 20. Juni 2008 in Göttingen vorgetragen. Diese seien ‚völlig inakzeptabel’ nicht nur, weil sie sich auf keinerlei Belege stützten, sondern vor allem wegen des daraus sprechenden antisemitischen Menschenbildes, so Bach und Vesper.“

1.7.08

Mies gemacht (VIII und Schluss)

Liebe Vizeeuropameister! „So gehen die Deutschen“, prangte es trotzig in fetten Lettern auf euren eigens angefertigten T-Shirts, die ihr am Montag bei der Verliererfeier auf der Berliner „Fanmeile“ spazieren geführt habt. „So gehen die Deutschen“ – aufrecht wie eh und je – „bis 2010“, zur WM in Südafrika nämlich. Daher schon jetzt eine herzliche Bitte an den Schützen des Siegtores von Wien: Bomber Torres, do it again!

Liebe Deutschlandfans! Gleich dreihunderttausend von euch haben in der Hauptstadt die „krawallige Karaoke-Party mit zugekauftem Frohsinn“ bevölkert und dafür ein Programm der Extraklasse serviert bekommen: „Es singt Christina Stürmer noch einmal eine EM-Hymne namens ‚Fieber’, es kräht der unbarmherzige Kasper Oliver Pocher Reste einer Liedruine, es stottert ein übernächtigter Mertesacker unwillig Freude ins Mikro, und der tote Drafi Deutscher überbringt Glückwünsche mit ‚Marmor, Stein und Eisen bricht’. Ein Herz aus Stein hat, wer da nicht mitbrechen muss.“ Dam, dam. Dam, dam.

Lieber Michael Ballack! Ihre malade Wade hat das Land nachhaltig beschäftigt und bei den Deutschen vor dem finalen Kampf die letzten Reserven mobilisiert: Nach der Flakhelfergeneration gibt es jetzt also die Ballackhelfergeneration. Aber mit der ist irgendwie auch kein Krieg zu gewinnen, was?

Lieber Lukas Podolski! Im Biologieunterricht hat man uns noch das mit den Bienchen und den Blümchen erklärt und dass rein gar nix passieren kann, wenn man nur ein bisschen Speichel austauscht. Doch nun berichtet die „Bild“-Zeitung über „Monika, die erste (und einzige) Frau, die Lukas Podolski geküsst hat. Heute sind sie glückliche Eltern.“ Und da sagen wir doch voller Ehrfurcht: Boah!

Lieber Christoph Metzelder! „Wer rasiert, verliert“, lautet eine alte Fußballerweisheit, der Sie sich ganz offensichtlich strengstens verpflichtet fühlen. Als die Parole dann nach dem Schlusspfiff des Endspiels obsolet geworden war, kam die Gesichtsbehaarung endlich runter – und um ehrlich zu sein: Das war mit Abstand Ihre stärkste Aktion bei der Euro.

Und noch einmal lieber Michael Ballack! „Es gab starke Teams bei der EM“, fassten Sie nach Spielende vor laufender Kamera zusammen: „Holland, Italien, Portugal und die Niederlande.“ Und jetzt sagen Sie mal: Zu viel Österreichischen Rundfunk gehört in den letzten Wochen?

Liebe deutsche Nationalmannschaft! Beim Bankett nach dem Finale die Chorizo-Wurst keines Happens zu würdigen – da habt ihr’s den Spaniern aber derbe gegeben!

Lieber Hartmut Witte (Aalen)! „Der kicker berichtete ausführlich, aber nur in versachlichter Form“, beschwerten Sie sich mit einem Leserbrief beim nämlichen Fachblatt. „Ich vermisse Patriotismus bzw. ein ‚Wir-Gefühl’.“ Dürfen wir davon ausgehen, dass Sie den Antrag, das vaterlandslose Nürnberger Sportmagazin auf den Index zu setzen, schon bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften eingereicht haben?

Liebe Monica Lierhaus! Um es mit Dieter Eilts zu sagen: „Wenn meine Oma ein Bus wäre, dann könnte sie hupen.“ Oder, in den Worten des Philosophen Jens Lehmann: „Der Konjunktiv ist der Feind des Verlierers.“ Jede Wette, daran knabbern Sie immer noch. Zu Recht.

Mies gemacht war die EM-Kolumne von Lizas Welt. Ein großes Dankeschön an die vielen Leserinnen und Leser, die sie mit E-Mails, Tipps, Hinweisen und Recherchen überhaupt erst ermöglicht haben.