30.11.06

Das Antlitz des Hugo C.

Am vergangenen Montag hätte Alexander Dubcek, wäre er noch am Leben, seinen 85. Geburtstag gefeiert. Mit seinem Namen verbindet man gewöhnlich neben dem Prager Frühling vor allem das Ziel eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Man kann wohl ausschließen, dass der venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez sich je in irgendeiner Form auf den tschechoslowakischen Politiker bezogen hat, auch wenn er vermutlich ebenfalls den Lenz in sein Land einziehen sieht und seinen Antikapitalismus für human hält. Bolivarianische Revolution nennt er das in Anlehnung an sein großes Vorbild Simón Bolívar; Sozialismus mit antisemitischem Antlitz wäre allerdings wohl eine weitaus treffendere Bezeichnung für sein Treiben, das am kommenden Sonntag zur Wiederwahl steht. Mit der Hamas etwa versteht Chávez sich glänzend, und auch Mahmud Ahmadinedjad ist ihm ein guter Freund: „Israel verübt an den Libanesen dieselben Handlungen, wie sie Hitler an den Juden verübt hat – die Ermordung von Kindern und Hunderten unschuldigen Zivilisten“, betonte er Ende Juli seine Gemeinsamkeiten mit dem Oberhaupt der Islamischen Republik Iran. Und auch am Heiligen Abend des letzten Jahres hatte Chávez besinnliche Worte zu verkünden: „Die Welt gehört jedem einzelnen, aber es scheint so, als ob Minderheiten – die Nachkommen derer, die Christus ans Kreuz geschlagen haben – sich den ganzen Wohlstand der Welt genommen haben.“ Damit waren, versteht sich, nicht die Römer oder ihre italienischen Nachfahren gemeint, sondern die Juden, „die die Welt kontrollieren“.

Hugo Rafael Chávez Frías hat es rasch zur Ikone der Linken weltweit gebracht, zum Rächer der Enterbten, Geknechteten und Beleidigten, und das nicht trotz, sondern gerade wegen seiner größenwahnsinnigen, antiimperialistischen Weltsicht, die diesen Planeten sauber in gut und böse trennt und letzteres – wie könnte es anders sein? – namentlich in den USA und Israel verortet. Dies linkspopulistisch zu nennen, wie viele Medien es hierzulande gerne tun, ist eine gefährliche Verharmlosung dieses Che Guevara für ganz Arme; Chávez’ vollmundiges Wirtschaftsprogramm funktioniert hinten und vorne nicht – etabliert dafür jedoch ein repressives Wohlfahrtsprogramm, das sich die Hilfe für Bedürftige durch Wohlverhalten entgelten lässt –, und je offensichtlicher das wird, desto forscher und lauter werden die antisemitischen Töne. Irgendwer muss schließlich schuld daran sein, wenn der Laden nicht so läuft wie angekündigt.

Karl Pfeifer schildert im folgenden Gastbeitrag für Lizas Welt weitere Hintergründe, konstatiert eine deutliche Zunahme antisemitischer Propaganda in Venezuela seit Chávez’ Wahl 1998 und kommt zu dem Schluss, dass sich die in dem lateinamerikanischen Land lebenden Juden zunehmend in Gefahr befinden.


Karl Pfeifer

Offizieller Antisemitismus in Venezuela


Am kommenden Sonntag wird in Venezuela der Staatspräsident gewählt. Wahrscheinlich wird Hugo Chávez diese Wahl gewinnen. Bevor er 1998 Präsident wurde, hatte der frühere Oberstleutnant bereits zwei Mal versucht, durch einen Putsch an die Macht zu gelangen. Als es am 11. April 2002 nach Massenprotesten der Opposition schien, als trete Chávez zurück, fiel dem damaligen Chef des Unternehmerverbandes, Pedro Carmona, nichts Besseres ein, als das Parlament aufzulösen. Daraufhin holten die Offiziere Chávez flugs aus dem Militärgewahrsam zurück in das Präsidentenpalais. Ein Jahr später trat die Opposition gar nicht erst an. Im Parlament sitzen heute darum nur Anhänger des Präsidenten. Gewinnt Chávez, so könnte das für lange Zeit die letzte Wahl gewesen sein, fürchten Beobachter.

Hugo Chávez, der häufig Reisen durch die ganze Welt unternimmt, ist permanent in den Nachrichten präsent, denn er bietet nicht wenigen Machthabern seine finanzielle Unterstützung an. Sein Ziel ist es, die Hegemonie der USA zu brechen und einen Kreuzzug gegen den Imperialismus zu führen. Chávez möchte den Eindruck erwecken, er könne, wenn er nur wolle, eigenhändig die USA besiegen und den Kapitalismus eliminieren – was bekanntlich nicht einmal Lenin und Stalin fertig brachten. Gleichzeitig lässt er sich als Messias feiern, der der ganzen Welt Wohlstand, Glück und den Sozialismus des 21. Jahrhunderts bringen werde. Doch seine Administration hat nie einen detaillierten Plan veröffentlicht, wie denn dieser Sozialismus aussehen soll.

Chávez appelliert mit seinen Reden an die Gefühle, insbesondere wenn er an mythische historische Begebenheiten erinnert. Seine Reaktionen sind nicht vorhersagbar, und sehr häufig handelt er nicht eben pragmatisch. Aus der Erfahrung wissen wir, dass es ein sehr gefährlicher Weg sein kann, sich von Überzeugungen oder Dogmen führen zu lassen. Der „reale Sozialismus“, wie er im vorigen Jahrhundert in der Sowjetunion, anderen osteuropäischen Ländern und China praktiziert wurde, ist gescheitert. Dennoch erklärt die venezolanische Regierung ihre Entschlossenheit, ein nur undeutlich beschriebenes sozialistisches System einzuführen, und ignoriert dabei die Tatsache, dass schon ähnliche Pläne, die sich zum Ziel gesetzt haben, eine bessere Zukunft und das Ende der Ausbeutung zu erreichen, nicht zum Erfolg führten.

Schon seit Jahrzehnten herrscht in Venezuela die Vorstellung, das Land sei reich, und jeder könne gut leben, wenn bloß die Öleinnahmen gerecht verteilt würden. Doch die bolivarianische Republik ist trotz ihres Ölreichtums das Land, das in den letzten 25 Jahren das geringste Wirtschaftswachstum in Lateinamerika zu verzeichnen hat. Trotz der hohen Ölpreise scheint sich die soziale Lage kaum verbessert zu haben. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es in jedem Armenviertel einen kubanischen Arzt gibt, denn zugleich verfällt die Infrastruktur der öffentlicher Krankenhäuser. Zudem grassiert die Kriminalität, und Venezuelas Mordrate gehört zu den höchsten der Welt.

Den Glauben, man könne allein mit Geldverteilung und einem ideologisierten Erziehungssystem die Armut abschaffen und eine stabile Wirtschaft aufbauen, haben die Bevölkerungen anderer Staaten bereits teuer bezahlen müssen. Denn die Nachahmung eines gescheiterten Systems kann auch kein Land, das über Öl verfügt, vor dem weiteren Abstieg retten. Venezuela hat zwar die Formen der demokratischen Legalität bewahrt, doch in Wirklichkeit herrscht im Land das Militär, das versucht, mit einer sich verschlimmernden Zentralisierung und Regierungsinterventionen in die Produktion das Privateigentum zu ersetzen. Gemäß der antiimperialistischen Ideologie müssen die existierenden Institutionen zerschlagen, ein auf dieser Ideologie aufbauendes Erziehungssystem installiert sowie Gesetze erlassen werden, die abweichende Ansichten bestrafen. Es geht um die Schaffung einer Gesellschaft von Kriechern, in der jede Meinungsfreiheit abgeschafft ist. Das kubanische System konnte sich Jahrzehnte lang nur wegen der vielfachen Unterstützung der Sowjetunion halten und ist jetzt von der venezolanischen Wohltätigkeit abhängig.

Manche wirtschaftlichen Maßnahmen sind darüber hinaus geradezu bizarr. Hugo Chávez erklärte beispielsweise, senkrechte Hühnerställe und „oligopolische Gärten“ errichten zu wollen – eine beeindruckende Wortwendung angesichts der Tatsache, dass es sich schlicht um kleine Gemüsegärten handelt. Nach dem Misserfolg mit dem Erwerb chinesischer Traktoren entschied sich Chávez zudem für das Zusammenbauen von teuren und veralteten iranischen Fahrzeugen. Dies und der Kauf veralteter kubanischer Zuckermühlen samt ihrer Installation in Venezuela sind weitere Zeichen unbesonnener Verschwendung.

Chávez und seine Regime wollen sich aber nicht mit der Übernahme eines gescheiterten Wirtschaftsmodells begnügen; sie glauben auch, den stalinistischen Antisemitismus abkupfern zu müssen. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg verbreitet eine westliche Regierung offenen Antisemitismus, und das seit Jahren. So führte beispielsweise am 29. November 2004, einem Montag, um 6.30 Uhr morgens die schwer bewaffnete Polizei eine Razzia in der jüdischen Schule in Caracas durch – zu einer Zeit, als gerade die Schulbusse vorfuhren und die Eltern ihre Kinder zum Unterricht brachten. Der richterliche Durchsuchungsbefehl, der schon drei Tage zuvor erlassen worden war, bestimmte, dass das Gebäude nach elektronischer Ausrüstung, Waffen, Sprengstoff und Dokumenten durchsuchen werden soll, die dort versteckt seien. Doch nach einer drei Stunden dauernden Untersuchung – während der nichts davon gefunden wurde – verließ die Polizei das Gebäude wieder. Man nimmt an, dass sie ihre Razzia von Freitag auf Montag verschoben hatte, um sie mit der Ankunft des Präsidenten in Teheran am gleichen Tag zu koordinieren.

Seit der Wahl von Hugo Chávez 1998 erlebt Venezuela eine Zunahme bösartiger antiisraelischer und antizionistischer Propaganda, die häufig mit antijüdischen Ideologemen verflochten ist. In einem Land mit fast 27 Millionen Einwohnern leben heute nur noch ungefähr 25.000 Juden. Warum führen die offiziellen Medien eines Regimes, das sozialistisch zu sein behauptet, einen Angriff gegen diese kleine jüdische Gemeinde? Ein Grund könnte darin liegen, dass Chávez lange Zeit den argentinischen Holocaustleugner Norberto Ceresole, einen Freund von Robert Faurisson und Roger Garaudy, als Berater beschäftigte. Ceresole fand, dass Lateinamerika sich mit den arabischen Nationen verbünden solle, um die USA und die „jüdische Finanzmafia“ zu bekämpfen. Die Tendenz, den Holocaust zu leugnen oder zu relativieren, ist für die engen Beziehung zwischen Venezuela und dem Iran sowie anderen muslimischen Ländern von Vorteil. Sie ist fester Bestandteil der antiimperialistischen Rhetorik der Chávez-Regierung, die Israel eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der US-Politik unterstellt und in ihm einen Feind der „antiimperialistischen Revolution“ sieht.

Nachfolgend einige Beispiele für die ungezügelte antisemitische Hetze in regierungsnahen oder regierungseigenen Medien:
In der Wochenzeitung Los papeles de Mandinga vom 8. August dieses Jahres erklärte Alberto Nolia: „Welcher Art von Mördern gehören diese Nazis, die Israel regieren, an, die einen beabsichtigten Völkermord begehen? Wir können die ‚Asociaciones Israelitas de Venezuela’ (jüdischen Vereinigungen Venezuelas) sehen, wie sie die Massenmörder verteidigen, den Völkermord verteidigen und die Endlösung verteidigen, die Israel an den Arabern begehen will. Sie beschuldigen jedermann des Antisemitismus, der bei diesen Morden nicht applaudiert. Wir sehen jetzt, wie dieser Efraim Lapscher, dieser SS-Obergruppenführer [im Original, K.P.], der Vorsitzende der ‚Confederación de Asociaciones Israelitas’ (Bund der israelitischen Kultusgemeinden) – ich weiß nicht, ob Sie sich an ihn erinnern können, wenn sie das unbewegte und ausdrucklose Gesicht dieses Kriminellen sehen – das schwachsinnige Rezept postuliert, jeden des Antisemitismus zu beschuldigen, der nicht diesem Völkermord, dieser beabsichtigten Vernichtung eines anderen Volkes applaudiert, wenn Israel wie seine Vorgänger, die Nazis in Deutschland, sich um einen Völkermord kümmert.“

Basem Tajeldine schrieb am 20. September in der Tageszeitung Diario: „Der Holocaust wurde von den Nazis durchgeführt, um die soziale Basis des Judentums – die mehrheitlich der Unterschicht angehörenden Juden, die Antizionisten –, die an die Assimilation an die Europäer geglaubt hat, zu vernichten. Die ideologische Nähe und die engen Verbindungen der Kollaboration, die zwischen dem deutschen Zionismus und dem Nationalsozialismus existierten, sind unbestreitbar. ‚Zionazis’ ist der passendste Begriff, um die politische Organisation der kapitalistischen jüdischen Elite Israels zu definieren, die für den gegenwärtigen Holocaust des arabischen Volkes verantwortlich ist.“

Am 9. Februar hieß es in einem Beitrag von Tarek Muci Nasir für El Diario de Caracas: „Die jüdische Rasse... Ihre einzige Möglichkeit, vereint zu bleiben, ist, Kriege zu verursachen und ein Selbstgenozid. Lassen Sie uns auf das Benehmen der israelitisch-zionistischen Vereine und Kultusgemeinden achten, die sich in Venezuela verschwören, um unsere Finanzen, Industrien, den Handel, die Bautätigkeit zu erbeuten, ja sogar öffentliche Ämter und Politik zu infiltrieren. Möglicherweise wird es notwendig sein, sie wieder aus dem Land zu treiben, wie das andere Nationen früher taten. Das ist die Ursache, warum die Juden sich ständig in einem staatenlosen Exodus befinden und so im Jahr 1948 in Palästina eingedrungen sind.“
Dieser Antisemitismus ist auch sichtbar in den hier abgebildeten Karikaturen und Dokumenten, die in offiziellen oder regierungsnahen Medien publiziert wurden, sowie in Graffiti an exponierten Stellen (von oben nach unten):
1) Zwei Totenschädel; der linke gehört den USA und sagt: „Während ich den Irak und Afghanistan vernichte...“, worauf der rechte – mit israelischer Flagge – antwortet: „...beschäftige ich mich mit dem Libanon und Palästina.“ Gelächter ist die Reaktion.

2) Hitler: „Wie diese Israelis von mir gelernt haben!“

3) Ehud Olmert hält das Kleinkind Hitler in den Armen; Hitler erklärt: „Ich bin ja verglichen mit Olmert ein Baby“.

4) Aus einer offiziellen Schrift der venezolanischen Regierung vom August dieses Jahres: „Im XX. Jahrhundert war dies das Symbol der Nazis – im XXI. Jahrhundert ist dies das Symbol der Juden“.

5) Ein Flugblatt, auf dem die Rückberufung des Botschafters von Venezuela in Israel u.a. so begründet wird: Stoppt das Massaker um Gottes Willen, um Allahs Willen. Jüdische Mörder! Apokalyptische Bestien“.

6) Diese Parolen – „Juden go home!“ und „Es lebe ein freies Palästina!“ – wurden am helllichten Tag an die Mauer des jüdischen Zentrums in Caracas geschmiert. Unter beiden sieht man Hammer und Sichel. Die Sprühereien wurden von Mitgliedern des Verbandes junger Kommunisten angebracht. Videokameras zeichneten die Täter auf, und es wurde Anzeige bei der Polizei und dem Innenministerium erstattet – jedoch ohne jegliches Resultat.
7) An der gleichen Mauer: „Jüdische Mörder“.
All dies ist ein Zeichen dafür, dass sich die Juden in Venezuela in Gefahr befinden. In der venezolanischen Bevölkerung gab es bis vor ein paar Jahren keine Zeichen des Antisemitismus. Doch eine konstante Hetze könnte diese Haltung ändern. Hugo Chávez wiederholte am 30. August in einer während einer Syrien-Reise gehaltenen Rede seine Angriffe gegen den „Imperialismus und seine Verbündeten“, die „wir überall bekämpfen müssen. Wir müssen mit dem Finger auf den Imperialismus zeigen, mit Vor- und Nachnamen, ohne jegliche Angst, und wir müssen den Völkern der Erde sagen, dass wir in diesem 21. Jahrhundert das Grab des nordamerikanischen Imperialismus bereiten werden“. Nikita Chruschtschow sagte schon im November 1956 im Kreml: „Wir werden euch begraben.“ Chávez glaubt nun das bewerkstelligen zu können, was die Sowjetunion in Jahrzehnten nicht schaffte.

Mehr zum regierungsoffiziellen Antisemitismus hat Karl Pfeifer in englischer Sprache bei Engage veröffentlicht: Official antisemitism erupts in Venezuela

28.11.06

Abkommen oder Atempause?

Man darf gespannt sein, was aus dem neuerlichen Waffenstillstandsabkommen wird, das Israels Premierminister Ehud Olmert (Foto) und der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas kürzlich vereinbart haben. Unmittelbar nach dem Rückzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen und dem Inkrafttreten der Absprache flogen jedenfalls wieder Kassam-Raketen auf Sderot; die Hamas bezeichnete Abbas’ Plan, jeden zu verhaften, der sich der Waffenruhe widersetzt, als „unakzeptabel“ und verlangte einen Rückzug Israels auch aus der West Bank; mehrere terroristische Gruppierungen unterzeichneten das Abkommen gar nicht erst, darunter der Islamische Djihad und die Al-Aksa-Brigaden – letztere forderte vielmehr gar die Freilassung ihrer inhaftierten Mitglieder –, und Ahmed Bahar, ein Hamas-Führer im Gaza-Streifen, wertete die Übereinkunft als Eingeständnis Israels, den Kampf verloren zu haben: „Die Israelis baten um einen Waffenstillstand wegen ihrer Niederlage im Gaza-Streifen. Der palästinensische Widerstand spielte eine wichtige Rolle beim Zurückschlagen der israelischen Armee. Die Palästinenser triumphieren immer.“

Ehud Olmert kündigte dessen ungeachtet konkrete Maßnahmen an und nannte die Bedingungen, an die sie geknüpft sind: Denkbar seien unter anderem der Abbau von Kontrollpunkten, die Freigabe eingefrorener Gelder an die Autonomiebehörde, die Räumung von Siedlungen sowie ein Rückzug aus dem Westjordanland. Auch der Austausch einer beträchtlichen Zahl palästinensischer Häftlinge, die teilweise noch jahrelange Gefängnisstrafen zu verbüßen haben, gegen den am 25. Juni entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit steht zur Verhandlung. Im Gegenzug sollen die Palästinenser einschließlich der Terrorgruppen einen dauerhaften Gewaltverzicht leisten, den jüdischen Staat anerkennen und von der Forderung nach einem „Rückkehrrecht“ der „Flüchtlinge“ abrücken. Nichts davon kommt für die Hamas in Frage, wie sie umgehend klarstellte – ihr Dasein ist existenziell an einen Krieg gegen Israel mit dem Ziel seiner Vernichtung geknüpft, und eine Waffenruhe wird sie wie immer lediglich als taktisches Mittel nutzen, um ihre Wunden zu lecken, sich zu rekonstituieren und derweil international als seriöser Verhandlungspartner zu erscheinen.

Dementsprechend kritisch äußern sich viele Stimmen in Israel, wo Olmert nach dem Desaster im Libanon und der Zustimmung zur UN-Resolution 1701 ohnehin unter Druck steht, zu der Absprache mit Abbas. „Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass palästinensische Truppen auf Palästinenser schießen werden, nur um sie davon abzuhalten, noch mehr Raketen auf Sderot abzufeuern?“, fragte beispielsweise Anshel Pfeffer in der Jerusalem Post und urteilte: „Die Palästinenser haben die Luft zum Atmen bekommen, die nötig ist, um den Vorrat an Kassam-Raketen wieder aufzufüllen und der internationalen Anerkennung einer von der Hamas kontrollierten Regierung sowie der Wiederaufnahme finanzieller Zuwendungen näher zu kommen, während die Bewegung fortfährt, ihre neue, vom Iran inspirierte Armee für die nächste Runde aufzubauen. Als Gegenleistung hat Israel – nichts.“ Ähnlich äußerte sich in derselben Zeitung auch Yuval Steinitz (Foto), Mitglied der Knesset für den Likud seit 1999, ehemaliger Vorsitzender des Foreign Affairs and Defense Committee und Dozent an der Universität Haifa. Lizas Welt hat seinen Beitrag ins Deutsche übersetzt.


Yuval Steinitz

Der Premierminister schenkt der Hamas den Sieg

Jerusalem Post, 27. November 2006

Die Rede von Premierminister Olmert am Grab David Ben Gurions in Sde Boker stellt die endgültige Beerdigung israelischer Entschlossenheit und den militärischen und diplomatischen Triumph der Hamas dar. Der Premierminister Israels hat in mehrerlei Hinsicht dem palästinensischen Parlament und der palästinensischen Regierung – denen mehrheitlich Mitglieder einer terroristischen Organisation angehören, deren Charta sie zur Zerstörung Israels verpflichtet – das Blaue vom Himmel versprochen. Und all das nach mehr als einem Jahr, in dem vorangegangene Vereinbarungen und Waffenruhen blutig gebrochen wurden.

Die Hamas braucht einen Waffenstillstand und eine diplomatische Initiative Israels aus zwei Gründen. Zunächst einmal werden diese Maßnahmen das erschüttern, was vom diplomatischen Boykott der Hamas durch den Westen übrig geblieben ist, und der neuen Einheitsregierung, die bald unter der Führung und dem Einfluss der Hamas installiert sein wird, Legitimität verleihen. Eine diplomatische Initiative gegenüber der Hamas-geführten Palästinensischen Autonomiebehörde wird – selbst wenn sie, wie ihre Vorgänger, an den Felsen des Terrorismus und des Verlangens nach der Zerstörung Israels durch das Recht auf Rückkehr zerschmettert – im Nachlauf einen fundamentalen Unterschied hinterlassen: eine Anerkennung der Hamas – de facto durch Israel und deshalb de jure durch die Welt – als Partner im internationalen Geschäft, ohne dass diese Gruppe irgendeine signifikante und dauerhafte Änderung ihrer Grundsätze oder Taktik vorgenommen hat.

Der zweite Grund, warum die Hudna* bei der Hamas Anklang findet, ist deren Plan, die „Gelegenheit“ auszunutzen, die Olmert den Palästinensern zur Verwirklichung eines wirklich wichtigen Ziels gegeben hat – die weitere Verstärkung einer Armee im Gazastreifen nach dem Vorbild der Hizbollah inklusive der fortgesetzten Bedrohung des israelischen Südens durch Raketenbeschuss. Die Hamas hat laut und deutlich die politischen und militärischen Stimmen in Israel gehört, die nach einer dringlichen Militäroperation, Defensive Shield 2, in Gaza riefen – nach einer Operation, die die Infrastruktur des Terrors entwurzelt und die Raketenfabriken zerstört. Ein Waffenstillstand rettet die Hamas vor dieser sehr realen Gefahr und gibt ihr die Freiheit, parallel zum politischen Handeln ihre Armee auszubauen. Der Waffenstillstand wird früher oder später im Sande verlaufen, aber die Hamas wird sowohl an der diplomatischen als auch an der militärischen Front gestärkt aus ihm hervorgehen.

Es ist interessant zu beobachten, dass das Versagen gegenüber der Hamas im Süden ein exaktes Abziehbild des Versagens gegenüber der Hizbollah im Norden ist. In beiden Fällen versuchten die IDF einen Krieg durch Luftschläge und Artilleriefeuer zu gewinnen, während sie es unterließen, das Gebiet der Terrororganisationen zu übernehmen. Die begrenzten Operationen – das nur wenige Kilometer umfassende Eindringen in das feindliche Territorium –, zu denen die Bodentruppen der IDF in den Libanon und den Gazastreifen geschickt wurden, ließen jeglichen strategischen Zweck vermissen und könnten sogar als nutzlose Irrfahrten bezeichnet werden. Dass die Hamas oder die Hizbollah einen hohen Preis zahlen sollten, ist kein Ersatz für einen Krieg, der dafür gedacht war, die iranischen Zweigstellen auszuschalten, die nördlich und südlich von Israel etabliert worden sind. Eine Annäherung sendet nur eine Botschaft der Schwäche und des Zögerns an Syrien, den Iran und den Rest der Region.

Die Hamas ist in einer schwierigen Situation – aber in einer, aus der sie gerettet werden kann –, und deshalb hat sie Olmerts Waffenstillstand zugestimmt. Die Hizbollah schaffte es vor kurzem, ihren militärischen und politischen Status im Libanon wiederherzustellen, und die Hamas würde nur zu gerne in die Fußstapfen des großen Bruders im Norden treten. Israel hat auf der anderen Seite erneut eine goldene Chance vertan. Die brutalen Angriffe auf Sderot gaben Israel die Gelegenheit zu einer zweiten Defensive Shield – nämlich in Gaza –, die es ihm gestattet hätte, die Kontrolle über den Philadelphi-Korridor** wiederzugewinnen und die intensive Militarisierung der Hamas und anderer Terrorgruppen zu beenden. Aber der Überdruss, der Israels Militärkultur befallen hat, erlaubt seinen Feinden jeden denkbaren Fehler – und dennoch das Überleben.

Olmerts Israel hat sich offenbar entschieden, jede militärische Entschlossenheit gegen den Terror aufzugeben, sogar im Angesicht beispielloser Ansprüche. Und so sind unsere Städte dem Untergang geweiht und unsere Bürger dazu verurteilt, unter der wachsenden Bedrohung durch Raketen sowohl aus dem Norden als auch aus dem Süden zu leben, bis wir unsere Sinne wiederfinden und zu unserer vernachlässigten Kultur militärischer Entschlossenheit zurückkehren.

* Das arabische Wort Hudna bezeichnet eine Waffenruhe aus taktischen Erwägungen, die eine einseitige Aufkündigung der Waffenpause impliziert, sobald die Zeit dafür gekommen ist. Sie ist ein also ein strategisches Mittel zur Durchsetzung militärischer Ziele.
** Korridor entlang der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen.

27.11.06

Existenzielle Courage

Jagdszenen in der französischen Hauptstadt am vergangenen Donnerstag: Ein schwarzer Polizist schützt jüdische Fußballfans vor einem mehr als 150 Menschen starken Mob, der daraufhin zur Lynchjustiz bläst. Als mehrere Vorwarnungen und selbst Tränengas nichts helfen, erschießt der Beamte einen der Angreifer; ein weiterer wird schwer verletzt. Sowohl ein Journalist, der Augenzeuge des Geschehens wird, als auch die französische Polizeigewerkschaft UNSA sprechen von legitimer Notwehr; die Staatsanwaltschaft, die zunächst wegen des Verdachts der „vorsätzlichen Tötung“ gegen den Polizisten ermittelt, scheint diese Einschätzung inzwischen zu teilen. Der Innenminister und der Pariser Bürgermeister plädieren für ein drakonisches Vorgehen gegen Antisemitismus und Rassismus, während sich die Situation in Frankreich zuspitzt.

Bereits während des UEFA-Pokal-Spiels von Paris Saint-Germain (PSG) gegen Hapoel Tel Aviv, das das Team aus Israel mit 4:2 gewann, waren Spieler und Fans der Gäste einer ausgesprochen feindseligen Stimmung ausgesetzt. „Wir haben die Gesänge der Franzosen gehört, die in keiner Weise etwas mit Fußball zu tun hatten“, kommentierte Hapoels Pressesprecher Amir Lubin gegenüber Galei Zahal Radio mit vornehmer Zurückhaltung die Tatsache, dass ein nicht unerheblicher Teil des Publikums antisemitische Hassparolen gegrölt hatte. Jean-Philippe D’Hallivillée, Leiter des Sicherheitsdienstes des Pariser Klubs, sagte, seine Mitarbeiter hätten die Partie überwacht und rechtsradikale Aktivitäten wie das Zeigen des Hitlergrußes aufgezeichnet. Dutzende von Zuschauern seien festgenommen und verhört worden. Die meisten der rund 1.500 Hapoel-Fans mussten nach dem Spielende zunächst unter Polizeischutz im Stadion ausharren.

Auf einige Anhänger des Gastvereins, die die Arena bereits verlassen hatten, eröffnete eine zunächst dreißig- bis vierzigköpfige Gruppe die Jagd. Philippe Broussard, Reporter des Nachrichtenmagazins L’Express, wurde zum Beobachter dieser Hatz. Seinem Bericht zufolge rief die Menge antisemitische Parolen und verfolgte schließlich Janniv Hazout und drei weitere Hapoel-Supporter. Den Bedrohten zu Hilfe eilte Antoine Granomort, ein 32-jähriger Polizist in Zivil. „Bleib hinter mir! Bleib verdammt noch mal hinter mir!“, versuchte er Hazout zu schützen. Den Angreifern gab er sich als Polizist zu erkennen, doch die Meute wuchs rasch auf mindestens 150 Personen an, nahm nun auch Granomort ins Visier und ging mit Rufen wie „dreckiger Jude“, „dreckiger Neger, dich bringen wir um“, „Le Pen Präsident“ und „Frankreich den Franzosen“ auf ihn los: Er wurde zu Boden geworfen und in den Bauch getreten. Granomort setzte sich zunächst mit Tränengas zu Wehr, doch der Mob setzte ihm erneut zu. Daraufhin fiel ein Schuss: Er traf den 25-jährigen Julien Quemere tödlich und verletzte anschließend den ein Jahr älteren Mounir Bouchaer schwer. „Er ist von 150 aufgeheizten Typen angegangen worden, und wenn er nicht geschossen hätte, wäre er dabei draufgegangen“, sprach Frédéric Lagache, der Leiter der Polizeigewerkschaft UNSA, von einer eindeutigen Notwehrsituation für Granomort, der schließlich in einem nahe gelegenen Schnellrestaurant Schutz suchte und selbst dort noch attackiert wurde.

Der Getötete gehörte den Boulogne Boys an, einer Organisation von PSG-Fans, aus deren Gesinnung Aymeric de Saint Hilaire, einer ihrer Anführer, in einem Interview mit einer befreundeten Ultra-Gruppierung von Rapid Wien keinen Hehl machte: „Seit 1978 ist die ‚Boulogne’ die historische Tribüne der PSG-Anhängerschaft, genannt ‚KOB’“ – deren Teil die Boulogne Boys sind – „und in extrem rechter Orientierung. Viele von uns sind Nationalisten und stolze Franzosen.“ Die es nicht bei Hassparolen belassen, sondern sie regelmäßig auch in die Tat umsetzen; bereits 1998 hatte es beim Spiel gegen den israelischen Verein Maccabi Haifa blutige antisemitische Ausschreitungen gegeben. Und auch rassistische Schmähungen und Übergriffe sind beim harten Kern des PSG-Publikums nichts Neues: Schwarze Spieler der gegnerischen Teams beispielsweise werden regelmäßig mit Affenlauten bedacht, und erst vor knapp zwei Wochen verurteilte ein Gericht zwei PSG-Hooligans zu Gefängnisstrafen. Die beiden hatten einen dunkelhäutigen Franzosen angegriffen.

Empörte Anwohner forderten nach den Attacken auf die israelischen Fans und den Polizisten die Auflösung des französischen Erstligaklubs Paris-Saint Germain; dessen Vorsitzender Alain Cayzac sprach von der „düstersten Stunde“ seines Vereins und erklärte, er werde die „Geißel des Rassismus und Antisemitismus beim PSG“ bekämpfen. Wenn er das nicht schaffe, werde er die Konsequenzen ziehen. Auch der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoe betonte, es sei „absolut notwendig“, Antisemitismus und Rassismus im Umfeld der Fußballanhänger „mit allen Mitteln“ zu bekämpfen. Innenminister Nicolas Sarkozy kündigte nach einer Krisensitzung mit Fußballvereinen und Pariser Fanklubs an, „die rassistischen Elemente aus den Stadien zu fegen“: „Wir wollen keine Nazi-Grüße und keine Affenschreie, wenn schwarze Spieler den Ball berühren.“ Und auch keine antijüdischen Hassgesänge und Hetzjagden, darf man wohl annehmen.

Derlei Entschlossenheit ist so begrüßenswert wie verspätet. Denn der Antisemitismus nimmt in Frankreich bereits seit geraumer Zeit dramatisch zu und sorgt dafür, dass immer mehr französische Juden über eine Auswanderung nach Israel nachdenken oder diesen Schritt bereits vollzogen haben. Eine Studie der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) hatte bereits vor drei Jahren festgestellt, dass für den rasanten Anstieg antijüdischer Straftaten in der EU – insbesondere in Frankreich – hauptsächlich Jugendliche aus islamischen Einwandererfamilien verantwortlich sind.* Die teilweise aggressive Politik der französischen Regierung gegenüber Israel heizt die Situation zusätzlich an. Hinzu kommt, dass der Front National des Jean-Marie Le Pen weit weniger als in früheren Jahren gegen Muslime zu Felde zieht, sondern den unter diesen verbreiteten Antisemitismus längst als tertium comparationis und ideologisches Scharnier entdeckt hat. Eine entsprechende Arbeitsteilung war auch am vergangenen Donnerstag im Prinzenparkstadion zu beobachten, als auf der einen Tribünenseite die Boulogne Boys ihre antisemitischen Tiraden schmetterten, während auf der anderen palästinensische und libanesische Fahnen geschwenkt und „Es lebe Palästina“-Parolen gerufen wurden. Denkbar, dass auch die anschließende Jagd auf Hapoel-Fans und den Polizisten als Allianz von Nazis und Islamisten stattfand.

Antoine Granomort wiederum hat – daran kann nach den Augenzeugenberichten kein Zweifel bestehen – gezeigt, was in Sonntagsreden gemeinhin als Courage bezeichnet wird, und das in einer für ihn existenziellen Situation: Er hat bedrohte jüdische Fußballfans vor einem antisemitischen Lynchmob geschützt, der dadurch Zuwachs bekam, ihm selbst nach dem Leben trachtete und sich dabei auch von Warnungen bis hin zu einem Tränengaseinsatz nicht beeindrucken ließ. Nun ist es an anderen, dafür zu sorgen, dass solche Dramen gar nicht erst entstehen.

* Die Untersuchung wurde zunächst unter Verschluss gehalten, weil man bei der EUMC fürchtete, ihre Veröffentlichung könnte zu Ausschreitungen durch Muslime führen. Diese Erkenntnis, die also die Resultate der Studie untermauerte, führte dazu, dass die genannte Gruppe in der offiziellen Endfassung nicht mehr als für antisemitische Straftaten hauptverantwortliche auftauchte.

Zu den Fotos: Oben: Das Schnellrestaurant, in das sich der französische Polizist flüchtete, nach dem Angriff des Lynchmobs. Unten: Spieler von Hapoel Tel Aviv feiern den 4:2-Erfolg ihrer Mannschaft mit ihren Fans.

Hattips: Franklin D. Rosenfeld, Olaf Kistenmacher, Spirit of Entebbe

23.11.06

Salam-Taktik

Schon wieder ein Manifest! Aber diesmal eines, das – im Unterschied zu dem der deutschen und österreichischen Politologiker – wirklich überrascht: Achtundsechzig in Deutschland lebende Palästinenserinnen und Palästinenser traten mit einer Petition unter dem Titel „Salam 2006“ an die Öffentlichkeit. Zum Hintergrund hieß es, der Vorsitzende einer der palästinensischen Gemeinden in der Bundesrepublik habe angesichts neuerlicher Terroranschläge der Hamas gegen Israel einen Brief an die anderen Gemeindevorstände verfasst, in dem er diese scharf für ihre Unterstützung der antijüdischen Politik der palästinensischen Regierung kritisierte. Daraufhin sei er genötigt worden, von seinem Posten zurückzutreten. Er habe jedoch auch Zustimmung erhalten und sich daher entschlossen, seinen Weg unbeirrt weiterzugehen. „Wo ein Brief nicht weiterkommt, müssen viele Stimmen laut werden. Aus diesem Grund ist ‚Salam 2006’ gegründet worden. Palästinensische Menschen aus Deutschland haben sich Ende September 2006 in Berlin getroffen und diese Erklärung auf den Weg gebracht. Damit das Jahr 2006 ein Jahr des Friedens wird“, heißt es auf der Internetseite dieser ungewöhnlichen Initiative. Deren Aufruf, in dem auch zu Deutschland sehr kritische Töne angeschlagen werden, soll daher zunächst dokumentiert werden:

Berliner Erklärung „Salam 2006“

Seit Jahrzehnten leben das israelische und das palästinensische Volk als Nachbarn. Es gäbe viele Möglichkeiten zur Zusammenarbeit und zur gemeinsamen Entwicklung. Stattdessen wird ihr Leben vergiftet durch Krieg und Gewalt, durch Bedrohung und Terror, durch Hass, Verachtung und Respektlosigkeit.

Das Grundübel ist der Antisemitismus, und das nicht erst seit der Gründung des Staates Israel; vielmehr gab es bereits vorher antijüdische Pogrome in der Region, und auch die Kollaboration eines Teils der Palästinenser unter der Führung des Großmuftis von Jerusalem, Haji Amin el-Husseini, mit den Nationalsozialisten ist hinlänglich bekannt. Dieser Antisemitismus, der sich in Vernichtungsdrohungen genauso niederschlägt wie in täglichen Terrorangriffen, bedeutet Entwürdigung und Entrechtung der Israelis. Er lähmt ihr wirtschaftliches, politisches und soziales Leben. Darüber hinaus verhindert dieses täglich neu erlebte Unrecht einen friedlichen Ausgleich des alten Unrechts, das den Juden mit dem Holocaust angetan wurde. Es ist an der Zeit, diese antijüdische Gewalt zu beenden und einer dauerhaften Friedenslösung den Weg zu bereiten, die
  • dem jüdischen Volk ein selbstbestimmtes Leben in Würde ermöglicht
  • dadurch auch den Palästinensern die Existenz in international anerkannten Grenzen sichert
  • die gesamte Region befriedet und dadurch die ganze Erde friedlicher und sicherer werden lässt.
In der israelischen Gesellschaft gibt es seit langem Stimmen für Verständigung. Sie haben deutlich gemacht, dass die Palästinenser in Frieden leben können, wenn sie die Israelis auch in Frieden leben lassen. Diese Stimmen brauchen Unterstützung.

Nur wenig Unterstützung kommt jedoch aus Deutschland. Das hat seinen Grund: Vor 61 Jahren endete mit der Niederschlagung Nazi-Deutschlands der von den Deutschen begangene Massenmord an den Juden Europas. Scham und Trauer über dieses Verbrechen hielten sich anschließend in engen Grenzen, der Antisemitismus lebte fort und trat immer wieder in neuen Gewändern auf. Viele Menschen schweigen heute zum palästinensischen Terrorismus und zum Islamismus. Und dieses Schweigen ermöglicht neues Unrecht.

Um in diese Situation Bewegung zu bringen, haben wir, in Deutschland lebende Palästinenserinnen und Palästinenser, als Erstunterzeichnende diese Erklärung auf den Weg gebracht. Denn wir sehen mit Entsetzen, wie der mit so großen Hoffnungen gegründete Staat Israel in einer Sackgasse der Gewalt feststeckt, weil die Welt sich einredet, dass er selbst an dieser Situation schuld sei. Wir fordern die deutsche Regierung auf, mit der Europäischen Union
  • den palästinensischen Terrorismus nicht länger zu tolerieren
  • den Boykott der Palästinensischen Autonomiebehörde konsequent weiterzuführen und ihr keine finanziellen Mittel bereitzustellen, die in den Terrorismus fließen statt in den Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur
  • endlich dem israelischen Staat die Unterstützung zukommen zu lassen, die er zur Verteidigung seiner Existenz benötigt.
Damit wird eine Sicherheitsregelung für die Region zu verbinden sein, besonders für das von seinen Nachbarn bedrohte Israel. Ein erster Schritt dazu wäre es, wenn die Palästinenser als Zeichen der Versöhnungsbereitschaft auf das so genannte Rückkehrrecht verzichten und Jerusalem als Hauptstadt des Staates Israel endlich anerkennen. Vorschläge zur Einigung mit Israel wurden in der Vergangenheit häufig gemacht. Der Frieden wäre greifbar nahe.

„Was Dir verhasst ist, tu Deinem Nächsten nicht an.“ So fasste vor zweitausend Jahren Rabbi Hillel das Wesen des Judentums zusammen. Das sollte der Leitfaden menschlichen Handelns sein – auch in der palästinensischen Politik.

Bitte unterstützen Sie mit Ihrer Unterschrift diese Erklärung.

Sie reiben sich verwundert die Augen? Zu Recht. Denn eine solche Petition gibt es – man ist geneigt zu sagen: natürlich – genauso wenig wie eine Initiative mit dem Namen „Salam 2006“. Sehr wohl existiert jedoch der Appell „Schalom 5767 (Berliner Erklärung)“, der auf Betreiben des Direktoriumsmitglieds im Zentralrat der Juden in Deutschland, Rolf Verleger, entstanden ist, den 68 in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden ins Leben gerufen haben und für den sie weitere Autogramme sammeln. Die Verfasser prangern darin unter anderem „die seit 1967 andauernde israelische Besetzung palästinensischen Gebiets“ als Ursache allen Übels an und fordern die Bundesregierung sowie die Europäische Union auf, „die israelische Besatzungspolitik nicht länger zu tolerieren“, „kurzfristig den Boykott der Palästinensischen Autonomiebehörde zu beenden“ und „endlich die Verwirklichung eines lebensfähigen palästinensischen Staates ernsthaft anzustreben“.

Ein Blick auf die Liste der Erstunterzeichner mindert sogleich ein mögliches Erstaunen: Michal Bodemann, Abraham Melzer und Fanny-Michaela Reisin – um nur einige wenige zu nennen – haben bereits in der Vergangenheit regelmäßig ihre Zuneigung zu vernichtungswütigen Israelfeinden demonstriert und gezeigt, dass Antisemitismus kein genetischer Defekt ist, sondern eine Ideologie, vor der auch prospektiv Betroffene nicht gefeit sind. Deshalb könnte die Erklärung auch deutlich mehr Resonanz hervorrufen als das jüngste Traktat der Politikwissenschaftler in der Frankfurter Rundschau. Auf eine, sagen wir, ähnlich defätistische Erklärung in Deutschland lebender Palästinenser wartet man hingegen nach wie vor vergeblich: Der Beginn dieses Beitrags inklusive der „Dokumentation“ ist frei erfunden; der Wortlaut des Manifests „Schalom 5767“ – Grundlage für das Fake – wurde dabei nur leicht, aber eben entscheidend modifiziert. Das Leben ist nun mal bisweilen die reinste Realsatire.

22.11.06

Quod licet Jovi

Wenn irgendwo auf dieser Welt und insbesondere in den USA von einer „Israel-Lobby“ die Rede ist, wird man hierzulande sofort hellhörig. Denn Lobbys sind bekanntlich per se verdächtig, einen Anschlag auf das Gemeinwohl darzustellen, weil man sie im Verdacht hat, von niemandem kontrolliert im Verborgenen zu wirken, prinzipiell verwerfliche Partikularinteressen zu verfolgen und dadurch Sabotage am großen Ganzen zu betreiben. Mit rechten Dingen kann es in Lobbys jedenfalls nicht zugehen. Wenn eine davon dann noch dem jüdischen Staat dienen soll oder könnte, muss zwangsläufig der Leibhaftige höchstpersönlich den Vorsitz übernommen haben. In Deutschland wäre so etwas selbstverständlich völlig undenkbar – auch wenn respektive weil eine satte Mehrheit die Halluzination pflegt, Politik und Medien seien gleichsam zionistisch kontrolliert und unterdrückten daher jedwede sich kritisch dünkende Äußerung zu Israel. Mit großer Sympathie begegnet man daher beispielsweise den amerikanischen Politikwissenschaftlern John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt, die in einer Studie den US-Kongress als „israelisch besetztes Gebiet“ bezeichneten, oder dem britischen Historiker Tony Judt, der Israel für einen Anachronismus hält und der Ansicht ist, die amerikanische Außenpolitik nehme viel zu viel Rücksicht auf die Interessen des Verbündeten.

Doch über eine vorgebliche Einschränkung der freedom of speech empört man sich bisweilen auch in liberaleren Staaten wie etwa den USA und Großbritannien, wenn Israel nicht eben freundlich Gesonnene auf entschlossene Gegenwehr stoßen. Gleichzeitig nimmt man es mit der Verteidigung dieses Grundrechts häufiger nicht mehr so genau, wenn sich Kritiker des Islam zu Wort melden. In seinem Gastbeitrag für Lizas Welt analysiert der in Baden bei Wien lebende Journalist und Buchautor Karl Pfeifer diesen double standard, berichtet von einem besonders bizarren Fall und weiß auch, warum es augenscheinlich ein Unterschied ist, ob man antisemitische Passagen aus der Bibel zitiert oder aus dem Koran.


Karl Pfeifer

Zweierlei Redefreiheit

Quod licet Jovi, non licet bovi – was Jupiter erlaubt ist, steht dem Ochsen noch lange nicht zu. Diesen Spruch habe ich vor langer Zeit gelernt und seither erfahren, dass es wenige Menschen gibt, die ihre Prinzipien ausnahmslos für alle gelten lassen. Nehmen wir das Prinzip der Redefreiheit, das in den angelsächsischen Ländern postuliert wird: Liberale englische und amerikanische Journalisten kritisieren Österreich, weil hier – aufgrund unserer Geschichte – die Redefreiheit beschränkt und die Leugnung beziehungsweise Verharmlosung der NS-Verbrechen verboten ist und David Irving deswegen zu einer Haftstrafe verurteilt wurde.

Noch größere Stürme der Entrüstung hat jedoch Ende Oktober dieses Jahres das Telefonat zweier jüdischer Funktionäre in den USA ausgelöst, die das polnische Konsulat in New York angerufen hatten, um sich zu erkundigen, ob der Historiker Tony Judt (Foto) dort bei einer Veranstaltung sprechen wird. Judt lehrt europäische Geschichte an einer New Yorker Universität. Früher zionistischer Aktivist in seinem Geburtsland England, ist er inzwischen enttäuscht vom Zionismus und dem Staat Israel. Er zog daraus die Konsequenz, dass „die Herrschaft des Rechts, die Macht der westlichen Staaten und die internationale Diplomatie“ besser die Sicherheit der Juden garantierten als ein jüdischer Staat. Israel, erklärte Judt, habe „ein für das späte neunzehnte Jahrhundert typisches separatistisches Projekt in eine Welt importiert, die sich weiter bewegt hat, in eine Welt individueller Rechte, offener Grenzen und internationalen Rechts“ und müsse daher eher früher als später in „einen einheitlichen, integrierten binationalen Staat der Juden und Araber, der Israelis und Palästinenser“ transformiert werden.

Neu sind diese Ideen nicht. Warum eigentlich die schiitischen mit den sunnitischen Arabern im Irak anscheinend nicht friedlich leben können und warum es Serben und Albaner nicht in einer Gesellschaft im Kosovo miteinander aushalten – solche Fragen stellt Tony Judt nicht. Dass zwei jüdische Funktionäre höflich fragten, ob Judt einen Vortrag halten werde, und dass das polnische Konsulat diesen daraufhin auslud, empörte führende Intellektuelle jedoch als eine Verletzung der Redefreiheit: Sie rügten am 16. November in einem in der New York Review of Books erschienenen offenen Brief den Direktor der Anti-Defamation League (ADL), Abraham H. Foxman.

Am gleichen Tag veröffentlichte die Tageszeitung New York Sun Auszüge aus einer Rede, die Sir Harold Evans (Foto), langjähriger Chefredakteur der Sunday Times und der Londoner Times, drei Tage zuvor gehalten hatte. Sir Harold schilderte darin, was in diesem Jahr beim von der linksliberalen Tageszeitung The Guardian gesponserten Hay-on-Wye-Festival geschah, als fünf Personen auf dem Podium die Frage „Gibt es irgendwelche Grenzen für die Redefreiheit?“ diskutierten. Ein muslimischer Podiumsteilnehmer sagte dabei: Wenn jemand seine Religion beleidige, dann würde er ihn schlagen. Der Rechtsanwalt Anthony Julius – der Deborah Lipstadt und den Penguin Verlag im Prozess gegen David Irving verteidigt hatte – antwortete, dass die Juden als Minderheit unter zwei mächtigen Hegemonien lebten, unter Christen und Muslimen, und dass sie gezwungen waren zu lernen, wie man gewaltlos mit Beleidigungen umgeht, die ihnen die heiligen Schriften beider Religionen zufügten.

Julius begann dabei mit dem Zitat einer antisemitischen Stelle im Neuen Testament, was ohne Kommentar durchging. Doch als er anfing, die Stellen aus den Koran zu zitieren, die Juden als „Affen und Schweine“ verunglimpfen, wurden die anderen Podiumsdiskutanten wütend. Eine von ihnen, Madeleine Bunting vom Guardian, hielt ihre Hand vor das Mikrofon und sagte sinngemäß: „Ich werde nicht hier sitzen und irgendeine Kritik an Muslimen anhören.“ Sie erhielt Beifall, und keiner der rechten oder linken Journalisten unter den Zuhörern verteidigte die Redefreiheit – nicht die Hassrede! – des sehr gemäßigten Anthony Julius.

Man regt sich zwar in den linksliberalen Medien sehr über den höflichen Anruf zweier jüdischer Funktionäre in den USA auf, der dazu führte, dass Tony Judt vom polnischen Konsulat ausgeladen wurde. Die Tatsache aber, dass einem prominenten britischen Verteidiger der Redefreiheit diese nicht gewährt wird, scheint den gleichen Intellektuellen selbstverständlich zu sein. Man darf zwar über Israel und „die Zionisten“ alles sagen und gleichzeitig jammern, dass die angeblich mächtige „zionistische Lobby“ jeden Kritiker als Antisemiten hinstelle. Juden dürfen sich jedoch nicht beschweren über Beleidigungen und Verunglimpfungen, und ein prominenter Jude darf – in Großbritannien, das so stolz auf die Redefreiheit ist – nicht einmal aus dem Koran zitieren. Quod licet Muslimen, non licet Juden.

Eine glänzende Erledigung der Kritiker einer „Israel-Lobby“ besorgte jüngst Gabriel Schoenfeld in einem Beitrag für die Zeitschrift Commentary; in der gleichen Publikation befasste sich Daniel Johnson mit Allah’s England (Hattip: barbarashm).

20.11.06

Kleiner Schmitz ganz groß

Nahostkorrespondenten haben es gut. Wirklich gut sogar. Sie haben immer etwas zu berichten, kennen keine Langeweile, sind gefragte Menschen und brüsten sich nicht selten damit, in lebensgefährlichen Krisengebieten zu arbeiten, also für die Menschheit selbstlos ihre körperliche Unversehrtheit aufs Spiel zu setzen. Dass die meisten von ihnen bloß den immer gleichen Unsinn von der „Gewaltspirale“ erzählen, gleichzeitig das vertraute Muster vom israelischen Aggressor und den bedauernswerten Palästinensern stricken, trotz vollständiger Kenntnisfreiheit als Experten firmieren und das alles uneingeschränkt von dem verhassten Land aus tun können, das ihnen in jeder Hinsicht die Möglichkeit zur freien Entfaltung bietet, sei hier nur am Rande erwähnt. Denn in Wirklichkeit geht es den Nahostkorrespondenten gar nicht so gut. Schließlich stehen sie unter dem ständigen Druck, Nachrichten produzieren zu müssen – und dabei vor zwei Problemen: Erstens haben sie schneller als die Konkurrenz zu sein und zweitens irgendwie aus dem Einheitsbrei herauszuragen, also entweder besonders Sensationelles oder außergewöhnlich Originelles zu Papier zu bringen respektive in das Mikrofon zu ächzen. Das ist gar nicht so leicht.

Einem jedoch gelingt all dies scheinbar mühelos und nachgerade beschwingt: Thorsten Schmitz. Der Mann leidet zwar möglicherweise unter seinem Allerweltsnamen, darf aber trotzdem für die Süddeutsche Zeitung schreiben, was sein geschundenes Ego gewiss sanft streichelt. Bei dem Münchner Blatt hat man für Israel seit jeher nicht allzu viel übrig und leistet sich deshalb zwangsläufig keinen Berichterstatter, der dieser Linie untreu werden würde. Dass Schmitz Mitte Juni dieses Jahres in seinem Beitrag „Der Krieg der Bilder“ über ein „Beispiel, wie Palästinenser manchmal die Wahrheit verbiegen“, schrieb, dürfte daher ein bedauerliches Versehen gewesen sein – und vor allem eins, das der Korrespondent hernach doppelt und dreifach wieder gut zu machen hatte. In der Folge gab er sich deshalb reichlich Mühe, seinen Fauxpas auszubügeln: Er spekulierte nie wieder darüber, ob die eine oder andere vermeintliche Gräueltat Israels nicht eher eine weitere Pallywood-Inszenierung gewesen sein könnte, und tat sich stattdessen mit Artikeln hervor, die wohl auch der Muslim Markt oder die junge Welt unbesehen und mit Kusshand veröffentlicht hätten.

Am vergangenen Montag entdeckte Schmitz dann, dass er eigentlich Feminist ist – nicht deshalb, weil er herausgefunden hätte, dass es für Frauen in der islamischen Welt, vorsichtig formuliert, nicht gerade zum Besten bestellt ist, sondern weil er entdeckt hatte, dass sämtliche israelischen Männer sich zu Banden brutalster Sexisten und Vergewaltiger zusammengerottet haben – ganz grundsätzlich, aber insbesondere in der Armee –, nachdem sie durch die Besatzung im Wortsinne Blut geleckt haben und auf die Idee verfallen sind, nicht nur über die Palästinenser herzufallen, sondern auch über ihre weiblichen Landsleute. Gestern nun hatte der Reporter der Süddeutschen sein coming out als Graswurzelrevolutionär – er vermeldete nämlich euphorisiert die entscheidende Wende, ja, die Lösung des Nahostkonflikts: „Das angeblich schwache palästinensische Volk hat durch gewaltlosen Widerstand den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt durchbrochen.“

Was war passiert? Gab es ein sit-in vor einer Kassam-Rakete? Eine Lichterkette rund um die Hamas-Zentrale? Zivilen Ungehorsam gegen Selbstmordattentäter? Nein. Schmitzens Begeisterung resultierte vielmehr aus dem, was er als „großen kleinen Widerstand“ betitelte: „Hunderte Zivilisten haben als menschliches Schutzschild einen israelischen Luftangriff auf das Haus eines Hamas-Mitglieds verhindert.“ Chapeau! Und sie haben dabei – das Bild sei trotz dieser ultimativ friedfertigen Aktivität gestattet – gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: „Mit ihrem Schutzschild aus Menschen haben die Palästinenser die Pläne sowohl der Hamas-Führung als auch der israelischen Regierung durchkreuzt.“ Der Hamas-Führung? Aber ja doch: „Die Hamas hat bislang alle israelischen Angriffe propagandistisch ausgeschlachtet und als Rechtfertigung für ihren Kampf gegen Israel benutzt.“ Das müsste nun, folgt man der verqueren und von der Realität ungetrübten Logik des Thorsten Schmitz, ein jähes Ende haben.

Vielleicht ist die Lieferung der Süddeutschen Zeitung in den Gazastreifen zu teuer; vielleicht können die dort Lebenden auch nicht gut genug Deutsch. Vielleicht hatte es aber auch andere Gründe, dass ein führender Hamas-Funktionär die Aktion – die live im palästinensischen Fernsehen übertragen wurde – leitete; dass im Zuge der Freitagsgebete dazu aufgerufen worden war, bei israelischen Warnungen vor Militäraktionen gegen die Häuser von islamistischen Terroristen die Nachbarn zusammenzutrommeln, um eben diese Terroristen abzuschirmen; dass die Menge neben den obligatorischen Parolen gegen Israel und die USA rief: „Ja zum Märtyrertum! Nein zur Kapitulation“, und dass Nizar Rayan, ein lokaler Hamas-Funktionär, bekräftigte: „Wir sind hierher gekommen, um diesen Kämpfer zu schützen, um sein Haus zu schützen und um zu zeigen, dass wir die Politik der Zionisten besiegen können.“ Bei „diesem Kämpfer“ handelt es sich übrigens um Mohammed al-Baroud, einen Funktionär des Popular Resistance Committees (PRC) – einer Art Dachorganisation verschiedener palästinensischer Terrorvereinigungen, die in der Vergangenheit mehrfach für mörderische Anschläge auf Israel verantwortlich zeichnete –, der der Kopf der Kassam-Raketen-Zelle dieser Organisation ist.

All das schrieb Schmitz nicht; stattdessen konstatierte er zufrieden: „Ausgerechnet die Palästinenser haben nun dem militärisch überlegenen Israel gezeigt, wie entwaffnend der Nicht-Einsatz von Gewalt und wie effektiv ein Schutzschild sein kann.“ Heißt: Würden die Israelis doch nur endlich auch eine Menschenkette etwa um Sderot oder Ashkelon bilden – da man bekanntlich nicht so genau weiß, wo die Kassam-Raketen einschlagen, wird man schon den ganzen Ort einkreisen müssen –, es wäre selbstverständlich sofort Schluss mit dem Beschuss. Und wenn der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert dann noch „nicht länger auf die Macht der Waffen setzen und nun endlich Gespräche mit der Palästinenser-Regierung aufnehmen“ würde, ginge der Thorsten ab wie Schmitz’ Katze und wäre der Frieden perfekt. Wer wollte da widersprechen?

So einfach sieht es aus in der Welt (nicht nur) des Nahost-Korrespondenten einer als seriös geltenden überregionalen deutschen Tageszeitung. Der Begriff „Menschliches Schutzschild“ hat ja auch in all seinen Bestandteilen einen schönen Klang – um wie viel hässlicher hört sich da der Terminus passive Bewaffnung an, wiewohl er den Sachverhalt weitaus treffender beschreibt? Doch Thorsten Schmitz will in den Palästinensern partout die Wiedergänger von Mahatma Gandhi und Mutter Theresa sehen, und dafür ist kein Argument zu schräg und beweist kein Ereignis das genaue Gegenteil. Nahostkorrespondenten haben es wirklich gut: Sie müssen noch nicht einmal denken, sondern nur ihren Emotionen freien Lauf lassen. Der Auflage schadet das gewiss nicht.

Hattip: barbarashm

17.11.06

Applaus, Applaus!

Man kann nicht ernsthaft behaupten, dass das vorgestern in der Frankfurter Rundschau veröffentlichte „Manifest der 25“ bislang eingeschlagen hätte wie die sprichwörtliche Bombe. Aber das mag erstens daran liegen, dass die friedensbewegten Absichten der Autoren derlei militaristische Wirkung ohnehin nicht bezweckten, und zweitens der Tatsache geschuldet sein, dass manche ihr Glück noch gar nicht fassen können, von deutschen und österreichischen Akademikern bestätigt bekommen zu haben, was sie immer schon wussten: dass die Palästinenser nämlich die eigentlichen Opfer des Holocaust waren und die Juden den nationalsozialistischen Massenmord bloß für ihre sinistren Zwecke missbrauchen. Immerhin gab es jedoch ein paar Reaktionen, und die zeigten sich durchweg zufrieden mit dem Papier. Die taz beispielsweise überschrieb ihren entsprechenden Beitrag im Duktus alter Antiimp-Kämpfer – „Politologen: Mehr Soli mit Palästina“ –, bevor sie die Meldung des Evangelischen Pressedienstes (epd) zitierte, in der die Intention der Autoren des Manifests zu einem Einsatz „für eine stärkere Parteinahme Deutschlands im Nahost-Konflikt zu Gunsten der Palästinenser“ verniedlicht wurde.

Gregor Dotzauer wiederum hatte im Tagesspiegel zwar noch ein wenig Bauchgrimmen„Für ein Manifest ist der Text weder besonders prägnant geschrieben noch gehen die Forderungen über Denkanstöße hinaus“ –, doch alles in allem sei „ein erster Schritt“ getan, „Deutschlands Sonderstellung gegenüber Israel – vor allem nach dem Libanonkrieg – jenseits von Lagermentalitäten neu zu bestimmen“. Also lobte er die Verfasser ausdrücklich: „Das Bemühen, sich dabei von niemandem vereinnahmen zu lassen, ist deutlich erkennbar“ – kein Wunder: Für diese Vereinnahmung hatten die Politologiker schon selbst gesorgt, indem sie die Shoa zur Ursache für „das seit sechs Jahrzehnten anhaltende und gegenwärtig bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Leid“ der nahöstlichen Autochthonen umlogen: „Ohne den Holocaust an den Juden würde die israelische Politik sich nicht berechtigt oder/und gezwungen sehen, sich so hartnäckig über die Menschenrechte der Palästinenser und der Bewohner Libanons hinwegzusetzen.“ Und profitable Finanzspritzen von den Amis gäbe es dann auch nicht. Diese Passagen muss Dotzauer ignoriert haben, denn er befand unbeirrt: „Die Einzigartigkeit des Holocaust wird ebenso ausdrücklich anerkannt wie die Notwendigkeit, jede Form des Antisemitismus zu bekämpfen“, und zwar „nicht zuletzt durch militärisches Knowhow“. Im Manifest steht jedoch das genaue Gegenteil.

Eitel Freude herrschte bei der Generaldelegation Palästinas in der Bundesrepublik Deutschland über die Initiative der Politikwissenschaftler, „eine falsch verstandene Rücksichtnahme gegenüber israelischer Politik“ abzulehnen: „Die Auswirkungen der Shoa hätten auch viel Leid über die Palästinenser gebracht.“ Doch den ultimativen Kommentar zu dem Pamphlet hatte der staatliche Hörfunk- und Fernsehsender des Iran, IRIB, auf seiner deutschen Website zu bieten, denn er war letztlich das einzige Medium im deutschsprachigen Raum, das das Manifest richtig verstanden hatte: „Tabu des Holocausts in Europa ist gebrochen“, traf der Titel des entsprechenden Beitrags ins Schwarze, und auch der Kontext des Aufrufs wurde unzweideutig benannt: „Wegen der Holocaust-Leugnung steht Germar Rudolf seit Dienstag vor dem Mannheimer Landesgericht. Das Urteil wird im Januar 2007 erwartet. Nach dem Auftakt des Prozesses bezeichneten 25 Experten und Dozenten für politische Wissenschaft in einer Erklärung die Kritik an Israel als erlaubt und gaben bekannt, dass der Holocaust den Palästinensern ein 60-jähriges Leid angetan hat, welches unerträglich zunimmt.“

Die Hörfunkpropagandisten der Mullahs haben völlig Recht: Warum sollte ein ausgewiesener Rechtsextremist für ein Anliegen verurteilt werden, das fünfundzwanzig Hochschullehrern eine Dokumentation in einer großen deutschen Tageszeitung ermöglicht hat? Ergo hieß es weiter: „Der Zweifel am Massenmord an den Juden während des Zweiten Weltkrieges hat in den meisten europäischen Ländern eine Haft- bzw. Geldstrafe zur Folge. Aus diesem Grund ist in der Erklärung der deutschen Dozenten, bevor auf die Frage des Holocausts an sich eingegangen wird, die Ausnutzung des Holocaust durch das zionistische Regime und die Politik der Bundesregierung in Bezug auf die aggressiven Maßnahmen der Zionisten in den besetzten Palästinensergebieten und im Libanon kritisiert worden.“ Diese Kumpanei haben sich die Politologen redlich verdient – für ihren Versuch nämlich, „sich einerseits von der Strafe eines Zweifels über den Holocaust zu befreien und anderseits ihre Kritik am Holocaust zur Sprache zu bringen“. Denn: „Hauptsache ist, dass das Tabu des Holocausts in Europa gebrochen [wurde]. Diese Frage fordert nun die europäischen Regierungen heraus.“ Und nichts anderes hatten die Kapazitäten von Johannes Becker über Georg Meggle bis zu Udo Steinbach schließlich bezweckt.

Die beste Headline eines Beitrags zu dem „Manifest der 25“ stammt jedoch von Eldad Beck, dessen Artikel in den Ynetnews mit „Deutsche Akademiker: Genug der Sonderbehandlung für Israel“ überschrieben war. Der Begriff „Sonderbehandlung“ war einer der Euphemismen der Nationalsozialisten für den Massenmord insbesondere an den Juden. Ihn gegen die deutschen und österreichischen Politikwissenschaftler gewendet zu haben – die der Ansicht sind, die „besonderen Beziehungen“ Deutschlands zu Israel müssten einer Hinwendung zu den wirklichen Opfern der Shoa, den Palästinensern nämlich, weichen –, verdient höchsten Respekt.

Hattip: Karl Pfeifer

16.11.06

Das Odeur der Politologik

Ja, Achtundsechzig, da war noch richtig was los. „Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“ – mit diesem nachgerade lyrischen Slogan zog der akademische Nachwuchs seinerzeit gegen die universitären Autoritäten zu Felde, die es an deutschen Hochschulen weiterhin recht bequem hatten, weil sie nie für ihren Anteil an Judenmord und Vernichtungskrieg zur Rechenschaft, geschweige denn zur Verantwortung gezogen worden waren. Inzwischen geht es an den weiterführenden Bildungseinrichtungen weit gemächlicher zu, und die bunten Röcke werden von den Professoren gewöhnlich nur noch anlässlich der „Eröffnung des akademischen Jahres“ getragen, auf die man in einigen sich elitär dünkenden Lehranstalten noch gewissen Wert legt, sowie von manchen Absolventen, die den Mummenschanz für einen Stoff gewordenen Beweis ihrer Doktorwürde halten. Grund, mal wieder auf die Barrikaden zu gehen, gäbe es gleichwohl genug – und dabei könnte man sogar das Transparent mit dem eingangs zitierten Reim noch einmal entmotten.

Denn der „Muff von tausend Jahren“ weht immer noch oder doch zumindest immer wieder mal durch die Gänge der Hörsäle und Studienräume, und manchmal entsteigt er auch der Druckerschwärze einer überregionalen Tageszeitung, wie gestern beispielsweise, als die Frankfurter Rundschau das Manifest der 25“ bringen zu sollen meinte – das Werk einer nämlichen Zahl deutscher Politologen, die sich unter der Losung „Freundschaft und Kritik“ darüber auslassen, „warum die ‚besonderen Beziehungen’ zwischen Deutschland und Israel überdacht werden müssen“. Das Papier hat dabei alles zu bieten, was den modernen Antizionismus ausmacht, sowohl hinsichtlich seines Duktus’ als auch in Bezug auf die Ideologeme, die es bedient. Es Satz für Satz zu prüfen und zu kommentieren, müsste im Grunde genommen das Anliegen von Immatrikulierten und Gelehrten sein, die aufgehört haben zu studieren respektive zu forschen und sich dafür ans Denken gemacht haben – was nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als dass diese Aufgabe im akademischen Bereich mutmaßlich unerledigt bleiben wird. Dabei böte das Manifest Stoff für ein ganzes Hauptseminar oder notfalls zumindest für ein Teach-in.

Beginnend mit einem Zitat der israelischen Außenministerin Tzipi Livni, die die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland als „besondere“ und „freundschaftliche“ qualifizierte, begeben sich die Autoren zunächst an eine Bestandsaufnahme: Dieses Besondere sei „auf der deutschen Seite“ durch die „Ungeheuerlichkeit des Holocaust“ und durch die „prekäre Lage Israels“ gekennzeichnet, woraus man hierzulande folgere, sich uneingeschränkt für Existenz und Wohlergehen dieses Landes und seiner Bevölkerung einzusetzen, unter anderem durch Lieferung von staatlich geförderter hochwertiger Waffentechnologie auch dann, wenn Israel gegen internationales Recht und die Menschenrechte verstößt und sich im Kriegszustand befindet“. Das finden friedensbewegte Politologen schon schlimm genug, aber für noch ärger halten sie qua Profession dies: „Kritik an israelischen Handlungsweisen sollte, wenn überhaupt, nur äußerst verhalten geäußert werden und besser unterbleiben, solange die Existenz dieses Landes nicht definitiv gesichert ist.“ Bereits bei der Inventur gelingt es den Damen und Herren Politikwissenschaftlern also, die Bilanz zu fälschen – denn keine Zeitungslektüre, kein Studium von Umfragen und noch nicht einmal die allabendliche Stunde vor der Glotze lehrt sie, dass sie und ihre Landsleute in Bezug auf den jüdischen Staat längst ungehemmt nach dem Motto verfahren: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Und deshalb „diskutieren“ die Buchhalter im Folgenden auch nicht die selbst gestellten „drei Fragen“, weil es sich – ein beliebtes akademisches Spielchen – ohnehin nur um rhetorische handelt, deren Antworten natürlich längst feststehen:
„1. Ist es angemessen und sinnvoll, die ‚freundschaftliche Beziehung’ – und das soll sie nach Auffassung der Autoren bleiben – weiterhin als ‚besondere’ im angedeuteten Sinne zu pflegen? 2. Steht Deutschland aufgrund des Holocaust wirklich nur bei Israel in der Pflicht im Nahen Osten? 3. Und was bedeutet es für den binnendeutschen Diskurs, für die Beziehungen zwischen nicht-jüdischen, jüdischen und muslimischen Deutschen, wenn diese beiden Fragen ernsthaft gestellt werden?“
Bevor sie zur Tat schreiten, warten die Verfasser noch mit einer Art Disclaimer auf: Es stehe selbstverständlich „nicht in Frage“, dass „angesichts der weltweit historischen Einzigartigkeit des Holocaust das Verhältnis der nicht-jüdischen Deutschen zu Juden, zu allen, die sich als solche verstehen, ein einmaliges ist, das von besonderer Zurückhaltung und besonderer Sensibilität geprägt sein muss“ – man hat schließlich nichts gegen Juden und zählt sogar welche zu seinen besten Freunden, auch wenn die manchmal ein bisschen empfindlich sind –, „und dass uns nichts von der Verpflichtung entbinden kann“ – auch wenn das manchmal ganz praktisch wäre, weil derlei Obligationen ganz schön anstrengend sein können –, „dem religiösen Antijudaismus und dem ethnisch oder/und rassistisch motivierten Antisemitismus entschieden entgegenzutreten, wo immer er auftritt“. Geschafft – damit wären der islamistische Judenhass und der linke Antise
mitismus schon mal außen vor; schließlich sind beides nur Erfindungen von Rassisten respektive Kommunistenfressern.

Also nichts wie rein ins Getümmel, und zwar mit Kopfsprung: „Auf der zwischenmenschlichen Ebene gilt zweifellos: Eine tragfähige Freundschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Freunde oder Freundinnen einander aus Sorge um das Wohlergehen des anderen auch vor Fehlern, Fehlentscheidungen und Fehlhaltungen warnen.“ Neu ist diese Masche zwar nicht, aber immer noch der letzte Schrei der „Israel-Kritiker“: Wer sich selbst für einen „Freund“ hält, kann niemals Böses im Schilde führen, sondern meint es stets nur gut und will „zu seinem oder ihrem (auch geistigen und moralischen) Wohlergehen“ beitragen, weil sich „die Freundschaft dadurch weiter vertiefen“ wird. Und das auch dann, „wenn einer der beiden dem Anderen gegenüber eine tiefe und zurückliegende Schuld abzutragen hat“. Zeit heilt schließlich alle Wunden. Und deshalb hätte die israelische Regierung ihre tragfähigen deutschen Freunde vor dem Krieg gegen die Hizbollah besser mal „über ihre geplanten Reaktionen informiert“ – als da aus politologischer Sicht waren:
„Zerstörung eines Großteils der Infrastruktur des Libanon inkl. der Wasser-, Elektrizitäts- und Ölversorgung sowie des Tourismus durch einen Ölteppich vor der Küste, Vertreibung der Bevölkerung aus dem Südlibanon, bewusste Inkaufnahme hoher ziviler Opfer, um wenigstens eine militärische Schwächung – wenn schon nicht eine Entwaffnung – der Hizbollah zu erreichen, Verweigerung humanitärer Korridore zur Versorgung derjenigen, die nicht fliehen konnten, vollständige Zerstörung der Schiitenviertel in den libanesischen Städten, wochenlange Blockade der Küste und der Flughäfen und Einsatz von Streubomben.“
Ganz schön lang, das Sündenregister; fast ist man bei den Manifestlern geneigt, die Freundschaft auf eine harte Probe gestellt zu sehen. Aber bevor es so weit kommt, ermahnen sie den Kumpel ein letztes Mal zuvorkommend und stehen ihm mit Rat und Tat zur Seite: „Vielleicht wäre es der deutschen Regierung eher als der israelischen möglich gewesen, die katastrophalen weltweiten Folgen einer solchen ‚massiven Vergeltung’ nach dem Prinzip der Kollektivhaftung einzuschätzen?“ Nach Auschwitz weiß man schließlich gerade als Deutscher, wo der Bartel den Most holt, sprich: was Sippenhaftung – dieses Wort hat man aus lauter Rücksichtnahme höflich vermieden – bedeutet. Schade also um die vertane Chance, schade darum, „was ‚Freundschaft’ in einem solchen Falle auch hätte bedeuten können“, wenn sie nicht „weiterhin als ‚besondere’ im eingangs bezeichneten Sinne verstanden“ worden wäre. Denn: „Befreit man sich von dieser Vorstellung, liegt es auf der Hand, dass es sowohl für Israel als auch für Deutschland von Vorteil wäre, eine belastungsfähige Freundschaft zu entwickeln, in der auch Kritik in unterstützender, nicht abwertender Absicht ihren Platz hat.“ Noch einmal schade also – schade, dass die Shoa immer noch eine Belastung für eine „belastungsfähige Freundschaft“ ist, die Befreiung der Deutschen verhindert und überdies „auch das Verhältnis Israels zur EU, zu den USA usw.“ nicht verändert, obwohl das doch „in keinem dieser Fälle zum Schaden der Beteiligten sein würde“.

Und damit zur „deutschen Verantwortung gegenüber Palästina“; schließlich gibt es „eine viel zu selten bedachte Seite der Holocaust-Folgen“: Bis die Nazis kamen, strömten nur 160.000 Juden nach Palästina, und die waren noch nett und freundlich zu den Autochthonen. „Erst durch die früh erkennbare radikale Bedrohung der Juden im nationalsozialistischen Einflussbereich“ so heißt eliminatorischer Antisemitis
mus auf Politologisch – „kam es zu einer die Balance mit den Arabern gefährdenden Masseneinwanderung“, und man ahnt schon, was folgt: „Es ist der Holocaust, der das seit sechs Jahrzehnten anhaltende und gegenwärtig bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Leid über die (muslimischen wie christlichen und drusischen) Palästinenser gebracht hat.“ Es ist müßig, die Hochschullehrer daran zu erinnern, dass die Nazis die Shoa auch im damaligen Palästina ins Werk setzen wollten und dafür tatkräftige Unterstützung erhielten, weil der Antisemitismus bereits lange vor dem Zweiten Weltkrieg im Nahen Osten angekommen war. Denn die Palästinenser sollen nicht nur die Juden von heute, sondern auch die von gestern sein, die eigentlichen Opfer der Shoa nämlich; schließlich dauerte das Tausendjährige Reich nur zwölf Jahre, aber Israel gibt es schon fast fünf Mal so lange. Starker Tobak? Mitnichten. Zwar ist es bedauerlicherweise „nicht dasselbe, als hätte das Dritte Reich einen Völkermord an den Palästinensern verübt“, immerhin jedoch das Gleiche: „Aber zahllose Tote waren auch hier die Folge, das Auseinanderreißen der Familien, die Vertreibung oder das Hausen in Notquartieren bis auf den heutigen Tag.“

Noch einmal zur Erinnerung: Zu Beginn des Papiers war von der „weltweit historischen Einzigartigkeit des Holocaust“ die Rede. Aber das war vielleicht ganz anders gemeint, nämlich eher so: „Ohne den Holocaust an den Juden würde die israelische Politik sich nicht berechtigt oder/und gezwungen sehen, sich so hartnäckig über die Menschenrechte der Palästinenser und der Bewohner Libanons hinwegzusetzen, um seine Existenz zu sichern.“ So sieht echter Antifaschismus aus! Doch damit nicht genug: „Ohne den Holocaust erhielte Israel dafür nicht die materielle und politische Rückendeckung der USA, wie sie sich v.a. seit den neunziger Jahren entwickelt hat. (Die amerikanische Finanzhilfe an Israel beläuft sich auf 3 Mrd. US-Dollar jährlich und entspricht damit 20 Prozent der gesamten Auslandsfinanzhilfe der USA.)“ Und schließlich: „Die palästinensische Bevölkerung hat an der Auslagerung eines Teils der europäischen Probleme in den Nahen Osten nicht den geringsten Anteil.“ Das liest sich nicht nur so, als sei es direkt bei Mahmud Ahmadinedjad abgeschrieben, das ist exakt seine Vision von einer „World without Zionism“, übersetzt von einem Haufen antiimperialistischer Seminarverwalter, die „als Deutsche, Österreicher und Europäer“ glauben, „auch eine Mitverantwortung für die Lebensbedingungen und eine selbstbestimmte Zukunft des palästinensischen Volkes“ einklagen zu sollen, „nachdem die Geschichte nun einmal diesen Gang genommen“, sprich: den kleinen Satan Israel hervorgebracht hat.

Und „mit Geldtransfer allein ist es jedenfalls nicht getan“ – her muss „ein ökonomisch lebensfähiges Palästina mit ungehinderter Bewegungsfreiheit zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland [...], kein Staat zweiter Klasse, kein Hom
eland, kein zerstückeltes Bantustan“. Das wiederum könnte direkt aus der Feder der Hamas stammen, doch die Politologen wären keine Deutschen (respektive Österreicher und Europäer), wenn sie nicht auch diesem Vorwurf präventiv entgegentreten und dabei eindrucksvoll unter Beweis stellen würden, dass sie ihre Hätschelkinder als unmündige Lebewesen betrachten, die man für nichts verantwortlich machen kann: „Klar ist auch, dass jede Anstrengung unternommen werden muss, um den Anreiz für Palästinenser zu verringern, sich an mörderischen Attentaten und Raketenangriffen auf israelische Zivilisten zu beteiligen bzw. den Anreiz zu erhöhen, sich an konstruktiver Aufbauarbeit zu beteiligen.“ Derlei „Anstrengung“ und „Anreiz“ hätten die Friedensfreunde bereits im einseitigen Rückzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen erkennen können, doch sie ficht weder das noch die Tatsache an, dass palästinensische Terrororganisationen zum Dank seitdem mehr als 1.000 Kassam-Raketen auf Städte in Israel geschossen haben – und weiter aufrüsten. Lieber appellieren die Urheber des Manifests an das richtige Verständnis der Religion des Friedens: „Europäische Muslime könnten mit entsprechender Unterstützung dazu beitragen, dass auch in Palästina diejenigen islamischen Grundwerte mehr Aufmerksamkeit finden, die den Selbstmordattentaten, die ja nicht von Muslimen erfunden wurden, entgegenstehen, und dass islamische Vorbilder gewaltfreien Widerstands gegen staatliches Unrecht bekannt und anerkannt werden.“ Gesucht wird also eine Art muslimischer Gandhi – viel Glück auch!

Was folgt, ist das nicht nur in Politologenkreisen obligatorische Plädoyer für eine Äquidistanz, die so wenig originell wie mörderisch ist: „Nicht nur die militaristischen Gruppen der Palästinenser und die Hizbollah haben mit ihren Raketenangriffen und den fortgesetzten Selbstmordattentaten den Geist von Oslo zerstört; die völkerrechtswidrige Fortsetzung und der massive Ausbau der israelischen Siedlung
spolitik in den besetzten Gebieten seit 1993, dem Zeitpunkt des Oslo-Abkommens, die willkürliche Zerstörung von Häusern, Gärten, Olivenhainen, Infrastruktur, die täglichen Demütigungen der Palästinenser und schließlich die de facto-Annektion von etwa 10 Prozent des Westjordanlandes mittels einer ‚Zaun’ genannten, in Teilen acht Meter hohen Mauer hatten die gleiche fatale Wirkung“ – bereits die Tatsache, dass das angebliche „israelische Unrecht“ weit mehr Raum beansprucht als der zur „Zerstörung des Geistes von Oslo“ verniedlichte Judenmord, unterstreicht, dass es nicht um einen gleich großen Abstand zu beiden Seiten geht – was schon fatal genug wäre –, sondern um eine unzweideutige Schuldzuweisung an Israel. Der Lösungsvorschlag kommt daher einer Drohung gleich: „Deutsche Politik könnte hier, wenn sie sich als freundschaftlich nach beiden Seiten versteht, einen Beitrag leisten.“

Und so geht der Sermon schier endlos weiter: Antisemitismus sei zwar weiterhin auch „im Mainstream der deutschen Bevölkerung“ zu finden – zu dem sich die Autoren offenbar nicht zählen, obwohl sie sich in ihm bewegen wie Maos Fisch im Wasser –, doch genauso verurteilungswürdig sei der „problematische Philosemitismus“, weil „die bloße Umkehrung eines starren, gegen die Realität abgeschotteten Feindbildes letztlich nur dasselbe mit umgekehrten Vorzeichen ergibt und ebenfalls gegen die Realität und jedes differenzierte Urteil immunisiert“. Die Politikwissenschaftler schrecken in diesem Zusammenhang nicht einmal davor zurück, Adornos Ausführungen zur Ticketmentalität für sich zu reklamieren, um schließlich den Schluss zu ziehen: „Zusammen mit dem eingangs erwähnten unausgesprochenen Verbot offener Kritik an israelischen Entscheidungen stärkt der Philosemitismus in Deutschland den Antisemitismus eher als dass er ihn schwächt.“ Was diese Schreibkünstler unter „Philosemitismus“ verstehen – nämlich die allemal gebotene Parteinahme für den jüdischen Staat –, ist in Deutschland genauso wenig nachzuweisen wie ein „unausgesprochenes (!) Verbot offener Kritik an israelischen Entscheidungen“, weshalb zwangsläufig jeder Beleg für seine Existenz unterbleibt. Nichtsdestotrotz soll er den Antisemitismus „eher stärken“, was nicht weniger heißt, als dass die Juden es – einmal mehr – selbst schuld sind, wenn sie um ihr Leben fürchten müssen.

Wer oder was hilft also in der Not? Dies: „sich vorzustellen, wie in der gegenwärtigen Situation wohl die vielen Intellektuellen, Schriftsteller, Künstler und Musiker jüdischer Herkunft von Adorno über Einstein, Freud und Marx bis zu Zweig reagiert hätten“ – tote Juden also, mit denen man im Unterschied zu den lebenden nicht nur kein Problem hat, weil sie sich nicht mehr wehren können, sondern „auf die wir so stolz sind und ohne die die deutsche Kultur und der deutsche Beitrag zur Wissenschaft um so vieles ärmer wären“. Der Publizist Eike Geisel hatte schon zu Beginn der 1990er Jahre in seinem Buch „Die Banalität der Guten“ das Nötige zu dieser deutschen Klage über den Verlust durch die Austreibung und Ermordung der Juden gesagt: „[Sie] ist nicht ernst gemeint. Es handelt sich dabei um eine weinerliche Selbstbezogenheit, nicht um Trauer über andere, sondern um Mitleid mit der eigenen Banalität, kurz: um die Behauptung, die Deutschen hätten sich mit ihren Verbrechen selbst etwas angetan. [...] [Sie versichern] sich in einer Art posthumer Familienzusammenführung, dass sie selbst den Verlust eines berühmten Onkels oder einer wohlhabenden Tante zu beklagen hätten.“ Nicht nur deshalb würden sich die Genannten von Adorno bis Zweig mit Grausen wenden, könnten sie diese Zeilen ihrer selbst ernannten Erbverwalter noch vernehmen: „Wir sind überzeugt, dass sie den folgenden Satz unterschreiben würden: Nur Gleichheit und Respekt vor Recht und Völkerrecht können ein friedliches Zusammenleben gewährleisten und sind die einzigen Garanten für eine dauerhafte Existenz des Staates Israel und des zukünftigen Staates Palästina in Sicherheit – und für die Sicherheit von Juden und Jüdinnen bei uns und in aller Welt.“

Nichts zeigt die ganze Erbärmlichkeit geisteswissenschaftlichen Schaffens in Deutschland deutlicher als dieses Manifest, das in eine nicht ganz unwichtige sozialdemokratische Tageszeitung gehievt wurde und – so steht zu befürchten – konstruktive Diskussionen anstoßen soll. Seinen Kulminationspunkt erreicht es im Schlusssatz: „Das Eintreten für die Menschenrechte, wo und durch wen immer sie verletzt werden, sind wir den Opfern des Nationalsozialismus schuldig.“ Es ist der alte Wein in inzwischen auch nicht mehr ganz so neuen Schläuchen, der hier verköstigt wird; es ist ein modernisierter Antisemitismus, der via Antizionismus bei der „legitimen Israel-Kritik“ und den „Menschenrechten“ gelandet ist – nicht trotz, sondern gerade wegen Auschwitz – und der doch seine Herkunft nicht verleugnen kann; es ist der „Muff von tausend Jahren“, dessen Odeur längst auch von Akademikern verströmt wird, die dereinst angetreten waren, es mitsamt der Talare zu entsorgen, und die doch nur nicht minder streng Riechendes zu produzieren imstande sind. Studentischer Protest wird sich dagegen allerdings kaum regen. Studiengebühren sind schließlich schlimmer.

Hattips: barbarashm, Clemens Heni

14.11.06

Radio gaga

In Deutschland gilt Streit grundsätzlich als etwas Schlechtes. Denn Streit bedeutet eine Störung der Harmonie und eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens. Das Verfolgen eigener Interessen gilt als zutiefst suspekt, weil es Konflikte bedeutet: Egoismus und das Bilden von Lobbys oder pressure groups sind daher verdächtig, wo nicht verpönt. Die „Einigkeit“, die neben dem „Recht“ und der „Freiheit“ in der Nationalhymne als „für das deutsche Vaterland“ erstrebenswert besungen wird, meint nicht nur eine geografisch-ökonomische, sondern auch eine politische, die Antagonismen miteinander zu versöhnen trachtet, Kontroversen als Schwächung begreift und denjenigen, die man im Verdacht hat, sich dem großen Ganzen zu verweigern, mit einiger Unversöhnlichkeit begegnet, wenn sie als nicht integrationsfähig gelten. Nicht zufällig haben sich deshalb die beiden größten deutschen Parteien das Präfix „Volks-“ gegönnt, um zumindest qua Programm gar nicht erst den Eindruck zu erwecken, so etwas wie Klientelpolitik zu betreiben. Wer in Deutschland auf dem Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse besteht, setzt sich unweigerlich dem Verdacht aus, ein Spalter zu sein und die Dinge nicht, wie es sich gehört, um ihrer selbst willen zu tun. Das Gemeinwohl gilt als unverzichtbarer Bestandteil jeder politischen Kraft, die Ernsthaftigkeit beansprucht, und wehe dem, der es wagt, dieses Ideologem ein solches zu nennen und es der Verwandtschaft zur Volksgemeinschaft zu zeihen.

Mit besonderes großem Befremden – um es zurückhaltend zu formulieren – reagiert man hierzulande, wenn sich Menschen in die Haare geraten, die man zwar gewiss nicht zum inner circle zählt, von denen man jedoch immer angenommen hat, dass „sie“ sich Differenzen eigentlich nicht leisten können dürften, dass „sie“ aus Schaden klug geworden sein müssten oder dass „sie“ aus anderen Gründen eine Gesamtheit zu bilden hätten. Stets suggeriert das „sie“ dabei eine Einheit, die es zwar nie gab, die Deutsche jedoch in ihrem, scheint’s, unverbesserlichen und unnachahmlichen Drang, die Menschheit in Kollektive mit weitgehend uniformen und unabänderlichen Eigenschaften zu sortieren, als gleichsam naturgegeben voraussetzen: „die Ausländer“ gehören dazu – die ungeachtet ihrer sozialen, politischen und geografischen Herkunft als homogene Masse erfasst werden –, und natürlich auch „die Juden“, die man bis zur Explizierung des Gegenteils prinzipiell für alles haftbar macht, was man im einzelnen wie im Ganzen an Israel auszusetzen hat und die man jedenfalls als unverbrüchliche Entität wahrnimmt, als die sie seinerzeit durch die Nürnberger Rassegesetze erst definiert wurden.

Ein anschauliches Beispiel dafür bot just gestern eine Sendung des Deutschlandfunks, die sich mit den Geschehnissen während einer Podiumsdiskussion im Rahmen des XIII. Else-Lasker-Schüler-Forums in Zürich Ende Oktober befasste. Zur Erinnerung: Knapp 200 Antizionisten hatten mit einem Aufruf versucht, die Teilnahme des Publizisten Henryk M. Broder an dieser Veranstaltung mit dem Titel „Die ewige Lust an den Tätern“ zu verhindern, und zu diesem Behufe den Organisator Hajo Jahn zusätzlich mit E-Mails und Anrufen unter Druck gesetzt. Da Jahn standhaft blieb und sich gegen derlei Anmaßung verwahrte, blieb Broders Gegnern nichts anderes übrig, als ein paar Delegierte in die Schweiz zu entsenden, um die Debatte nach Kräften zu stören. Auszüge dieser an Peinlichkeit kaum zu überbietenden Performance brachte der Sender in einer hörenswerten Form zunächst recht bald, doch dabei durfte es offenbar nicht bleiben, weshalb sich „Kultur heute“ der Causa annahm: „Streit unter Brüdern“ lautete der Titel des Beitrags eines gewissen Kersten Knipp, und die „Brüder“, das waren für ihn „deutsche Juden“, unter denen sich „ein Zwist entwickelt hat“.

Da staunt der Fachmann, und der Wunde laiert sich: Kann, nein: darf es unter Juden, deutschen zumal, nach Auschwitz tatsächlich Streit geben? Sollte nicht vielmehr gemeinsam „über Erinnerungskultur und Nationalsozialismus diskutiert werden“, also über ein Anliegen, das doch, bitteschön, im eigenen Interesse größtmögliche Einigkeit erfordert? Wie auch immer: „Es kam zum Eklat“, weil „deutsche Juden“ sich stritten. Und da ließ der DLF-Kommentator gerne den O-Ton für sich sprechen:
Evelyn Hecht-Galinski: „Mein Name ist Evelyn Hecht-Galinski, ich bin die Tochter des ehemaligen Zentralratsvorsitzenden Heinz …“
Henryk M. Broder: „Ja, und das ist auch schon alles, was Sie sind: die Tochter!“
Georg Kreisler: „Wer sind denn Sie, Herr Broder? Sie sind auch ein Sohn von irgendjemand!“
Evelyn Hecht-Galinski: „Sie sind ein Immigrant, den hier keiner in Deutschland eigentlich haben wollte.“
Das, was Knipp einleitend als Dokumentation verkaufen wollte, war nichts anderes als purer Voyeurismus: Sind sie nicht peinlich, die „deutschen Juden“? Sich so kleinkariert zu zoffen bei der Diskussion über eine Sache, die ihren Vorfahren Tod und Verderben beschert hat? Doch dann griff er ein, der deutsche Radiomann: „Ein Immigrant, den man hier nicht haben will. Ein harter Ausspruch, formuliert von Evelyn Hecht-Galinski, der Tochter des ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden“ – die tatsächlich nichts anderes für ihren Auftritt qualifizierte als ihre verwandtschaftlichen Beziehungen, denn weitere biografische Eckpunkte wollte oder konnte sie nicht zu Protokoll geben –, „die sich allerdings auf Broders kurz zuvor gehaltenes Plädoyer für eine Einwanderungspolitik bezog, die solche Immigranten ins Land holt, die dem Bedürfnis der Volkswirtschaft entsprechen“. Das Wörtchen „allerdings“ fungierte hier als Legitimation einer Stellungnahme, die jedem Neonazi zur Ehre gereichen würde: Dass Broder (Foto) seine Vorstellungen von Immigration an Bedingungen knüpfte, die normalerweise auch im Deutschlandfunk als common sense durchgehen, machte ihn zur persona non grata – auch nach Ansicht des Radiosenders. Doch im Grunde genommen sei es um etwas anderes gegangen: „Im Hintergrund der Beleidigungen stand aber der Streit um die Teilnahme der Rechtsanwältin Felicia Langer, die sich in Israel für die Belange der Palästinenser engagiert hatte und die man erst eingeladen, dann wieder ausgeladen hatte. Dagegen und gegen die Teilnahme Henryk M. Broders hatte sich eine Protestaktion gebildet, der sich auch Frau Hecht-Galinski anschloss.“

Dafür, dass Felicia Langer – deren penetranter Antizionismus hier typisch deutsch als „Engagement für die Belange der Palästinenser“ daherkommt – ausgeladen wurde, konnte Broder genauso wenig wie für seine ersatzweise Einladung, doch Evelyn Hecht-Galinski witterte eine Verschwörung: „Frau Langer wurde unter fadenscheinigen, falschen Argumenten ausgeladen und gegen einen bekennenden Islamophoben“ – das ist der schlimmste Vorwurf, den man in Deutschland derzeit erheben kann –, „nämlich Henryk Broder, ausgetauscht.“ Der Deutschlandfunk-Kommentator Kersten Knipp hielt sich gleichwohl genüsslich raus aus der Sache und stellte vordergründig Aussage gegen Aussage – Organisator Jahn widersprach Hecht-Galinski, Broder bezeichnete den Aufruf gegen seine Teilnahme als „psychopathologisches Phänomen“, Hecht-Galinski bezichtigte Broder der „Beleidigungen und persönlichen Diffamierungen“ und unterstellte den Veranstaltern, die „Themen dieser Tagung auf Broder zugeschnitten“ zu haben, Jahn hielt erneut dagegen –, bevor er besorgt anmerkte: „Doch auch das eigentliche Thema, der angemessene Umgang mit der NS-Zeit, sorgte für Streit“ – was bekanntlich nicht sein darf, weshalb sein Resümee lautete: „In Zürich trafen rätselhafte Energien aufeinander und verwandelten eine ernst gemeinte Veranstaltung am Ende zur leidenschaftlich ausgetragenen Posse.“

„Rätselhafte Energien“ sorgten also für eine „leidenschaftlich ausgetragenen Posse“ – man versteht sie nicht recht, diese Juden, die sich noch dann närrisch zanken, wenn es um im Wortsinne todernste Dinge geht, die jedem guten Deutschen die Sorgenfalten auf die Stirn treiben. Dabei müsste es bei jedem von ihnen doch im Grunde genommen so aussehen, wie sich nicht nur der Deutschlandfunk einen „Blick in ein jüdisches Wohnhaus“ vorstellt: friedlich-kitschig, traditionell und irgendwie ein bisschen weltfern. Die Vergangenheitsbewältigung überlässt man deshalb besser den Deutschen. Die streiten wenigstens nicht darüber.

Hattip: barbarashm