Tag der deutschen Heimat

Am 8. März dieses Jahres hatte sich die Intendantin des jährlichen Weimarer Festivals, Nike Wagner – eine Urenkelin von Richard Wagner –, mit der Bitte an Schäfer gewandt, das „rituell (!) wiederkehrende Gedenk-Konzert“ im August „rhetorisch einzuleiten“. Für diese Aufgabe qualifiziere ihn, so Wagner, „vor allem“ die von ihm verantwortete Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ im Bonner Haus der Geschichte. Wörtlich heißt es in der Einladung: „Es wäre dem Kunstfest Weimar eine große Ehre, wenn Sie, verehrter Herr Prof. Schäfer, im Jahr 2006 diese Funktion übernehmen würden. Flucht und Vertreibung – Vertreibung und Vernichtung – markieren auch heute noch die Schicksale von Millionen Menschen. Wir müssen uns weiterhin diesem Thema stellen. Geschichte durchdringt die Gegenwart.“ Aus diesen Zeilen ist nicht herauszulesen, dass Schäfer speziell Bezug auf den Nationalsozialismus nehmen sollte; ganz im Gegenteil verliert sich die Themenstellung im diffusen Gegenwartsbezug eines „auch heute noch“ und „Geschichte durchdringt die Gegenwart“. Woran dachte Nike Wagner also? An Jugoslawien? An Ruanda? An die Palästinenser?
Volkhard Knigge, der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, war im Vorjahr die Aufgabe zugekommen, das Kunstfest „rhetorisch einzuleiten“; eine „fabelhafte Rede“ habe er gehalten, befand die Geschäftsführerin der Festspiele, Franziska Gräfin zu Castell-Castell. Knigge hatte sich seinerzeit nicht lange mit der Vorrede aufgehalten: „Ich will hier und heute nicht über Gräuel und Leid sprechen. Die von Deutschen zu verantwortenden Gräuel und das von Deutschen verursachte Leid sind ausführlich beschrieben worden. Gräuel und Leid setze ich deshalb als bekannt voraus“, hatte er sich konkretere Ausführungen gespart, sodann darauf verwiesen, dass die deutsche Geschichte nicht nur Schattenseiten gehabt habe – „Zum Äußersten gehört, dass Weimar und Buchenwald keine Gegensätze sind, sondern einander ergänzende ‚Kultureinrichtungen’“ –, und schließlich von der „entfesselten Weltmarktlogik“ schwadroniert, die „die Lebenslage von immer mehr Menschen“ heute fast so „prekär“ mache wie einst im Lager. Niemand nahm Anstoß an diesen NS-Verharmlosungen – im Gegenteil.
Ob Schäfer Knigges Ansprache kannte, ist nicht überliefert; er beteuerte hernach jedoch, ihm sei versichert worden, dass es bei der Veranstaltung „Gedenken Buchenwald“ ganz „allgemein um Erinnerungskultur“ gehe. „Bei dem Rahmenprogramm zur Eröffnung der Weimarer Festspiele habe ich mich mit meiner Rede thematisch genau an die Vorgaben der Leiterin der Festspiele, Nike Wagner, gehalten“, sagte er – und hatte damit Recht. Dennoch entschuldige er sich; es liege ihm fern, Opfer des Nationalsozialismus zu relativieren: „Ich hätte sie stärker in die Rede einbinden können, und ich hätte es wahrscheinlich auch tun müssen.“ Er habe nicht gewusst, dass in den ersten Reihen der Veranstaltung „auch KZ-Opfer sitzen“. Um nicht missverstanden zu werden: Das letztgenannte Argument ist selbstverständlich keines; auch wenn kein einziger Überlebender des nationalsozialistischen Terrors der Rede beigewohnt hätte, wäre sie nicht besser gewesen. Aber darum geht es letztlich gar nicht; vielmehr fällt der Skandal auf die Verantwortlichen des Kunstfestes selbst – zuvörderst Nike Wagner – zurück, die Schäfers Einladung zu verantworten hatten und die gewusst haben müssen, wen sie da als Redner einladen: Der Historiker Hermann Schäfer ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen des Bundes der Vertriebenen (BdV); er war Präsident der Bonner Stiftung Haus der Geschichte und zuständig für die Gestaltung der dortigen Ausstellung Flucht, Vertreibung, Integration. Seit Februar dieses Jahres leitet er die Abteilung Kultur und Medien bei Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU).

Es ist also mitnichten der klassische Geschichtsrevisionismus, der sich hier Bahn bricht; auch Schäfer bediente ihn nicht, wie noch zu zeigen sein wird. So gut wie niemand versäumt heute den Hinweis darauf, dass es die Nazis waren, die den Krieg angezettelt und in dessen Gefolge die Vertreibungen ausgelöst haben. Bei diesen Selbstdarstellungen handelt es sich vielmehr um Plädoyers für eine Art Europäisierung des Vertreibungsleids und vor allem für eine Universalisierung der Shoa, die Sören Pünjer bereits vor drei Jahren in der Zeitschrift Bahamas auf die Formel brachte: „Am deutschen Wesen nach Auschwitz soll die Welt genesen.“ Es ist dies der von Pünjer so bezeichnete „Ausdruck einer internalisierten, wahnhaften moralischen Überlegenheit“, die „nicht mehr die Last der Geschichte zum Ausdruck bringt, sondern eine neue Lust auf Geschichte, die sich zum Missionarseifer auswächst, der Welt den deutschen Weg zu einer von instrumenteller Vernunft entkoppelten, scheinbar interesselosen Moral aufzuzeigen“. Man tut als Deutscher die Dinge also immer noch und immer wieder ausschließlich um ihrer selbst willen:
„Die daraus abgeleitete moralische Verantwortung für die Welt gründet auf der Anmaßung des Status des Moralapostels unter den Staaten, der einen berechtige, sich seinem Schicksal nach Auschwitz hinzugeben, einem Schicksal, dem man nicht entfliehen könne. Dieses Schicksal ist zugleich der Auftrag, aus dem internationalen Copyright auf systematische Vernichtung moralischen Profit zu schlagen, sich selbst die Lizenz auf globale Gerechtigkeit auszustellen und mit den Lehren aus Auschwitz als geschützte Markenprodukte ‚Made in Germany’ weltweit hausieren zu gehen. Genau dahin führen notwendig alle Versuche, das Gedenken an die Shoah zu universalisieren. [...] Im Gegensatz zu den USA, in denen das Gedenken an den Holocaust schon seit Jahren das nationale Geschichtsverständnis entscheidend mitprägt, und selbstredend Israel wird weltweit eine federführend von Deutschland ausgehende Entnationalisierung der Lehren aus Auschwitz begrüßt. Es ist alles andere als zufällig, dass die Fürsprecher dieser Universalisierung von Auschwitz von Walser über Finkelstein zu all den islamischen Revisionisten und Holocaustleugnern den Vorwurf erheben, die Shoa werde instrumentalisiert und einerseits von Israel ‚vereinnahmt’, anderseits von den USA ‚amerikanisiert’, was einem Affront gegen das ‚eigentliche’ Gedenken gleich komme.“

Und so ging es weiter und weiter: Ob Empathie mit „Millionen Menschen“ möglich sei, fragte Schäfer – und nannte nicht die ermordeten Juden, sondern die „zwölf bis vierzehn Millionen Deutschen“, die „Vertriebenen“, die „Opfer waren, das können wir heute ohne Scheu sagen“. Auf die der Nationalsozialismus „mit brutaler Konsequenz“ zurückgeschlagen habe. Sören Pünjer hielt bereits 2003 die Motivation solcher Ideologeme fest: „Es geht nicht darum, den Verlauf der Geschichte in Frage zu stellen, und auch nicht darum, zu leugnen, wer angefangen hat und wer nicht. Diskreditiert wird vielmehr das Interesse an dergleichen Unterscheidungen als ein ewiggestriger Anachronismus in einer vom deutschen Versöhnungsgedanken erfüllten Welt. In der soll es nämlich keine ‚einfache’ Unterscheidung von Opfer und Täter mehr geben, weil alle Opfer und Täter zugleich seien.“ Und weil das so ist, brachte Schäfer auch die „Flucht und Vertreibung in Jugoslawien“ zur Sprache, die „viele Deutsche an ihre Geschichte erinnert“ hätten. Denn worum ging es 1999 noch gleich? Richtig: um die Verhinderung von „Konzentrationslagern“ (Rudolf Scharping) und eines „zweiten Auschwitz“ (Joseph Fischer). Um die Universalisierung der Shoa also, auch wenn Schäfer das nicht explizit sagt.
Dafür betonte er umso stärker die „weißen Traditionslinien der deutschen Geschichte“ – die da in Bezug auf den Ort seiner Rede, Weimar, hießen: Goethe, Schiller und die „erste Demokratie“, allesamt „Sternstunden unserer Geschichte“ – gegenüber den „schwarzen“. Diese „hellen Seiten“ seien unabdingbar für „unsere Identität“, die „wir“ in der Erinnerung finden müssten. Und dies auch und gerade in Zeiten der Offenbarung eines Günter Grass, der sich „als junger Mensch freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hat und in der SS gelandet ist.“ Doch „das sind viele andere auch“, und daher „wundert es mich wenig, dass er ein begeisterter Anhänger des Dritten Reiches war“. Denn – und das hat schließlich schon der Papst unlängst in Auschwitz gesagt – „wie viele andere Jugendliche wurde auch er verführt.“ „Schockierend“ sei daher nicht dieser Umstand, sondern nur der, „dass er sich jahrzehntelang an dieses Detail seiner Geschichte nicht erinnern konnte“. Oder wollte. Aber wer will das schon so genau wissen, wenn es darum geht, „gemeinsam die Kraft [zu] finden, uns unserer historischen Verantwortung zu stellen und die schwarzen und die weißen Traditionslinien unserer Geschichte zu vergegenwärtigen“?

Dass Hermann Schäfer seine Rede abbrechen musste, weil er von Teilen des Publikums dazu gezwungen wurde, ist gut. Die Empörung und Fassungslosigkeit der Überlebenden, die keine Lust hatten, sich ihre Biografien denen der Täter gleichstellen zu lassen, führte zu diesem Schritt. Die Aufregung der Wagners (Foto), Knigges, Thierses, Rürups und Griefahns hinwiederum ist wohlfeil: Sie alle sind verantwortlich für die Erinnerungskultur, also die „populäre, konsensheischende Forderung, sich auf eine allgemeine Definition für Vertreibungen weltweit zu einigen, deren Stichwortgeber die Deutschen sind und die notwendig in der heutigen Weltkonstellation nur einen Verlierer kennen wird: Israel. Und einen Gewinner: die zu den Sudetendeutschen des Nahen Ostens aufgenordeten Palästinenser“ (Sören Pünjer). Charlotte Knobloch, die Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, konstatierte in einem Interview mit dem Spiegel eine „absolute Anti-Stimmung gegen Juden“ in Deutschland. Doch die war in Weimar selbstverständlich nicht der Rede wert – wir sind schließlich alle Opfer.