29.9.06

Tour de Farce

Es ist ja durchaus nicht ungewöhnlich, dass UN-Beschlüsse erst einmal nur ein Stück Papier sind, das bekanntlich geduldig ist. Und nicht selten ist das auch gut so – würden alle Resolutionen so umgesetzt, wie ihr Wortlaut es vorsieht, gäbe es den Staat Israel vermutlich längst nicht mehr. Andere Entschließungen wiederum gewähren einen gewissen Spielraum; auch das kann durchaus sinnvoll sein, schließlich lässt sich nicht alles bis ins Detail am Reißbrett entwerfen. Und manche Dekrete sind in der Theorie und noch mehr in der Praxis schlicht eine völlige Farce. Zur letztgenannten Kategorie gehört der Beschluss mit der Nummer 1701, verabschiedet im Zuge des Waffenstillstandes zwischen der Hizbollah und Israel. War schon das, was da auf eitel Bütten niedergeschrieben wurde, eine tragikomische Angelegenheit, erweist sich deren konkrete Umsetzung nachgerade als Realsatire, über die sich jedoch allenfalls bitter lachen lässt.

„UN-Friedenstruppe beklagt Machtlosigkeit“, lautete kürzlich die Schlagzeile einer Internetzeitung, obwohl die UNIFIL, von der hier die Rede ist, doch recht eigentlich als Garant für eine Verbesserung der Situation im Nahen Osten vorgesehen ist und von den sie tragenden und unterstützenden Ländern als conditio sine qua non begriffen wird. Doch „es gibt viele Missverständnisse über das, was wir hier machen“, wird der italienische Kommandeur Stefano Cappellaro zitiert. Die UN-Soldaten dürften beispielsweise keine Kontrollpunkte errichten, keine Autos, Privathäuser oder Geschäftsräume durchsuchen und keine Verdächtigen in Gewahrsam nehmen. Und wenn sie einen Lastwagen beim Raketentransport sähen, seien sie nicht einmal befugt, ihn anzuhalten. Denn zunächst müsse stets die libanesische Armee konsultiert werden; das hatte bereits Alain Pellegrini, französischer Generalmajor und derzeitiger Befehlshaber der Friedenstruppe, angekündigt: „Wir werden zuallererst beobachten. Wenn wir etwas Gefährliches sehen, informieren wir die libanesische Armee, und die wird dann entscheiden, ob sie selbstständig oder mit uns gemeinsam reagieren will.“

Allzu viel diesbezügliche Kooperation ist bekanntlich nicht zu erwarten; viel lieber arbeitet die besagte Streitmacht mit der Hizbollah zusammen, die im libanesischen Kabinett ihre Vorstellungen längst durchgesetzt hat, wie der Publizist Matthias Küntzel feststellt: „So lehnt laut Regierungsbeschluss die libanesische Armee jedwede Suche nach Hizbollah-Waffen ab. ‚Wenn [zufällig] eine Waffe gefunden wird, haben unserer Brüder von der Hizbollah gesagt, dass sie der Armee überlassen wird’, führt der libanesische Informationsminister Ghazi Aridi hierzu aus. ‚Es wird keine Konfrontation mit der Hizbollah geben.’ Um so lächerlicher die Funktion der UN-Soldaten, deren Aufgabe der stellvertretende UN-Generalsekretär Mark Malloch Brown wie folgt definiert: ‚Überwachung einer politischen Vereinbarung der libanesischen Regierung mit der Hizbollah zu deren Entwaffnung.’“ Letztere wird es jedoch gewiss nicht geben; im Gegenteil schlug der libanesische Verteidigungsminister Elias Murr sogar vor, Nasrallahs Truppen sollten „eine Rolle beim Schutz der Dörfer im Süden haben“. Die UNIFIL widersprach nicht; ihr größtes Problem sei es derzeit, nicht in Machtkämpfe zwischen religiösen und politischen Gruppen verwickelt zu werden, tat einer ihrer Sprecher, Milos Strugar, kund: „Wir werden uns nicht in irgendwelche innerstaatliche oder regionale Politik einmischen.“ Matthias Küntzel brachte die Quintessenz der UN-Resolution 1701 auf den Punkt: „‚Entwaffnung’ – ja, solange sichergestellt wird, dass es niemals dazu kommt.“

Die Chancen darauf stehen ziemlich gut. „Wir werden die libanesischen Einheiten beraten, ihnen helfen und assistieren“, machte auch Oberst Rosario Walter Guerrisi, Kommandeur des italienischen Regiments San Marco, noch einmal deutlich, dass die UNIFIL die Hizbollah weder zurückzudrängen noch abzurüsten gedenkt. Priorität habe vielmehr der Rückzug der israelischen Truppen aus dem Süden des Libanon – und im Bestreben, alles dafür zu tun, dass die Einheiten des jüdischen Staates auf gar keinen Fall noch einmal die Gelegenheit haben, das zu unternehmen, was eigentlich Sache der Vereinten Nationen wäre, entwickeln die UN-Truppen umso mehr Engagement, wie ein Vorfall vom gestrigen Donnerstag zeigte: Israel habe eine „Grenzverletzung“ begangen, die von französischen Soldaten gemeldet worden sei, verkündete ein weiterer UNIFIL-Sprecher, Alexander Ivanko. Die israelische Tageszeitung Ha’aretz zitierte einen Fotografen der Nachrichtenagentur AP, der Augenzeuge gewesen sei und gesehen haben will, wie bewaffnete israelische Fahrzeuge den Grenzzaun durchbrachen und weiter in libanesisches Territorium vordringen wollten, bis sie von französischen UN-Einheiten gestoppt worden seien. Libanesische Quellen berichteten sogar von israelischen Panzern, die französischen Panzern für eine knappe halbe Stunde gegenüber gestanden hätten. Die IDF bestritt hingegen, dass es einen Konflikt gegeben habe.

„Es waren die Kampfeinsätze der Israelis, die den iranischen Ambitionen im Libanon einen Dämpfer versetzt hatten. Das anschließende Zurückweichen der Europäer hat die Hizbollah wieder gestärkt und Nasrallahs Triumphrede [am 22. September auf einer Hizbollah-Demonstration in Beirut] erst möglich gemacht. Natürlich ist die Angst vor Selbstmordbombern verständlich; dieser Terror wird aber nur stärker, wenn man sich ihm nicht aktiv widersetzt“, resümierte Matthias Küntzel. Eine Einsicht, zu der die UNO weder willens noch fähig ist.

Das Foto zeigt ein französisches UN-Fahrzeug vor einem Porträt des Hizbollah-Führers Hassan Nasrallah im Südlibanon.

28.9.06

Nichts für kleine Gotteskrieger

Wer ist es schuld, wenn arabische Kinder nicht einschlafen können? Der Papst! Denn nur seinetwegen wird das Sandmännchen – zumindest vorerst – nicht wie geplant im Fernsehsender Al-Jazeera gezeigt. Eigentlich hatte der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), der die Senderechte an der Serie besitzt, vor einem halben Jahr 78 Episoden an die in Katar ansässige TV-Station verkauft. Doch nach den islamkritischen Äußerungen Benedikts XVI. verzögere sich die Abnahme des Sendematerials, gab die Leiterin der internationalen Abteilung von RBB, Brigitte Wauer, bekannt. Auf den ersten Blick erschließt sich der Zusammenhang zwischen der Regensburger Rede des Katholiken-Oberhaupts und einem vorläufig stornierten Programm für den islamischen Nachwuchs vielleicht nicht so ganz. Aber bei näherem Hinsehen wird schnell klar, dass es sich beim Sandmännchen um eine ganz perfide Form abendländischer Zersetzung der islamischen Wehrkraft handelt. Alleine schon das Outfit der Puppe! Sieht sie nicht ein bisschen aus wie eine Karikatur von Osama bin Laden? Das geht schon mal gar nicht. Und dann die einzelnen Folgen – purer AgitProp!

Nur zwei Beispiele. Beginnen wir mit „Du hast angefangen! Nein, du!“ Dazu lässt RBB wissen: „Das ist die Geschichte von zwei Kerlen, die in einen mächtigen Streit geraten. Beide wohnen auf den gegenüberliegenden Seiten eines Berges. Manchmal sprechen sie durch ein Loch im Berg miteinander, aber gesehen haben sie sich noch nie.“ Man ahnt es schon – der vom Papst beschworene Dialog der Kulturen naht. „Der eine Kerl sieht auf seiner Seite jeden Tag die Sonne aufgehen. Und der andere sieht sie auf seiner Seite des Berges untergehen.“ Ein weiteres klares Indiz – Sonnenaufgang im Osten, Sonnenuntergang im Westen, also Morgenland hie, Abendland da. Und heiter weiter: „Das ist eigentlich kein Grund zum Streiten.“ Ein deutliches Plädoyer für Gewaltlosigkeit! „Aber wenn nun der eine Kerl findet, dass der Tag geht, der andere aber meint, dass die Nacht kommt, dann kann man sich darüber vortrefflich streiten.“ Wenn das mal keine Anspielung auf die Jenseitserwartung des Islam ist – „der Tag geht“ –, der das Diesseits der christlichen Welt entgegengesetzt wird. Doch „am Ende vertragen sie sich wieder. Und das ist doch das Beste am Streiten, nicht wahr?“ Ein interreligiöses Versöhnungsangebot, kindgerecht inszeniert – da kann man leicht schwach werden und das Schwert sinken lassen.

Und dann erst die Geschichte vom Reineke! „Der Fuchs saß in der Höhle drin / die kleinen Füchse um ihn rum / drei Meter tief im Tannenwald“, hebt die Episode scheinbar harmlos an und geht dann bald ans Eingemachte: „Dem Fuchs dem knurrt der Magen sehr / den kleinen Füchsen noch viel mehr.“ Hunger also, gar Gier vielleicht von den durchtriebenen Tieren, die hier das Handeln diktieren. „Der Fuchs läuft durch die dunkle Nacht / zum Hof vom Bauern Lempe“ – man fühlt die List förmlich nahen. Ein Loch gegraben, und ab in den Hühnerstall: „Die dicksten Eier schnappt er sich / im Stall von Bauer Lempe.“ Glatter Raub also, aus vorgeblich nachvollziehbaren Motiven, auch wenn der Besitzer sich um sein Hab und Gut betrogen und hintergangen fühlen muss. Und schließlich der Genuss des Triumphes: „Im Fuchsbau war die Freude groß / der Fuchs, der schmatzte auch gleich los / die kleinen Füchse schmatzten mit / den großen Brei mit Eiern.“ Eine kaum verklausulierte metaphorische Legitimierung der christlichen Kreuzzüge, des Kolonialismus und von Jahrhunderten der Demütigung und Erniedrigung der islamischen Welt, repräsentiert und personifiziert durch den auf seinem Hof – vulgo: der Scholle – fest verwurzelten, etwas dümmlichen Bauern, der die autochthonen Bewohner der heiligen arabischen Erde symbolisieren soll. Den Widerpart geben die bekanntlich als schlau konnotierten Füchse – die hier sozusagen die Rolle der Christen einnehmen. Subtil und verfänglich, solche nur vermeintlich lustigen Geschichten. Nichts für kleine Gotteskrieger also.

Da ist es nur konsequent, wenn Al-Jazeera die Ausstrahlung des Sandmännchens auf Eis legt. Ein bisschen mehr Respekt vor der Religion des Friedens kann man schließlich verlangen. Auch und gerade den Kleinen gegenüber.

27.9.06

Verkehrte Welt

Ein Gespenst geht um in Europa: Das Gespenst des Generalverdachts. Des Generalverdachts nämlich gegen Muslime, Terroristen zu sein. Und dieses Pauschalurteil hat fatale, ja dramatische Folgen, wie die Nachrichten der letzten Tage, Wochen, Monate und Jahre unablässig zeigen. Schlimme Bilder sind das: Aufgebrachte Menschen zünden in europäischen Hauptstädten die Botschaften des Iran an, wenn im Land der Mullahs kritische Karikaturen zum Holocaust veröffentlicht werden – obwohl etliche Stimmen dort den Abdruck der Cartoons verurteilen. Moscheen brennen lichterloh. Auf den Straßen: Menschenjagden gegen alles, was Schnauzbart oder Kopftuch trägt. Immer wieder werden die Fahnen des Iran, Syriens und Saudi Arabiens verbrannt und hohe Sachschäden verursacht, nur weil Imame bei ihren Freitagsgebeten die Un- und Andersgläubigen bitten, etwas mehr Respekt gegenüber dem Islam walten zu lassen. Und damit nicht genug – der Hass exterritorialisiert sich: In der Hauptstadt eines arabischen Landes sterben fast zweihundert Menschen in einem Zug, als dort empörte Europäer Bomben zur Explosion bringen; in einer anderen nahöstlichen Metropole fliegen mehrere Busse gleichzeitig in die Luft. Auch im Nahen Osten eskaliert die Gewalt: Fanatische Juden binden sich Sprengstoffgürtel um und reißen in den Palästinensergebieten Hunderte mit sich in den Tod. Nur durch die akribische Arbeit der Polizeibehörden und Geheimdienste islamischer Staaten können etliche weitere Anschläge und Attentate verhindert werden.

Europäische Politiker, Theologen und Vertreter des Christentums machen offen Front gegen den Islam, und auch die europäische Presse läuft regelrecht Amok: In Le Monde diplomatique erscheinen nahezu täglich Artikel, in denen den Palästinensern das Recht auf einen eigenen Staat rundweg abgesprochen wird; der Guardian rechtfertigt die antiislamischen Ausschreitungen uneingeschränkt und weist darauf hin, dass Europa von den Muslimen nun lange genug provoziert worden sei; in der taz gibt es eine breite Debatte über die Legitimität von extralegalen Maßnahmen, die über die Ausweisung aller Islamgläubigen hinausgehen. Doch die meisten Muslime reichen den Europäern, Amerikanern und Israelis weiter die Hand. Sie fordern einen Dialog der Kulturen und warnen: „Bei allen Aufrufen, den Terror zu verurteilen, darf man die Christen und Juden nicht pauschal in die Ecke drängen, halbe Terroristen zu sein“, sagt beispielsweise der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedjad.

Die arabische Presse mahnt ebenfalls zur Zurückhaltung: „Mit Recht wehren sich Juden und Christen dagegen, wenn man ihre Religion pauschal der Gewalttätigkeit zeiht, zumal die Geschichte fast aller Religionen auch eine Geschichte der Gewalt gewesen ist. Der Islam hat da ein langes Sündenregister“, findet eine der Hizbollah nahe stehende Tageszeitung. Und ein in Damaskus erscheinendes Blatt meint unter der Überschrift „Feinde haben, Feinde machen“: „Terror, das Wüten jüdischer Selbstmordattentäter in Palästina, Antiislamismus, fanatische Reden: Das alles findet statt in der christlich-jüdischen Welt. Oft genug, wie beim Streit um die Holocaust-Karikaturen, werden Lappalien grausam instrumentalisiert. In London wurde wegen der Rede eines Ayatollahs ein iranischer Imam ermordet. Doch dies alles zu brandmarken, darf nicht bedeuten, zwei der größten Religionsgemeinschaften der Welt an sich unter Generalverdacht zu stellen. Wer unsere Emanzipationserrungenschaften gegen die Lehren des Christentums und Judentums ausspielt, betreibt eine moderne, verführerische Form der Ausgrenzung.“

Organisationen der Friedensbewegung in arabischen Ländern gehen sogar noch weiter: Für sie ist die Hizbollah der Aggressor im Krieg gegen Israel; der jüdische Staat habe sich lediglich gegen die permanenten Angriffe auf seine Zivilbevölkerung gewehrt. Sprecher verschiedener Gruppen werfen ihren jeweiligen Regierungen zudem die Unterstützung der libanesischen Freiheitskämpfer vor und fordern die sofortige Einstellung der finanziellen Hilfen für sie. Auch die Hamas wird von den Friedensfreunden scharf kritisiert: Israels Regierung sei demokratisch gewählt und müsse unverzüglich anerkannt werden; die Juden hätten genauso ein Recht auf einen eigenen Staat wie die Muslime im Iran, Jordanien oder Syrien. Proteste gibt es auch gegen den Iran, dem vorgeworfen wird, mit seinem Atomprogramm die Lage nur unnötig zu verschärfen; darüber hinaus fordern Tausende von Demonstranten ein Ende der Waffenlieferungen an Syrien und die Hizbollah. Etliche Friedensinitiativen und teilweise auch Politiker islamischer Länder äußern ein gewisses Verständnis für die jüdischen suicide attacks und die gewalttätigen Ausschreitungen gegen Muslime; es seien „die Reaktionen Verzweifelter“, die sich nun Bahn brächen. Israel wird zwar aufgefordert, seine atomare Bewaffnung nicht fortzusetzen; gleichzeitig betont man jedoch, das Land habe ein Recht auf friedliche Nutzung der Kernenergie. Auch im kulturellen Sektor zieht man immer öfter Konsequenzen: Um die religiösen Gefühle von Juden nicht zu verletzen und weil außerdem eine weitere Eskalation befürchtet wird, setzen verschiedene arabische Fernsehsender die beliebte religionskritische Serie „Die Protokolle der Weisen von Zion“ ab.

Doch all dieses Entgegenkommen, das ganze Appeasement hilft nichts: Der Generalverdacht gegen Muslime will und will nicht weichen. Doch an deutliche Worte und Maßnahmen denkt man nicht – und fahndet weiter nach Europäern, Israelis und Amerikanern, die den Kritischen Dialog suchen und sich von der antiislamischen Gewalt distanzieren, während man sich bemüht, ihre weniger kooperativen Landsleute nicht weiter zu provozieren. Um so das Gespenst zu bändigen.

26.9.06

Bitteres Bewusstsein

Vor etwas mehr als drei Jahren ging ein ambitioniertes Projekt online, das in eine bis dahin unbesetzte Lücke in der virtuellen Welt stieß. typoskript.net nannte es sich, und die dort versammelte Mischung aus fundierten Grundsatzbetrachtungen, eleganten Essays und ausführlichen Gesprächen zu Politik und Kultur durfte in vielerlei Hinsicht als außergewöhnlich gelten. Anspruchsvolle und doch zugängliche theoretische Gedanken etwa zu den Themen Antisemitismus, Antizionismus und Antiamerikanismus wechselten sich ab mit Essays über den Judenmord verherrlichenden Film Paradise Now, über die deutsche Geisteskultur des 19. Jahrhunderts oder über den Weg des Günter Grass vom Jungnazi zum Altlinken. Dazu gab es bemerkenswerte und im deutschsprachigen Raum in ihrer Ausführlichkeit und Eindringlichkeit einzigartige Interviews mit der US-amerikanischen Professorin und Schriftstellerin Phyllis Chesler, dem amerikanischen Publizisten Paul Berman sowie dem israelischen Schriftsteller Yoram Kaniuk.

typoskript.net war vielen Feinden offener Gesellschaften ein veritabler Dorn im Auge: den Adepten einer Friedensmacht Deutschland, den Antiimperialisten von links und rechts, den Anhängern des Kritischen Dialogs mit dem Islamismus, den Terrorverstehern, den Palästinafreunden, den Bush-Hassern und den Antisemiten jedweder Couleur. Sie alle haben nun einen Grund zum Feiern: typoskript.net ist seit gestern offline – „um aktuelle wie ehemalige Autoren und insbesondere deren Freunde und Familien zu schützen, wo nur das Schweigen Schutz wenigstens suggeriert“, wie die Betreiber des Projektes mitteilen. Es ist die bittere Konsequenz aus der Tatsache, dass es im postnazistischen Deutschland so etwas wie eine kritische Masse nicht gibt und die wenigen, die sich dem Kampf gegen die Windmühlenflügel verschrieben haben, auf Unterstützung kaum zählen können – und auf so etwas wie Schutz, sei es intellektuellen, sei es ganz handfesten, schon gleich gar nicht.

Denn in einem Land, in dem eine Zweidrittelmehrheit von der Shoa nichts mehr hören mag und stattdessen dem jüdischen Staat einen „Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ andichtet; in einem Land, in dem die Terroranschläge des 11. September 2001 eher als Inszenierung amerikanischer oder israelischer Geheimdienste gelten denn als das Werk antisemitischer Islamisten, weshalb es an nahezu jeder Empathie für die Opfer dieses Massenmordes fehlt; in einem Land, das stolz darauf ist, mit dem größten Denkmal der Welt für das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte seine Vergangenheitsbewältigung erfolgreich in Stein gegossen zu haben – in diesem Land heißen die neuen Hitlers Bush und Sharon, und an ihnen und ihresgleichen möchte man die Lehre aus der eigenen Geschichte lieber heute als morgen exerzieren: Nie wieder Krieg gegen den Faschismus. Oder, um es mit den Worten eines der meistgelesenen Schriftsteller Nachkriegsdeutschlands zu sagen: „Siegen macht dumm. Die Sieger denken, sie müssten sich nicht um die Sünden der Vergangenheit kümmern, aber auch die Sieger werden davon eingeholt.“ Und zwar durch die, die sich für die Verlierer halten und schon lange keine Hemmungen mehr kennen.

Lizas Welt dokumentiert nachfolgend die Erklärung von typoskript.net zur Abschaltung der Website.

typoskript.net – Offline wegen Bedrohung

Wenn man publizistisch gegen Islamisten, Terror-Apologeten und ihre friedensbewegten Freunde anschreibt, kann das unangenehm werden: Nicht allein die staatliche, vorauseilende Forderung, nur nicht die feinfühligen Freunde des Propheten oder ihre „antiimperialistischen“ Bundesgenossen zu provozieren, sondern gerade die außerstaatliche, illegale Bedrohung und Einschüchterung wird zum Problem.

Um aktuelle wie ehemalige Autoren und insbesondere deren Freunde und Familien zu schützen, wo nur das Schweigen Schutz wenigstens suggeriert, haben wir beschlossen:

typoskript.net geht offline.

Dies geschieht im bittren Bewusstsein, dass eine ernsthafte weil analytische Kritik an den Bedingungen, die eine solche Bedrohung überhaupt erst möglich machen, nicht gerade epidemisch zu sein scheint.

Eine solche Kritik ist gerade dort nicht zu finden, wo eine liberale Staatlichkeit normativ behauptet wird, wo doch nur eine Schimäre vorzufinden ist, wo derart ein gesellschaftlicher Positivismus vorherrscht, dass seine Harmlosigkeit den Feinden der „offenen Gesellschaft“ nicht einmal mehr als ernsthafte Angriffsfläche taugt. Eine Kritik des Westens, die ihn ernst nimmt und gerade deshalb notwendig überfordert, wird von derlei Selbstzufriedenen mit Gründen abgewehrt.

Eine solche Kritik aber fehlt erst recht dort, wo mittels Appeasement der Versuch unternommen wird, den Feinden des progressiven Gehalts von Moderne, Zivilisation und Aufklärung die Hand zu reichen, sie zu beschwichtigen, sie in einen Dialog einzubinden. Dieses Appeasement – mag es sich auch Diskurs, Lobbying oder gar Diplomatie nennen – ist gerade dazu bestimmt, den Wahn des antiwestlichen, mithin antisemitischen Ressentiment zu verschleiern, wird mimetisch, ist verlässlicher Teil, nicht widerspenstiges Gegenteil der antimodernen Regression.

Zum Bedrohten wird man vor allem dadurch, dass die eigene Kritik den Kern des Wahns zu treffen vermag; doch ist dies so ehrenvoll wie gefährlich. Von Positivisten wie Appeasern ist dabei keine Unterstützung, ja eher Genugtuung zu erwarten.

Nicht von der eignen Ohnmacht noch von der Macht der anderen sich dumm machen zu lassen, dies darf als vordringlichste Aufgabe gelten. Darüber muss man nicht zum Märtyrer werden. Beides soll uns auszeichnen.

Redaktion typoskript.net – off

25.9.06

Wenn Iren irren

Dass Wissenschaftler prinzipiell ein paar Gehirnwindungen mehr aufzuweisen haben sollen als Menschen, die nie eine Hochschule von innen gesehen haben, ist ein Gerücht, das sich hartnäckig hält und in unregelmäßigen Abständen seine – meist ungewollte – Widerlegung erfährt. Erst Ende Mai beispielsweise hatte die britische National Association of Teachers in Further and Higher Education (Natfhe) auf ihrem Jahreskongress in Blackpool einen Boykott israelischer Hochschulen beschlossen. Nun veröffentlichten 61 irische Geistesgrößen in der Irish Times einen an die Europäische Union gerichteten Offenen Brief, mit dem sie ebenfalls zu einer Ächtung von akademischen Einrichtungen Israels aufriefen:
„Es gibt eine umfassende internationale Verurteilung der Politik, mit der Israel die Palästinenser in den besetzten Gebieten gewalttätig unterdrückt, und der israelischen Aggression gegen das libanesische Volk. Die israelische Regierung scheint sich um moralische Appelle führender Persönlichkeiten der Welt und um fortgesetzte Resolutionen der Vereinten Nationen nicht zu scheren. Wir meinen, dass es Zeit ist, dem palästinensischen Ruf zu folgen und Druck auf Israel auszuüben, damit es sich an internationales Recht hält und grundlegende Menschenrechte gewährt. Viele nationale und europäische Kultur- und Forschungseinrichtungen, darunter die von der EU finanzierten, betrachten Israel als einen europäischen Staat bei der Vergabe von Zuwendungen und Verträgen. Wir fordern einen Stopp jeder weiteren Unterstützung von israelischen akademischen Institutionen, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. Wir drängen unsere akademischen Mitstreiter, dieses Moratorium zu unterstützen, indem sie von einer weiteren Zusammenarbeit mit israelischen akademischen Einrichtungen Abstand nehmen, wo es möglich ist. Ein solches Moratorium sollte so lange dauern, bis Israel sich an UN-Resolutionen hält und die Besetzung der palästinensischen Gebiete beendet.“
Einer der Unterzeichner, James Bowen – Professor im Department of Computer Science an der National University of Ireland in Cork und nebenberuflich Vorsitzender der Ireland-Palestine Solidarity Campaign (IPSC) –, verteidigte in der israelischen Tageszeitung Ha’aretz die Petition und legte sogar noch eine Schippe drauf: „Israel benutzt den Antisemitismus, um die Vertreibung der Palästinenser 1948, die Diskriminierung der Palästinenser, die diesseits der Grünen Linie bleiben wollten, und die territoriale Expansion nach 1967 zu entschuldigen.“ Bowen bestritt vehement, dass Sinn Féin – eine entgegen ihrem offiziellen republikanischen Anspruch reichlich völkelnde Partei, die als parlamentarischer Arm der militanten IRA gilt und danach trachtet, die nordirischen Grafschaften zu einem Teil Irlands zu machen – etwas mit Antisemitismus zu tun hat; auch seine eigene Organisation IPSC sei selbstverständlich nicht judenfeindlich, sondern bloß den Palästinensern freundschaftlich verbunden, weil man als Iren die Erfahrungen des „Siedlerkolonialismus“ mit ihnen teile. Außerdem gewinne die antiisraelische Boykottkampagne an Legitimation und Fahrt, berichtete der kämpferische Hochschullehrer stolz: „Kürzlich lehnten mehrere irische Kulturevents ein Sponsoring durch die israelische Botschaft ab, und irische Gewerkschafter verhinderten, dass die Dubliner Straßenbahnen zu Übungszwecken für das geplante Bahnsystem zwischen den Siedlungen der West Bank eingesetzt werden. Aber das ist nur der Anfang. Diese Kampagne – Teil der weltweiten Bemühungen, den Israelis dabei zu helfen, ihre dysfunktionale Ablehnung der Verantwortung zu überwinden – wird erst aufhören, wenn Israel sich an internationales Recht hält.“

In Israel stieß der neuerliche Boykottaufruf auf heftige Kritik. Alexander Yakobson, Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität von Jerusalem, sagte der Jerusalem Post: „Die Aufrufer verlangen keinen Boykott akademischer Institutionen anderer Länder, mit deren Politik sie nicht übereinstimmen. Sie verlangen keinen Boykott des Sudan oder Chinas, das enorme akademische Verbindungen zu Europa hat. Es gibt keine universale Norm; sie sind nur antiisraelisch. Und sie verlangen von keinem einzigen palästinensischen Akademiker, sich vom Terror zu distanzieren. Selbst als Europa Sanktionen gegen die Hamas-Regierung verhängte, war ihnen das keine Verpflichtung gegenüber palästinensischen Universitäten. Niemand hat das auch nur vorgeschlagen.“ Und in einem Brief an die Mitglieder und Büros der EU-Kommission wandten sich Yosef Yeshurun, Vorsitzender des an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan ansässigen International Advisory Board for Academic Freedom (IAB), und Edward Beck, Präsident der Scholars for Peace in the Middle East, ebenfalls gegen den Boykottaufruf der Iren, den sie als „dem universalen Prinzip der akademischen Freiheit zuwiderlaufend“ bezeichneten: „Der Ruf nach einem EU-weiten Boykott israelischer Akademien ist ein Verrat akademischer Werte. Das akademische Leben hat mit dem Bauen von Brücken zu tun, nicht mit deren Zerstörung.“ Der Offene Brief sei darüber hinaus „völlig kontraproduktiv für das Fördern des Friedens und des Verständnisses im Nahen Osten“.

Doch James Bowen war nicht zur Einsicht zu bewegen. Die Reaktion Yeshuruns und Becks sei bloß „der typisch israelische Versuch, Kritik zu verhindern“. Angesprochen auf die Charta der Hamas und ihren häufig genug geäußerten Ruf nach der Vernichtung Israels, meinte er: „Die Hamas eines Genozids zu verdächtigen, ist verleumderisch. Die Verantwortung für ein Ende des Konflikts liegt beim Aggressor. Der Aggressor ist Israel“ – das er „langsamer ethnischer Säuberungen“ bezichtigte, denen man mit „Boykotten, Beschlagnahmungen und Sanktionen“ entgegentreten müsse. Derlei Tiraden forderten erneut den Widerspruch Yakobsons heraus. Er sei zwar nicht für einen Boykott palästinensischer Hochschulen, doch seien diese unumgänglich, wenn israelische Akademien derart angegangen würden: „Wenn sie glauben, dass eine Zwei-Staaten-Lösung denkbar ist, dass die Besatzung illegitim ist und dass israelische Hochschuleinrichtungen daher boykottiert werden müssen, müssen sie sich auch für einen Boykott akademischer Institutionen auf palästinensischer Seite einsetzen.“

Solche Appelle verhallen bei den irischen Wissenschaftlern jedoch genauso ungehört wie bei den Initiatoren anderer Ächtungsinitiativen gegen Israel. Denn deren Motivation ist immer die gleiche: Ein modernisierter Antisemitismus in Form einer vorgeblich legitimen „Israel-Kritik“, der es nur darum zu tun sei, den jüdischen Staat freundschaftlich-paternalistisch auf seine Verfehlungen hinzuweisen. Mit einem Verweis auf die double standards ist den Boykotteuren jedoch nicht beizukommen, schon deshalb nicht, weil sie ihn stets mit dem stereotypen Einwand kontern, Israel sei der eigentliche Aggressor und habe daher die Vernichtungsabsichten und -praxen der Hamas oder Hizbollah selbst zu verantworten. Eine klassische Täter-Opfer-Verdrehung mit eindeutigen Absichten, die an Popularität nicht nur nichts eingebüßt hat, sondern stetig zunimmt, nicht nur im universitären Bereich: Im Februar dieses Jahres beispielsweise forderte eine Gruppe britischer Architekten, die Geschäftsbeziehungen mit israelischen Unternehmen abzubrechen, die in den Bau des Sicherheitszauns in der West Bank involviert sind. Im Mai rief die Sektion Ontario der Canadian Union of Public Employees (CUPE) ebenfalls zu einem Boykott Israels auf, auch sie nicht zuletzt „wegen der Apartheidmauer“. Zwei Monate später beschuldigte der südafrikanische Gewerkschaftsverband Cosatu Israel, ein „schlimmerer Apartheidstaat“ zu sein als Südafrika früher: „Palästinenser werden mit schwerer Maschinerie und Panzern angegriffen, die gewöhnlich im Krieg benutzt werden. So etwas hat es niemals in Südafrika gegeben.“ Cosatu und andere südafrikanische Organisationen drängten ihre Regierung zu einem Boykott der diplomatischen Beziehungen mit Israel und forderten Sanktionen, wie es sie einst gegen die Apartheid in Südafrika gegeben hatte. Der Filmemacher Ken Loach wiederum kündigte im August an, nicht an israelischen Filmfestivals teilzunehmen und vom israelischen Staat gesponserte Kultureinrichtungen zu meiden. Und Anfang dieses Monats wollte die in Großbritannien ansässige Gruppe Architects and Planners for Justice in Palestine Israel von einer Architektur-Biennale in Venedig ausschließen.

Vielleicht ist das alles aber auch gar nicht so tragisch. Denn wann hat man je von den Errungenschaften irischer Akademiker gehört? Oder von denen pro-palästinensischer britischer Architekten? Sollten sich südafrikanische Gewerkschafter nicht lieber um die Fußball-WM 2010 kümmern? Und wer freiwillig in Filme von Ken Loach rennt, ist selbst schuld. Dann schon lieber einen Single Malt! Gerne auch einen irischen.

Das obere Foto zeigt einen Blick auf die Universität in Haifa, das untere einen Ausschnitt der Universität in Tel Aviv.

Übersetzungen: Lizas Welt – Hattip: Hardy

23.9.06

Kabarett frei Haus

Die UNO ist ein honoriger Verein, nachgerade ein Vorbild für Basisdemokratie, so etwas wie die Grünen im Weltmaßstab also: Allerweil sorgt man sich um den Frieden auf dem Planeten, gibt das Sprachrohr für die Dritte Welt, und selbst die Fundi-Fraktion darf ans Rednerpult, um denen da oben ein bisschen ans Bein zu pinkeln. Wenn jetzt noch das globale Dosenpfand eingeführt, die Trennung von Amt und Mandat beschlossen und Jürgen Trittin zum nächsten Generalsekretär gewählt würde, könnte die Erde endlich eine richtig harmonische Veranstaltung werden. Bis es soweit ist, begnügt man sich notfalls mit Hinterbänklern, die auch mal was sagen wollen und dürfen. Der hauseigene Beauftragte für den Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus beispielsweise, Doudou Diene aus dem Senegal, verkündete mit besorgter Miene, die Rede des Papstes im beschaulichen Regensburg fördere „die Strömungen, die den Islam und den Terrorismus in eine Schublade stecken wollten“ – völlig zu Unrecht, versteht sich. Eine „ausgewogene Herangehensweise“ des katholischen Oberhauptes wäre vielmehr wünschenswert gewesen, sagte er; schließlich habe „die Debatte über Gewalt und Religion eine lange kontroverse Geschichte“. Ergo befasst sich nun auch der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen mit der Causa, auf Antrag – wie könnte es anders sein – von Delegationen islamischer Länder. In einem davon, Pakistan nämlich, forderte eine Versammlung von rund 1.000 Geistlichen und Religionsgelehrten allen Ernstes die Amtsenthebung von Benedikt XVI. „Wenn der Westen nicht seine Haltung gegenüber dem Islam ändert, wird er ernste Konsequenzen zu tragen haben“, hieß es in einer Erklärung.

Wie diese „ernsten Konsequenzen“ aussehen, ist inzwischen hinlänglich bekannt, selbstverständlich aber kein Fall für den UN-Menschenrechtsrat, der seinen Namen nicht nur deshalb ungefähr so zu Recht trägt wie der Islam die Bezeichnung „Religion des Friedens“. Doch darüber muss man sich nicht wundern und noch nicht einmal mehr staunen. Mit ein wenig Neigung zum schwarzen Humor ließe sich immerhin zufrieden konstatieren, dass das, was die Weltorganisation so alles in petto hat, Kabarett at its best ist, frei Haus und ohne GEZ-Ablass, dafür jedoch mit begnadeten Laiendarstellern. Doudou Diene ist einer davon; ein anderer heißt Alain Pellegrini, ist französischer Generalmajor und derzeit Befehlshaber der Friedenstruppe der UNO im Libanon, kurz: UNIFIL. Die ist eigentlich dafür zuständig, zu verhindern, dass die Hizbollah Nachschub an Waffen bekommt, und könnte ihr Mandat darüber hinaus sogar dahin gehend verstehen, Nasrallahs Truppen ein wenig abzurüsten. Doch The Show must go on, und daher stellte Pellegrini in einem Interview klar, dass seine Einheiten bestenfalls so tun, als seien sie von irgendeinem Nutzen: Selbst wenn man Notiz von einem geplanten neuerlichen Angriff der Terrorvereinigung auf Israel nähme, werde man die Füße still halten: „Wir werden zuallererst beobachten. Wenn wir etwas Gefährliches sehen, informieren wir die libanesische Armee, und die wird dann entscheiden, ob sie selbstständig oder mit uns gemeinsam reagieren will.“

Das läuft für letztere wohl eher auf eine Ich-AG hinaus, wie der libanesische Verteidigungsminister Elias Murr (Foto rechts) deutlich machte. Denn der hatte die Bahn brechende Idee, die Hizbollah in eine Brigade der Streitkräfte zu integrieren und im Südlibanon einzusetzen; sie „könnte unter Kontrolle der Armee eine Rolle beim Schutz der Dörfer im Süden haben“. Schließlich wolle man Nasrallah glauben, „dass die Waffen der Hizbollah dem Schutze des Libanons dienten und keine Karte Irans sind“. Der Hizbollah-Führer vernahm die Worte wohl, allein, es fehlte ihm – selten genug – der Glaube: Auf einer Kundgebung in Beirut am Freitag verlangte er den Rücktritt der libanesischen Regierung und ihres Ministerpräsident Fuad Siniora, weil diese den „Herausforderungen nach dem Libanon-Krieg nicht gewachsen“ seien. Da habe man selbst schon Handfesteres zu bieten: „Keine Armee der Welt kann uns dazu zwingen, die Waffen aus unseren Händen zu geben.“ Nicht die libanesische, und die UNFIL schon gleich gar nicht. Denn deren Chef sorgt sich vielmehr um das „gefährliche Verhalten“ Israels, das seine Flugzeuge weiterhin über den Libanon schicke – was „sowohl gefährlich als auch inakzeptabel“ sei. Daher winkte man auch die Nasrallah-Fans durch, die ihr Idol in Beirut hören wollten und beim Passieren von UN-Posten auch schon mal per Handschlag begrüßt wurden (Foto oben).

Ein ähnlich bühnenreifes Stück auf den Brettern der Vereinten Nationen befasste sich mit der angeblich unmittelbar bevorstehenden Anerkennung Israels durch die Hamas. In der Hauptrolle: Mahmud Abbas, der vor einem geneigten Publikum wirklich sein ganzes Talent in die Waagschale warf. Dummerweise hatte er das Drehbuch vorher nicht den Regisseuren vorgelegt, die daher auch prompt dementierten, mit dem „Rezept zum Bürgerkrieg“ irgendetwas zu tun zu haben, und stattdessen etwas von einem zehnjährigen Waffenstillstand erzählten. Gelacht hat niemand. Aber das ist auf grünen Parteitagen ja auch so.

Hattip: barbarashm

22.9.06

Mehr als nur ein Flirt

In Havanna treffen sich auf einer blockfreien Konferenz höchstrangige Repräsentanten Venezuelas, Kubas, Nordkoreas sowie der palästinensischen Autonomiebehörde und des Iran, um Terrorismus zu einer legitimen Form des „Widerstands gegen Besatzung“ zu verniedlichen und das iranische Atomprogramm zu feiern. Kurz darauf reist der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedjad nach Caracas, unterzeichnet dort mit seinem venezolanischen Pendant Hugo Chávez ein weitreichendes Abkommen und betont die Verbundenheit beider Staaten im Kampf gegen den gemeinsamen Feind. Chávez nennt auf der UNO-Vollversammlung den amerikanischen Präsidenten „den Teufel“, während auch sein iranischer Amtskollege dort über die Vereinigten Staaten und Israel herzieht. Beide hatten bereits im August Bruderschaft gefeiert und waren sich darin einig, dass Israel mindestens so schlimm ist wie Nazideutschland. In Europa demonstrieren Friedensbewegte Seit’ an Seit’ mit Islamisten gegen Israel und die USA – in London (untere Fotos) unlängst beispielsweise unter dem Motto „Wir sind alle Hizbollah“ –, halten 9/11 nicht selten für das Werk der CIA und des Mossad und schwärmen für die Hamas.

Woher kommt diese Allianz zwischen Linken und Djihadisten, die in den letzten Jahren stetig enger geworden ist? Welche Grundlagen hat dieses Bündnis zwischen sich progressiv wähnenden Gruppen und Parteien, die sich sozialistisch oder kommunistisch nennen und normalerweise eher säkular sind, auf der einen Seite und den Gotteskriegern respektive deren Anhängerschar auf der anderen Seite? Wie kann es sein, dass Organisationen, die sich das Ende von Ungleichheit, Unfreiheit und Unterdrückung auf die zumeist roten Fahnen geschrieben haben, ihre Gemeinsamkeiten mit Rackets entdecken, deren Programm und Praxis aus extremem Autoritarismus, einem bizarren Todeskult, völliger Rechtlosigkeit und der Pflicht zum heiligen Krieg besteht?

Derlei Fragen sind nicht umfassend mit dem Verweis darauf beantwortet, beide Bewegungen seien antiwestlich. Denn so freundlich gesonnen wie im Moment waren sich islamistische und linke Strömungen und Organisationen nicht immer. „Lange bevor die Muslimbruderschaft, die Djihadisten und andere islamische Militante den ‚Imperialismus’ angriffen, attackierten und töteten sie die Linken“, schrieb Fred Halliday in einem informativen Beitrag für openDemocracy.* Dabei gestalteten sich die Beziehungen zwischen beiden anfänglich durchaus zuvorkommend; sie begannen unmittelbar nach der Oktoberrevolution in Russland 1917, als die noch junge Sowjetunion „antiimperialistische“ Bewegungen in Asien gegen die Kolonialmächte Großbritannien, Frankreich und Niederlande unterstützte und in den militanten Muslimen dabei zumindest taktische Verbündete sah. Denn die Sowjets entdeckten im Islam sozialistische Elemente, wie Halliday ausführt: „Ein Koranvers, in dem es heißt, dass ‚Wasser, Erde und Feuer den Völkern gemeinsam gehören’, wurde als frühe, nomadische Form kollektiver Produktionsmittel interpretiert; die muslimischen Konzepte von ‚ ijma’’ (Konsensus), ‚ zakat’ (wohltätige Spenden) und ‚‘adala’ (Gerechtigkeit) wurden in einer Linie mit den Bestimmungen des ‚nicht-kapitalistischen’ Weges gesehen. Der Djihad war offensichtlich eine Form des antiimperialistischen Kampfes. Einen ähnlichen Abgleich von islamischer Tradition und modernem Staatssozialismus gab es in den sechs muslimischen Republiken der Sowjetunion.“

Die Begeisterung islamischer Gruppen für die kommunistische Idee hielt sich umgekehrt, vorsichtig formuliert, jedoch in ausgesprochen engen Grenzen; sie sahen weniger die Affinitäten, sondern positionierten sich mit der Zeit immer strikter gegen Kommunismus, Sozialismus, Liberalismus und Frauenrechte. Vor allem der organisierte Islamismus, der sich an den Grundsätzen der 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft orientierte, hielt den Sozialismus in all seinen Formen für eine westliche Erfindung, die scharf bekämpft werden müsse, zumal sie in der arabischen Welt an Einfluss gewann. Gleichzeitig lernten die Islamisten von ihren Rivalen: Die antiimperialistische Rhetorik, ein System sozialer Reformen und zentralistische Parteien beispielsweise ähnelten dem sozialistischen Pendant stark und finden heute ihre Fortsetzung in Attacken gegen die Globalisierung und den „Kulturimperialismus“. Ayatollah Khomeinis Denunziationen des „Liberalismus“ wirkten wie aus einem Handbuch des Stalinismus abgeschrieben, und auch Osama bin Ladens Botschaften kennzeichnet eine linke Phraseologie: Unsere Länder sind vom Imperialismus besetzt, unsere Herrscher verraten unsere Interessen, der Westen raubt unsere Ressourcen, wir sind Opfer doppelter Standards. Der dessen ungeachtet stattfindende Kampf des Islamismus gegen linke Bewegungen und sozialistische Staaten kam dem Westen dabei lange Zeit gelegen; vor allem im Kalten Krieg wurden islamische Organisationen und Länder häufig als Bündnispartner betrachtet und unterstützt. Halliday nennt in diesem Zusammenhang unter anderem Ägypten, Saudi Arabien, Indonesien, Marokko, die Türkei, Afghanistan, Jemen und Algerien als Beispiele.

Doch der Flirt der Linken mit dem Islam hörte trotz aller Katastrophen, die sie im Laufe der Jahre immer wieder erleben mussten, nicht auf; zu stark war und ist offenkundig das Bedürfnis, nach Gemeinsamkeiten im Kampf gegen „den Imperialismus“ zu fahnden, vor allem dann, wenn es gegen Israel und die USA geht. Warum das so ist und welche ideologischen Kongruenzen es zwischen zwei Lagern gibt, die Antipoden sein müssten und es doch nicht sind, wusste Clemens Nachtmann in seinem Beitrag Anti-Imperialismus – höchstes Stadium des falschen Anti-Kapitalismus bereits 1996. Der Text hat auch zehn Jahre später nichts an Aktualität eingebüßt – im Gegenteil – und soll daher in Auszügen dokumentiert werden.


Clemens Nachtmann

Anti-Imperialismus – höchstes Stadium des falschen Anti-Kapitalismus


[...] Auffällig ist zunächst, dass im Anti-Imperialismus davon ausgegangen wird, alles Elend in der sogenannten „Dritten Welt“ sei zurückzuführen auf einen Verursacher, welcher es bewusst und mit böser Absicht produziert und aufrecht erhält. Dieses finstere Subjekt soll nun der „Imperialismus“ sein. Wenn Linke also vom „Imperialismus“ reden, dann ist mit diesem Begriff weder, wie bei Lenin, ein bestimmtes „Stadium“ in der Entwicklung des Kapitalismus noch, wie eine lexikalische Definition uns lehrt, Expansions- und Machtstreben, also eine Eigenschaft von Staaten gemeint. Vielmehr ist „Imperialismus“ der Name für ein weltweit handelndes Subjekt, das zwar als bewusst und selbstbewusst handelndes auf der Weltbühne auftritt, als solches aber merkwürdig blass und unbestimmt bleibt und somit greifbar nur an seinen Erscheinungsformen ist: skrupellosen Multis, fiesen Bankern, finsteren Counterinsurgency-Strategen, stiernackigen Militärs, gegen welche [..] dann auch anti-imperialistischerseits mit großer moralischer Verve zu Felde gezogen wird und [die], zusammenaddiert, das Subjekt „Imperialismus“ ergeben.

Konstitutiv für den gemeinplätzlichen linken Imperialismus-Begriff ist also die Annahme, die unmittelbaren Nutznießer und Profiteure der bürgerlichen Gesellschaft seien deren bewusste und selbstbewusste Subjekte. Diese Annahme gründet wiederum in einem auf die sozialdemokratische und parteikommunistische Bewegung zurückgehenden, personalisierenden Missverständnis des Kapitalverhältnisses und der bürgerlichen Gesellschaft. Danach soll das ausschlaggebende Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft darin bestehen, dass in ihr sich verschiedene Kollektiv-Subjekte gegenübertreten, die an und für sich nichts miteinander zu tun haben und sich nur äußerlich, durch ihre jeweiligen kollektiven Interessens- und Willenshandlungen aufeinander beziehen. Innergesellschaftlich betrachtet handelt es sich bei diesen Kollektiv-Subjekten um die altbekannten Klassen: die Kapitalisten, die aus bösem Willen, d.h. subjektiver „Profitgier“ die Proleten ausbeuten und mit Hilfe ihres „Erfüllungsgehilfen“, des Staates, unterdrücken; und die Arbeiter, die als wesenhaft unversöhnliche Antagonisten des Kapitals „objektiv“ beständig Klassenkampf führen. [...]

Das Kapital, das sich anfangs noch der Person des freien Unternehmer-Subjekts als seiner Krücke bediente, hat längst die ihm adäquate, anonyme Form der Aktiengesellschaften angenommen. Als Gesellschaftskapital hat es [...] die Arbeit restlos sich subsumiert. Das Kapital ist empirisch zu dem geworden, was es seinem materialistischen Begriff nach immer schon war: Herrschaft versachlichter Verhältnisse über die Individuen. Das personalistische Gesellschaftsverständnis samt der in ihm implizierten moralischen Kapitalismuskritik und der kernigen Klassenkampfrhetorik ist damit an sich unwiderruflich vernichtet, mit der Konsequenz, dass den diesen Denkfiguren nachhängenden Linken außer immer wahnhafteren und hilfloseren Subjekt-Beschwörungsformeln meist nichts mehr einfällt. Dafür darf sich die moralisierende Kritik umso mehr am Thema Imperialismus schadlos halten. Hier kann die moralisierende Kritik wieder ganz mit sich im reinen sein, scheint man es doch beim Verhältnis Imperialismus/Dritte Welt nicht nur mit einem unmittelbaren Gewaltverhältnis zu tun zu haben, sondern einem Gewaltverhältnis, das zudem den unschätzbaren Vorteil bietet, dass es in seiner ganzen Nacktheit bloßzuliegen scheint, bei dem also keine diffizile theoretische Tüftelarbeit vonnöten, sondern der bloße Augenschein zu genügen scheint, um es als solches zu erkennen. [Weshalb] jede Befreiung davon keinerlei Begründung mehr bedarf, sonder sich bereits durch die Tat rechtfertigt, was umgekehrt auch heißt, dass sich eine Kritik an den Zielen der Befreiung geradezu blasphemisch ausnimmt und sofort in den Verdacht gerät, in objektiver Komplizenschaft zum „Imperialismus“ zu stehen.

Obwohl das personalisierende Gesellschaftsverständnis mit all seinen Implikationen in der linken Imperialismus-Vorstellung nicht nur beibehalten, sondern auf die Spitze getrieben ist, vor allem, was den moralischen Impetus anbetrifft, so besteht doch dessen spezifische Differenz darin, dass der „Grundwiderspruch“, der aufgemacht wird, keiner mehr zwischen „Klassen“ ist, sondern der zwischen dem Moloch „Imperialismus“, der in Form von Konzernen, Banken, Politikern, aber auch als mehrere „imperialistische Nationen“ auftreten kann, und den Völkern der „Dritten Welt“, deren Elend wesentlich darauf beruhen soll, dass sie vom „Imperialismus“ fremdbestimmt werden.

Bereits, wenn man ihn nur sprachkritisch unter die Lupe nimmt, transportiert der Begriff der „Fremdbestimmung“ die miefende Gemütlichkeit des Bei-sich-selberbleiben-Wollens, die Parteinahme fürs Bewährte, Angestammte und Identische, in welcher unmittelbar das rohe und barbarische Ressentiment gegen das Fremde, Unvertraute und Vermittelte impliziert ist. Den Begriff der „Fremdbestimmung“ zeichnet ferner aus, dass er an sich selbst völlig unbestimmt ist und sich deshalb allen nur denkbaren Phänomenen überstülpen lässt. Das wird von Anti-Imperialisten denn auch weidlich ausgenützt, wenn dem „Imperialismus“ nicht nur vorgeworfen wird, dass er die Völker der „Dritten Welt“ ausbeute, sondern ihnen vor allem verwehre, ihr Dasein ihren eigenen Sitten, Gebräuchen und „gewachsenen“ Kulturen gemäß zu fristen. In der Agitation gegen den „Imperialismus“ als „Fremdbestimmung“ der Völker erscheint zudem in Reinkultur jenes kulturkritische Gewäsch, in welchem über die „Kälte“ und „Entfremdung“ im Kapitalismus, die auf Rationalität und Abstraktion zurückzuführen sei, lamentiert wird. Die Figur des „edlen Wilden“, der gerade kraft unverbildet-ursprünglichen Lebenswandels fähig sei, die Verderbtheit der „westlichen Zivilisation“ schonungslos anzuprangern, zählt zum Standardrepertoire der Freunde kämpfender Völker. Kein Wunder, dass unzählige anti-imperialistische Pamphlete in harmloseren Fällen sich ausnehmen wie Reprints des „Papalagi“, in schlimmeren Fällen wie Remakes nationalsozialistischer oder neurechter Pamphlete. [...]

Als falsche Analyse ist das Gefasel von der „Fremdbestimmung“ unmittelbar zugleich die adäquate Ideologie der „wahren“ nationalen Selbstbestimmung. In dem Maße, worin die Nation – Vermittlungsinstanz des Weltmarkts – als Bastion gegen den Weltmarkt und damit als rein auf sich gegründete Einheit des schaffenden Volkes gesetzt werden soll, muss der Befreiungsnationalismus seine stets vorhandenen substantialistischen – kulturalistischen oder völkischen – Züge offen hervorkehren. Nationale Unabhängigkeit wird dann als Wiederaneignung einer vom „Imperialismus“ bzw. seinen durch „westliche Werte“ verdorbenen Statthaltern unterdrückten und verschütteten „nationalen Würde“ ausgegeben. In praxi bedeutet das die bedingungslose Unterwerfung der Einzelnen unters Diktat der Staatsräson und die Todesdrohung gegen jeden, der dagegen aufbegehrt. „Patria libre o morir!“ – in dieser unüberbietbar mörderischen Formel ist griffig zusammengefasst, wofür nationale Befreiung steht. [...]

Die Konsequenzen der linken Parteinahme für „nationale Befreiungsbewegungen“ liegen heute klar auf der Hand. Im Kampf der von den Linken mitgeprägten „neuen sozialen Bewegungen’ gegen das „Sterben“ des deutschen Waldes und die Raketen der amerikanischen „Besatzer“, der mit der Wiederentdeckung von Brauchtum, Mundart und dem angeblich vierschrötig-eigensinnigen Widerständlertum der „ganz normalen Leute“ einherging, wurden die im Anti-Imperialismus erprobten völkischen Denkformen nun auch im Kampf an der Heimatfront hoffähig gemacht. [...]

* Übersetzung der Auszüge: Lizas Welt

19.9.06

Sicherheitsrisiko Atheismus?

Anfang Februar dieses Jahres zitierte der Stern den Text eines Fotos, das einen Teilnehmer an einer Demonstration militanter Islamisten in London zeigte. Der Mann hielt eine Papptafel, auf der stand: „Behead those who say Islam is violent“ („Köpft die, die sagen, der Islam sei gewalttätig“). Das Bild war eine Fälschung – aber nicht nur eine gut gemachte, sondern außerdem eine ziemlich hellsichtige: „Jeder, der den Islam als eine intolerante Religion beschreibt, fördert die Gewalt“, kommentierte beispielsweise eine Sprecherin des pakistanischen Außenministeriums die Rede des Papstes in Regensburg, paraphrasierte also gewissermaßen das, was ein Photoshop-Künstler anlässlich des so genannten Karikaturenstreits noch als Fake in Umlauf gebracht hatte. „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten“, hatte Benedikt XVI. den byzantinischen Kaiser Manuel II. zitiert; Grund genug offenbar für eine Vielzahl an Prophetenverehrern weltweit, erneut zu marodieren und zu brandschatzen, obwohl der Papst es doch nur gut mit ihnen gemeint hatte und sie bloß darauf hinweisen wollte, dass der „Dialog der Kulturen“ zwingend eine religiöse Basis erfordere, jedoch ohne Gewalt vonstatten zu gehen habe. Stattdessen sah er sich zu einer Klarstellung veranlasst, die jedoch Verwüstungen und hasserfüllte Tiraden bis hin zu Morddrohungen nicht bremsen konnte. Undank ist eben der Welt Lohn.

Dabei waren Benedikts Vorleistungen nicht unbeträchtlich. Bereits die Veröffentlichung der Mohammed-Cartoons hatte er als „Verletzung religiöser Gefühle“ kritisiert, trotz seiner Verurteilung der Gewaltexzesse also de facto Verständnis für die Randale in der islamischen Welt geäußert. Und auch danach war der Papst vor allem als jemand aufgefallen, der auf interreligiöse Gespräche steht und darin sozusagen den Schlüssel zum Weltfrieden sieht – ein Ansatz, der auch seine Regensburger Rede kennzeichnete. Denn in ihr ritt er neuerlich eine Attacke gegen die „positivistische Vernunft“ und „die ihr zugehörigen Formen der Philosophie“: „Von den tief religiösen Kulturen der Welt wird gerade dieser Ausschluss des Göttlichen aus der Universalität der Vernunft als Verstoß gegen ihre innersten Überzeugungen angesehen. Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich der Subkulturen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen.“ Christian Geyer kommentierte diese Sätze in der FAZ trocken: „Hatte die Verteidigung des Glaubens ehemals aufwendige ontologische Tüfteleien erfordert (Seinsmetaphysik, Naturrecht), so kann sich die moderne Apologie darauf verlegen, Atheismus als Sicherheitsrisiko zu beschreiben. [...] Nach dem Motto: Eine Kultur, die nicht glaubt, darf sich nicht wundern, wenn sie zur Zielscheibe der islamistischen Aggression wird. So hat es der Papst natürlich nicht gesagt. Aber so ähnlich.“

Mehr Gottesfurcht, mehr Frömmigkeit, mehr Spiritualität – so lautet sein Rat an seine Schäfchen und solche, die es (wieder) werden sollen. Denn „wenn ein atheistisches Konzept des Denkens als ‚Verstoß gegen innerste Überzeugungen’ anderer erscheint, dann ist dieses Konzept per se unzureichend, revisionsbedürftig, versteht man den Papst“, brachte es Christian Geyer auf den Punkt. Und damit setzt Benedikt „die Erwartungen der ‚tief religiösen Kulturen der Welt’ an den Westen ins Recht“ – also auch den militanten Islam, dessen „Erfahrungen und Überzeugungen [...] für den Papst insofern ernst zu nehmen [sind], als sie für den Westen einen Imperativ darstellen, die eigene Rationalität nicht länger als Ausschlussformel für Religiosität zu sehen“. Dementsprechend forderte Benedikt in Regensburg eine „Ausweitung unseres Vernunftbegriffs“ auf den Glauben; ansonsten werde der Mensch „verkürzt“: „Das Subjekt entscheidet mit seinen Erfahrungen, was ihm religiös tragbar erscheint, und das subjektive ‚Gewissen’ wird zur letztlich einzigen ethischen Instanz. So aber verlieren Ethos und Religion ihre gemeinschaftsbildende Kraft und verfallen der Beliebigkeit.“ Doris Ladstaetter fasste diesen Gedankengang in der Neuen Zürcher Zeitung so zusammen: „Der Papst will die westliche Welt wieder hinter das Kreuz Christi scharen, sie zurückholen von den Sekten und dem Konsumwahn. Die Religion soll keine Subkultur sein, kein Zusatz im Leben der Menschen wie ein Hobby.“

Denn das sei gefährlich, folgt man dem Oberhaupt der katholischen Kirche: „Wir sehen es an den uns bedrohenden Pathologien der Religion und der Vernunft (!), die notwendig (!) ausbrechen müssen (!), wo die Vernunft so verengt wird, dass ihr die Fragen der Religion und des Ethos nicht mehr zugehören. Was an ethischen Versuchen von den Regeln der Evolution oder von Psychologie und Soziologie her bleibt, reicht ganz einfach nicht aus.“ Als Plädoyer gegen Aufklärung und Moderne wollte er das jedoch angeblich nicht verstanden wissen: „Das Große der modernen Geistesentwicklung wird ungeschmälert anerkannt: Wir alle sind dankbar für die großen Möglichkeiten, die sie dem Menschen erschlossen hat und für die Fortschritte an Menschlichkeit, die uns geschenkt wurden.“ Nur müsse man der „Bedrohungen, die aus diesen Möglichkeiten aufsteigen“ – als da wären, ohne dass sie diesmal verbalisiert wurden: technischer Fortschritt, Individualismus, Homosexualität, nichtehelicher Geschlechtsverkehr, Frauenrechte, Krieg und allerlei anderer kapitalistischer Schnickschnack –, „Herr werden“. Zudem gebe es gar keinen prinzipiellen Widerspruch zwischen Glaube und einer christianisierten Vernunft, denn: „Das Ethos der Wissenschaftlichkeit ist im Übrigen Wille zum Gehorsam gegenüber der Wahrheit und insofern Ausdruck einer Grundhaltung, die zu den Grundentscheiden des Christlichen gehört.“ Womit der ganz private Glaube (!) an die Existenz eines Gottes mal eben auf einer Stufe mit den Erkenntnissen der Natur- und Geisteswissenschaften landet.

Die Rede des Papstes war zweifellos eine taktische Meisterleistung. Denn wie die Reaktionen auf sie in der islamischen Welt ausfallen würden, war abzusehen, und Benedikt dürfte sie bewusst einkalkuliert oder doch zumindest in Kauf genommen haben. Daran ist zunächst einmal nichts Falsches: „So wie es das Christentum in der freien Welt hinzunehmen hat, wenn man versuchen sollte, es auf seine Kreuzfahrerzeit zu reduzieren, so muss es der Islam hinnehmen, wenn ihm die Frage: ‚Wie hältst du’s mit der Gewalt?’ auch einmal in einer journalistisch zugespitzten Form gestellt wird“, befand Christian Geyer in einem weiteren Beitrag für die FAZ zu Recht und stellte klar: „Der Westen muss auch in diesem neuerlichen Fall darauf beharren, dass wir in jedem Fall auf dem Recht bestehen, zu sagen, zu lesen, zu hören und zu sehen, was wir wollen. Wo dies der Verfassung des Gemeinwesens widerspricht, sind die Gerichte zuständig. Alles andere, der rechtspolitische Verweis auf verletzte religiöse Gefühle, führt in eine Rhetorik der Unfreiheit, der Inhumanität.“ Hier liegt jedoch einer der Knackpunkte: „Jetzt rächt sich, dass man auch im Westen hier und da versucht, den Karikaturenstreit zum Anlass zu nehmen, um religiöse Gefühle unter so etwas wie Artenschutz zu stellen, an dem das Recht auf freie Meinungsäußerung seine Grenze finden soll. Man kann angesichts des aktuellen Eklats nur wieder sagen: Umgekehrt wird ein Schuh daraus.“ Eine nur allzu berechtigte Kritik zum einen an diversen Politikern unterschiedlichster Lager, die Anfang des Jahres die Gelegenheit gekommen sahen, die Verschärfung des § 166 des Strafgesetzbuches zu fordern statt seiner Abschaffung, zum anderen an den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten, die pointierte Kritiker des Islam mit Verfahren überzogen und – wie etwa im Fall der „Koranrolle“ – mit harten Urteilen bedachten, und schließlich am Papst selbst.

Um nicht missverstanden zu werden: Die „Pathologien der Religion“, von denen dieser sprach, zeigen sich am Beispiel des Islam – an den er zuvörderst gedacht hatte, mehr jedenfalls als an vergleichsweise unbedeutende Sekten – besonders deutlich: sei es in den suicide attacks, sei es in New York, Madrid und London, sei es im Iran, sei es angesichts der Ausschreitungen im Zuge der Prophetenzeichnungen – und sei es eben eingedenk der Reaktionen auf die Ansprache Benedikts. Der scheint dadurch also im Recht zu sein und kann auf Zustimmung zählen, wenn er sein Gegengift benennt: eine (Rück-) Besinnung auf Religiosität und eine „göttliche Vernunft“, die allein imstande seien, bei den „tief religiösen Kulturen der Welt“ Respekt und Verständnis zu wecken, weil man derlei Werte mit diesen teile. Demgegenüber erscheinen Atheismus, Agnostizismus und „positivistische Vernunft“ als gemeinsamer Feind, eben als „Verstoß gegen die innersten Überzeugungen“ gläubiger Menschen – und darüber hinaus als mordsgefährlicher, menschheitsbedrohender Unsinn.

Der Appell verfing umgehend. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber etwa fand, Benedikt verbinde „persönliche Nähe und starke Emotion mit grundlegenden Aussagen und Wahrheiten für alle (!) Menschen. Ich glaube, er weiß gerade für viele Menschen in Deutschland und der westlichen Welt wieder eine Nähe zu Gott in ihrem Leben herzustellen.“ Und auch Matthias Matussek hatte nach dem Ende der Fußball-WM endlich mal wieder Anlass, so richtig den Rottweiler von der Leine zu lassen: „Schauen wir uns diejenigen an, die sich bei uns als Gläubige bezeichnen, und schauen wir mit den Augen eines gläubigen Moslems, für den Religion auch immer Ausübung bestimmter Vorschriften bedeutet“, hatte der Spiegel-Kulturchef den Papst ganz richtig verstanden: „Wie sieht es bei unseren Katholiken aus, mit Kirchgang, Gebeten, Kommunion, Beichte? Könnte es sein, dass sie vom Islam lernen können?“ Sie können, findet Matussek, und darauf ist er richtig neidisch. Denn wo man auch hinsieht: Lotterleben, materielle Verführungen, und keiner hält sich mehr an die zehn Gebote im „Land des Relativismus“. Also: „Was soll denn das für eine Religion sein, würde sich unser Moslem fragen und mit wachsendem Erstaunen zuhören. Was nehmen die denn überhaupt Ernst, wenn sie noch nicht mal das Heiligste Ernst nehmen?“ Konsequenz: „Unser Moslem jedenfalls würde kopfschüttelnd weiterziehen und den Papst verstehen, der von seinen Landsleuten einen Ruck gefordert hat.“

Das ist natürlich barer Unsinn. Denn es bleibt, wie gesehen, nicht beim Kopfschütteln – und daran würde sich auch dann nichts ändern, wenn sich Christen wieder mehr auf die „Ausübung bestimmter Vorschriften“ besännen, wie Matussek sich ausdrückte, oder wenn „wir die selbstverfügte Beschränkung der Vernunft auf das im Experiment Falsifizierbare überwinden und der Vernunft ihre ganze Weite wieder eröffnen“, wie Benedikt seinen Rückruf zum Götzendienst theologisch umschrieb. Ungläubig bleibt ungläubig – zumindest für die, die ihren Propheten wörtlich nehmen und seine Lehren „mit dem Schwert“ verbreiten wollen. Gut möglich, dass auch der Papst genau weiß, wie wenig sich die Anhänger der Religion des Friedens darum scheren, ob ihre Feinde nun ihr Leben nach den Regularien ihrer eigenen Kirche ausrichten oder nicht. Falsch verstanden – wie die üblichen Verdächtigen von Hans Küng bis Hans-Christian Ströbele meinten – hat der Papst den Islam in Bezug auf sein Gewaltpotenzial jedenfalls nicht. Das wiederum lässt jedoch eigentlich nur einen Schluss zu: Benedikt hat in seiner Regensburger Rede die reale islamistische Gefahr vor allem als taktischen Kniff, als Aufhänger benutzt, um seine Gläubigen in den Schoß der Kirche zurückzuholen – das war sein eigentliches Anliegen.

Derlei mag einem Papst ein legitimes Ansinnen sein; schließlich kann man von ihm schlecht verlangen, dass er seinen Verein auflöst und ein Plädoyer dafür hält, der Irrationalität und dem Wahnsinn mit den areligiösen Mitteln der Aufklärung und des Universalismus beizukommen. Aber man kann sein Anliegen zurückweisen und sich ihm verweigern. Denn es ist nicht einzusehen, wenn Benedikt neben den „Pathologien der Religion“ unversehens auch solche „der Vernunft“ erblickt, die angeblich „notwendig ausbrechen müssen“, wenn man diese Vernunft nicht schleunigst um den Faktor „Gott“ erweitert – sie also zurücknimmt. Mag schon sein, dass die „tief religiösen Kulturen der Welt“ Atheismus und Agnostizismus als „Verstoß gegen ihre innersten Überzeugungen angesehen“. Das ist aber noch lange kein Grund, Religion nicht dorthin zu verweisen, wo ihr Platz in einer wirklich säkularen Gesellschaft ist: „in den Bereich der Subkulturen“. Anders gesagt: Religion hat Privatsache zu sein, denn erst diese Voraussetzung hat es, wie Alan Posener in der Welt feststellte, ermöglicht, „dass in Europa, einst von blutigen Religionskriegen heimgesucht, die alles in den Schatten stellen, was Muslime einander und uns antun, heute zivilisiert über Vernunft und Glaube diskutiert werden kann“. Dahinter sollte, nein: dahinter darf es kein Zurück geben.

Man muss nicht unbedingt so weit gehen, die Rede des Papstes dahin gehend zu kommentieren, hier solle offenbar der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben werden. Denn eine Religionskritik, die ihre Aufgabe recht versteht, macht nicht alle Glaubensrichtungen und -gemeinschaften einfach gleich. Der Verweis etwa auf die höchst gewalttätigen Kreuzzüge des Christentums führt schon deshalb nicht weiter, weil es nicht Christen sind, die sich derzeit Sprengstoffgürtel umschnallen, Raketen auf Israel schießen, davon träumen, mit der Atombombe den jüdischen Staat zu vernichten, und alles in Schutt und Asche legen, wenn man ihr Allerheiligstes kritisiert oder karikiert, sondern Anhänger des Islam. Insofern muss der Papst verteidigt werden sowohl gegen den islamistischen Furor als auch gegen seine europäischen Kritiker und Appeasement-Fans von Küng bis Ströbele. Aber nicht jeder, der „Schlechtes und Inhumanes“ am und im Islam findet, hat deshalb automatisch geeignete Gegenrezepte zu bieten. Und die des Papstes taugen nicht, um „im Stande der Unfreiheit das Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“, wie Adorno den kategorischen Imperativ reformulierte. Neu ist das nicht: Bereits im Mai hatte Benedikt ausgerechnet bei einem Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz den Nationalsozialismus auf eine gottlose „Schar von Verbrechern mit lügnerischen Versprechungen“ heruntergebrochen, der die Deutschen schuldlos erlegen seien, so, „als sei das Versprechen, Deutschland judenrein zu machen und zur Weltmacht zu führen, nur abzulehnen, weil es am Ende anders kam“ (Alan Posener), und so, als habe es nicht einen Zusammenhang zwischen Vernichtung und Volkswohlstand gegeben, von dem dann doch erheblich mehr profitierten als bloß ein paar Nazi-Größen.

Die Therapie gegen den Wahn einer zur politischen Ideologie geronnenen Religion besteht gerade nicht darin, Verständnis für deren Abneigung nicht bloß vermeintlicher oder tatsächlicher Auswüchse des Kapitalismus, sondern universeller – also nicht bloß „westlicher“ – Werte als solcher zu zeigen und daraus die Konsequenzen zu ziehen, dass es erstens einer verstärkten Gottesfurcht in den westlichen Gesellschaften und zweitens des Zusammenschlusses der Religionen unter dem Banner des „Dialogs der Kulturen“ gegen einen die Welt angeblich bedrohenden Säkularismus bedarf. Notwendig wären vielmehr eine noch stärkere Trennung zwischen Kirche und Staat, eine vehemente Stärkung der Aufklärung gegen den Irrationalismus und ein noch weitergehendes Zurückdrängen der Religion in den privaten Bereich sowie ein unmissverständliches Plädoyer für das grundsätzliche Recht auf Blasphemie und für den Universalismus einer allen religiösen Versuchungen entsagenden Vernunft. Alles andere ist günstigstenfalls eine Verschlimmbesserung. Agnostiker und Atheisten haben es schon schwer genug.

Hattip: barbarashm

17.9.06

Publikumsmagneten

„Wie kommt es, dass einerseits der Antisemitismus jegliche Scham verliert, während andererseits ein Jüdisches Museum in einer europäischen Hauptstadt“ – gemeint ist Berlin – „zum Publikumsmagneten wird?“, fragte Hannes Stein in einem Beitrag für Die Welt und vermutete: „Vielleicht deshalb, weil die Dauerausstellung im Jüdischen Museum ziemlich brav ist, weil kontroverse Themen eher ausgespart werden“ – weil also niemandem weh getan wird und die Konzeption des Ganzen daher „wie dafür gemacht ist, mit dem neuen europäischen Antisemitismus friedlich zu koexistieren“. Da passt es ins Bild, dass einer der Höhepunkte der Feierlichkeiten zum fünften Geburtstag des Museums am vergangenen Mittwoch nicht nur in der Vorführung des auf allerlei Fantastereien und Halbwahrheiten basierenden Films Aimée und Jaguar bestand, sondern darüber hinaus auch noch der Nachlass der „Aimée“ Lilly Wust vorgestellt wurde. Wust wird zwar in Yad Vashem als eine der Gerechten unter den Völkern geführt; gleichwohl war sie eine Nationalsozialistin, an deren positivem Wirken erhebliche Zweifel bestehen müssen, um es vorsichtig zu formulieren. Durch die Performance in Berlin, die sämtliche kritischen Recherchen schlicht ignorierte, wurde das Erbe der Jüdin Felice Schragenheim („Jaguar“) neuerlich der deutschen Erfolgsstory nach Auschwitz überantwortet.

Bereits im April 2004 veröffentlichte der Politikwissenschaftler Clemens Heni bei haGalil einen Beitrag zu Aimée und Jaguar, der sich sowohl mit dem zuerst erschienenen Buch als auch mit dessen filmischer Umsetzung beschäftigte und zu dem Schluss kam, dass in beiden die Geschichte zu einem deutschen Rührstück gerinnt, das den elementaren Unterschied zwischen Tätern und Opfern gezielt verwischt und sich dabei allerlei Verdrehungen, Auslassungen und Beschönigungen bedient. Aus gegebenem Anlass sei Henis Analyse in einer vom Autor für Lizas Welt überarbeiteten und aktualisierten Fassung dokumentiert.


Clemens Heni

Ein Schlag ins Gesicht der Überlebenden


Eine retrospektive Kritik an Aimée und Jaguar

Die deutsche Selbstversöhnungsrhetorik erreichte mit dem Film Aimée und Jaguar von Max Färberböck, der auf seine Weise das Textmaterial des gleichnamigen Buches von Erica Fischer umsetzte, im Jahre 1999 einen weiteren Höhepunkt. Das wurde insbesondere von der Schriftstellerin Esther Dischereit (Foto) bereits damals deutlich festgehalten:
„Die feministischen Reflexionen über nazideutsche Täterinnen waren immer recht spärlich und spät gefallen. Und Aimée wirkt entlastend, so wurde letztlich nicht die Geschichte der Felice Schragenheim geschrieben, sondern die von Lilly Wust. Die Stilisierung zur Love-Story, wie die Geschichte im Titel eines Dokumentarfilms über Jaguar und Aimée genannt wurde, und zu einem – wenn möglich – neuen deutschen Kultfilm entspräche dem fortschreitenden Wir-Gefühl. Da haben die Täterinnen schon fast so viel gelitten wie die Opfer, und die Nicht-Opfer sind den Opfern emphatisch jedenfalls beinahe gleich. Alle handelnden Personen im Film haben verdeckte Namen, nur Jaguar nicht. Sie heißt Felice. Sie kann keinen Einspruch erheben. Es fehlt nicht mehr viel, bis Auschwitz als das kollektive Massada der Deutschen in eine geläuterte nationale Selbstdefinition eingeht. Opfer sind alle und Erinnerung gemeinsam: die Toten aber könnten beiseite bleiben. Die stören. Überlebende manchmal noch mehr. Ehre, Würde, Vermögen, Leben der Opfer waren schon gestohlen, bleibt noch deren Geschichte.“
Dischereit hat gründlich recherchiert, Akten studiert, die Stationen des Überlebens der Jüdin Felice Schragenheim in Berlin zwischen 1941 und 1944, ihr Fliehen von der Prager Straße 29 zur Claudiusstraße, vom Nollendorfplatz nach Friedenau etc. erkundet sowie den Konnex von Deportation, Untertauchen und einer letzten Möglichkeit – der Beziehung zu einer ganz normalen, deutschen Frau, die Schutz bieten könnte – dargestellt. Liebe als Rettungsanker, wie Dischereit aufzeigt:
„Im Vorwort [von Erica Fischer] heißt es, dass die Überlebenden keinen Frieden mit Lilly Wust schließen können und wollen. Nein, können sie auch nicht, wenn da Schuld wäre, gäbe es keinen Grund, ‚Aimée’, Lilly Wust, zu einer Retterin zu stilisieren. Die Buchautorin Erica Fischer äußerte unlängst, ihr scheine es im Film immerhin gelungen, ‚mit dem Thema nicht voller Schuld, Selbstbezichtigung und Schwere umzugehen’. Nun ja, es gibt wohl Themen, da gibt es Schuld und Schwere, und auf Selbstbezichtigung warten die Staatsanwaltschaften noch immer.“
Dabei ist es gewiss kein Zufall, dass das Material einer arischen Deutschen wie Lilly Wust nicht den Behörden, sondern einem Regisseur vorgelegt wurde. Schlimmer noch: Der Film ist ein Schlag ins Gesicht der Überlebenden. Er basiert auf den Fantasmen der Lilly Wust, die von Erica Fischer lanciert wurden und in Deutschland, dem Land der großen Wiedergutmachung mit sich selbst, bestens ankommen. Denn das Publikum ist eine Volksgemeinschaft der besonderen Art: Künstler, Kulturtheoretikerinnen und Kulturtheoretiker, Feministinnen, Berlinale-Fans und programmatische Lesben kommen gleichermaßen auf ihre identitären Kosten. Am Ende des Streifens wird Felice Schragenheim (Foto) ermordet; die Vorgeschichte wird dabei jedoch vollkommen entstellt. Dass Felice beispielsweise ihrer Geliebten Lilly noch auf dem Sammelplatz der Gestapo einen Erbschein unterschrieb, den letzere – vormals stramme Nationalsozialistin – nach dem Krieg bei der überlebenden Schwester sowie Freundinnen und Freunden von Felice einlösen wollte, kommt gar nicht erst vor. Esther Dischereit stellt klar:
„Am 28.7.44 erhält Lilly Wust eine Schenkungsurkunde von Felice Schragenheim; am 21.8.1944 wird Felice Schragenheim deportiert. Also drei Wochen später. In den Krimis kommt an dieser Stelle immer eine Lebensversicherung vor, anschließend der Tote. Das hätte uns stutzig gemacht.“
Dischereit berichtet darüber hinaus von vielen Geschenken, die Felice Lilly machte bzw. machen musste: „Frauenkleider aus Foulardseide und feinem Leinen, Abendkleid aus Taft...“ Und selbst Lillys Besuch im Konzentrationslager Theresienstadt – von dem der Deutschen mit Mutterkreuz und der Manie, ihre jüdische Geliebte bevorzugt vor ihren SS-Freunden auf Partys zu präsentieren, alle im Untergrund lebenden Juden und Jüdinnen abgeraten hatten – wird in dem Film nicht in seiner für Felice eine Todesgefahr heraufbeschwörenden Dimension dargestellt. Doch weder das noch die Tatsache, dass Lilly Wust eine waschechte Nationalsozialistin war, hat die Szene, insbesondere die Frauen-Lesben-Szene, nachhaltig irritieren können – offenbar aber auch nicht die Leiterin des Jüdischen Museums Berlin, Cilly Kugelmann.

Elenai Predski-Kramer jedoch, jüdische Überlebende und Freundin von Schragenheim, stellt die Fragen, die sich aufdrängen. Sie ist enttäuscht und traurig ob der Geschichtsfantasmen von Wust, die Erica Fischer als Wahrheit niederschrieb und verkaufte. Wer sich kritisch mit Aimée und Jaguar beschäftigen möchte, dem sei daher neben dem bereits zitierten Beitrag von Esther Dischereit der auf einem Gespräch mit Predski-Kramer basierende und im Gegensatz zu Erica Fischer deren Stimme sehr ernst nehmende Artikel von Katharina Sperber empfohlen, „Eine andere Version: Schmerzhafte Erinnerungen einer Überlebenden“. In ihm heißt es zu Beginn:
„Wie vor den Kopf geschlagen fühlte sich Elenai Predski-Kramer, als sie vor acht Jahren die Auslage einer Buchhandlung betrachtete. Zwischen all den Titeln, die da ausgestellt waren, entdeckte sie einen Buchdeckel mit einem großen Schwarz-Weiß-Foto. Darauf zwei Frauen im Badeanzug am Havelstrand. Beide Frauen kannte sie. Die eine ist die Jüdin Felice Schragenheim, die andere Lilly Wust, eine mit dem Mutterkreuz dekorierte Nazi-Mitläuferin.“
Fischers Geschichten interessierten seinerzeit sofort mehrere Verleger; das Buch erfuhr zahlreiche Auflagen – weltweit, wie sie stets betont – und wurde in dreizehn Sprachen übersetzt. Selbst die unwissendsten, sich aber irgendwie zum Thema „Juden“ hingezogen fühlenden Menschen haben nicht selten zumindest ein Buch in ihrem kleinen Bücherregal: Erica Fischers Aimée und Jaguar eben – eine allzu deutsche Story, die nicht aneckt und daher gefällt.

Ihr Plot hat den Fokus auf die arische Lilly gerichtet; das ist die Basis sowohl für den Film als auch für das Buch. In ersterem wird das bereits zu Beginn deutlich, in der Szene mit dem „lesbischen Blick“ nämlich, die die Perspektive Wusts einnimmt – eine Sicht, die den ganzen Film bestimmt und somit keine Brüche, Zweifel oder gar die Frage nach Schuld aufkommen lässt. Denn es geht nicht um Kritik, es geht um Identität. Gleichwohl ist es falsch, die Vereinnahmung von Felice für derlei Identitätspolitiken – durch lesbische Frauen einerseits und durch Jüdinnen andererseits – in einem Dritten, einem vermeintlichen Ort der Nicht-Identität, aufgehen zu lassen, wie es im 2001 veröffentlichten Beitrag „Of Death, Kitsch, and Melancholia – Aimée und Jaguar: ‚Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943’ or ‚Eine Liebe größer als der Tod’?“ von Anna M. Parkinson geschieht*. Parkinson argumentiert dabei in Anlehnung an Judith Butlers Konzept von gendered Melancholie. Demnach habe Lilly nach der Deportation und Ermordung von Felice sich selbst „zur Jüdin gemacht“ und das verlorene Objekt der Begierde verinnerlicht – eine melancholische Introversion also, die Parkinson mit Freud untermauert wissen möchte. Dass Lilly Wust aufgrund einer möglichen Verantwortung für die Deportation von Felice selbst Anteil an deren Ermordung haben könnte, zieht Parkinson in ihrem beredten Abstrahieren von diesen realen Fragen und Fakten jedoch nicht in Betracht. Doch wie kam die Gestapo an eines der wenigen Fotos von Felice, die außer Lilly nur andere Jüdinnen in Besitz hatten? Und weshalb ließ Lilly sich einen Erbschein unterschreiben? Warum, schließlich, hat sie ihre Freundin – so dies denn stimmt – in Theresienstadt besucht, obwohl alle Jüdinnen ihr abgeraten hatten von diesem narzisstisch motivierten Besuch, der – in einem Konzentrationslager! – nur die Liebe bestätigt sehen wissen wollte?

Wären das nicht alles Gründe für eine radikale Infragestellung der Erinnerungen einer Lilly Wust? Es sind jedenfalls die Fragen der jüdischen Freundin von Felice, die Fragen Elenai Predski-Kramers. Parkinsons Analyse ist demgegenüber geradezu grotesk: Ohne die Frage nach all diesen Schuldanteilen auch nur zu stellen, zimmert sie sich eine kultur- und gender studies-theoretische Analyse zusammen, die im typischen Stil der Sozial- und Kulturwissenschaft Täter und Opfer in einem sehen möchte – alles sei im Fluss, lautet die Botschaft. Dass eine solche Analyse eine Derealisierung der Wirklichkeit darstellt, ist jedoch offensichtlich. Denn wenn sich beispielsweise die arische Deutsche Wust beim Einmarsch der Roten Armee in Berlin Anfang 1945 den gelben Stern gleichsam stolz ans Revers heftet, ist das gerade nicht „ironically“, weil Felice ihn nie trug. Parkinson lässt letztlich die Geschichten von Wust und Fischer unbeanstandet und zeigt eine die Empathie gleichsam eskamotierende Ferne zu der realen Überlebenden Elenai Predski-Kramer. Man könnte also von einer kulturtheoretischen Derealisierung sprechen.

Im Rekurs auf Freud kann Parkinson zwar interessante Elemente von Melancholie, Identitätsverweigerung und -wandel auftun, nicht aber die konkrete Historie erhellen. Denn die Leidensgeschichte der Jüdin Felice wird nicht aus ihrer Sicht oder aus der ihrer noch lebenden Freundin Elenai Predski-Kramer erzählt und festgehalten, sondern aus der die jüdische Perspektive derealisierenden Perspektive einer arischen Deutschen. Zudem: Wie kommt es zu dem unglaublichen Spitznamen „Jaguar“? Gerade die existenziell bedrohte, vom Verhalten ihrer deutschen Umwelt abhängige Jüdin wird dadurch zur Jägerin gemacht, die sich eine deutsche Geliebte sucht. Würde die Geschichte aus Felices Sicht erzählt, wäre es nie zu so einem grotesken und infamen Namen gekommen. Doch gerade mit ihm reüssieren Buch und Film. Es wird kokett mit der – nach Parkinsons bloß „ironischen“ – Verkehrung von Opfer und Täterin, Jägerin und Geliebter hantiert. Doch es ist natürlich keine Ironie, sondern der deutsche Fokus, der hier dominiert.

Die Abstraktion von der deutschen Volksgemeinschaft – auch nach 1945 – durch das Fokussieren der lesbischen Liebe lässt das von Dischereit so treffend bezeichnete „Massada der Deutschen“ traurige Wirklichkeit werden. Zu suggerieren, weder die eine noch die andere „Seite“ habe Recht, wie Parkinson es tut, mag zwar der Diskursanalyse, den gender studies mithin, schmeicheln, schlägt sich jedoch wenigstens subkutan auf die Seite der Siegerin, der egomanischen Nazisse Lilly Wust. Es geht um deren Identität – eine deutsche Identität mit Feder und Kamera im Gefolge. Noch einmal Esther Dischereit:
„Das Leben der in Auschwitz getöteten Jüdin Felice Schragenheim scheint durch die Akteurin ‚Aimée’, real Lilly Wust, hindurch und über diese vermittelt. ‚Jaguar’ – im Kosenamen eine grotesk absurde Verkehrung darüber, wer hier Jäger und wer hier Gejagte ist. Das ist eine Übernahme aus dem gleichnamigen Buch, in dem die Geschichte bereits so angelegt ist, dass wir letztlich erfahren, wie sehr die Nicht-Jüdin, Kosename ‚Aimée’, leidet. Durch den Filter ihrer Person erfahren wir von der Verfolgungsgeschichte der Jüdin, die die Deutsche ‚Aimée’ wie in einem Mysterienspiel auf sich nimmt und posthum zu ihrem Leiden macht. In Talk-Sendungen in Deutschland verstieg sich die authentische, nun schon betagte ‚Aimée’, Lilly Wust, zu der Bemerkung, die Tote erscheine ihr gegen Abend. Statt Hitler-Bild ist nun ein siebenarmiger Leuchter in Betrieb. Und – mit dem jüngst zur Welt gekommenen Baby der Maria Schrader sei nun wieder eine wunderbare Felice auf der Welt.“
Heute nun werden die Dokumente der Lilly Wust einem allzu deutschen Publikum dargeboten; von „Arierin“ und „Tränen“ ist viel die Rede. Ganz normale Deutsche, die auf dem Rücken ihrer jüdischen Opfer oder „Freundin“ ihre pekuniären, emotionalen und politischen Geschäfte mach(t)en, wollen das letzte Wort behalten, Geschichte bestimmen und umschreiben. Für immer. Auch mit „jüdischen Kronzeugen“ des Jüdischen Museums Berlin.

* In: Helmut Schmitz (Hrsg.): German Culture and the Uncomfortable Past, Aldershot u.a. (Ashgate), Seite 143–163

Das untere Foto zeigt Lilly Wust (Mitte) mit den beiden Darstellerinnen der Felice (Maria Schrader, links) und der Lilly (Juliane Köhler)